Der Runde Tisch „Kinderverschickungen NRW“ wurde 2023 vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales (MAGS) ins Leben gerufen. Hier berichten wir über Neuigkeiten.
An Runden Tisch sitzen stellvertretend für die Verschickungskinder Joachim Desens und Detlef Lichtrauter vom Verein AKV-NRW e.V. und Vertreter:innen der Trägerorganisationen des Kinderkurwesens in historischer Nachfolge.
Teilnehmer:innen sind die Landschaftsverbände, die kommunalen Spitzenverbände, das Landesjugendamt, das Landesarchiv NRW, die Ärztekammer Nordrhein, der GKV-Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, die Deutsche Rentenversicherung NRW, die AWO NRW, der Paritätische NRW, das Katholisches Büro, die Caritas NRW, das Evangelische Büro NRW, die Diakonie RWL und das DRK NRWL.
Eine Videobotschaft aus der Community an den Runden Tisch
Die Arbeit am Runden Tisch kommt nur schleppend voran, berichtete Joachim Desens in Dorsten beim Begegnungstag 2024. Er habe die Verantwortlichen daran erinnert, dass die mangelnde Kontrolle seitens des Staates und der Träger die Kinderkurheime zu „rechtsfreien Räume“ gemacht hätten. Aber bislang fehlen die Voraussetzungen und Schritte, um diese Missstände aufzuklären. In der vierten von sechs angesetzten Sitzungen sei immer noch nicht darüber gesprochen worden, wie die wissenschaftliche Aufarbeitung und die psychosoziale Unterstützung der Betroffenen in Zukunft finanziert werden soll.
Hier Joachims Rede in Dorsten im Wortlaut:
Am 17. September 2024 haben Detlef Lichtrauter und ich am 4. Runden Tisch zur Aufarbeitung der Kinderverschickung im Landtag von Nordrhein-Westfalen teilgenommen. Die Vertreter des Landschaftsverbandes Rheinland und des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe haben sehr informativ über ihre Archiv-Recherchen und darauf basierend über die Organisation der Kinderverschickung referiert. Zwischen den Entsendestellen (Jugendamt, Gesundheitsamt) und den Trägern der Kinderkurheime gab es die sog. Ausgleichsstellen. Diese koordinierten die Verteilung der Kinder in die einzelnen Heime je nach Diagnose oder Empfehlung der Ärzte. Soweit einzelne Heime nicht ausgelastet oder unterbelegt waren, erfolgte auch eine Umverteilung. Ich habe anschließend an die Referenten folgende Fragen gerichtet:
Frage:
Was wissen Sie über die Ausbildung und das Selbstverständnis des Betreuungs-personals? Hatten diese eine pädagogische Ausbildung?
Antwort:
Über deren Ausbildung ist uns nichts bekannt.
Frage:
Wie erfolgte die Kontrolle der Kinderkurheime und des Betreuungspersonals?
Antwort:
Es wurden Heimbesuche gemacht. Die Kontrolle beschränkte sich jedoch auf strukturelle Fragen, wie zum Beispiel baulicher Zustand der Heime, Anzahl der Mitarbeiter. Der Umgang mit den Kindern wurde nicht kontrolliert.
Frage:
Wie wurde mit Beschwerden von Seiten der Eltern umgegangen?
Antwort:
Wir haben im Archiv einige wenige Beschwerden gefunden. Die wurden „unter den Tisch gekehrt“, um kein Aufsehen zu erregen.
Frage:
Die Empfehlungen für die Entsendung in Kinderkuren basierten nach meinem Wissen ausschließlich auf medizinischen Gesichtspunkten, wie zum Beispiel Bedarf an Höhenluft, Seeluft, Solebädern etc. Nun ist aber die Trennung von den Eltern an sich schon eine große Belastung für die Kinder, neben all den weiteren Belastungen wie Züchtigung, Essenszwang, Liegezwang und sonstigen Misshandlungen, die noch hinzukommen. Hat man bei der Entsendung auch über das Problem der Trennung nachgedacht? Sind neben den medizinischen Überlegungen auch pädagogische oder psychologische Aspekte berücksichtigt worden?
Antwort:
Über pädagogische oder psychologische Probleme hat man damals nicht nachgedacht. Die Überlegungen basierten ausschließlich auf medizinischen Gesichtspunkten. Gedanken über das Befinden der Kinder kamen erst in den 70-ger Jahren auf.
Diese Antworten sind meines Erachtens sehr aussagekräftig und bestätigen unsere bisherigen Vermutungen. Die Kinderkurheime waren – juristisch ausgedrückt – rechtsfreie Räume.
Dazu hat mir meine Schwester, die Ärztin ist, Folgendes mitgeteilt: Auch in Krankenhäusern hat sich die Denkweise im Verlaufe der Zeit geändert. In früheren Jahren waren ausschließlich medizinische Gesichtspunkte entscheidend. Erst später ist auch das Befinden des Patienten in den Blickpunkt gerückt. Prof. Dr. Sauerbruch, der dem Vernehmen nach ein guter Arzt gewesen soll, hat auf die Frage eines Patienten nach dessen Erkrankung geantwortet: „Es reicht, wenn ich das weiß.“ Diese Antwort lässt meines Erachtens tief blicken.
Bis Ende 2025 läuft die Förderung des Bürgerforschungsprojektes CSP-KV-NRW, mit dessen Hilfe der Verein AKV-NRW e.V. bisher Betroffenen ein vielfältiges und stark nachgefragtes Support-System anbieten kann. Diese Hilfe steht mittelfristig vor dem Aus, wenn nicht jetzt endlich gehandelt wird. Die Botschaft von Joachim und Detlef an den Runden Tisch ist klar: Die Betroffenen dürfen nicht wieder allein gelassen werden!