Von: G.O.
Anfang Januar 1955 bis ca. Mitte Februar wurde ich auf die Insel Langeoog verschickt. Im
Kinderheim „Haus Seeruhe“ verbrachte ich 6 Wochen und feierte dort auch meinen 6.
Geburtstag am 31. Januar. Ich habe in der Zeit viel geweint, weil ich keine Zeitvorstellung hatte
und nicht wusste, wann und ob ich wieder nach Hause komme. In meiner Erinnerung gibt es nur
noch Fragmente. Wir schliefen in Mehrbettzimmern und hatten uns nach dem Abendessen zu
waschen, zur Toilette zu gehen und in den Schlafräumen absolut ruhig zu sein. Die Kontrolle
darüber führte eine Diakonisse, die sich auf dem Treppenabsatz auf einem Stuhl platziert hatte.
Wenn jemand im Zimmer kicherte, setzte es für den Betreffenden Ohrfeigen. Meldete sich der
„Übeltäter“ nicht freiwillig, gab es für jeden eine Ohrfeige. Am Abend gab es leider oft
Milchsuppe, die nicht jeder mochte. Auch ich habe erlebt, dass sich ein Mädchen hinter den
Heizkörper erbrach, was natürlich nicht unentdeckt blieb. Sie musste den Heizkörper säubern
und die erbrochenen Reste aufessen. Die Milchsuppe brachte noch weiteres Ungemach mit sich.
Ich selbst und andere Mädchen mussten häufig erst nach dem Zubettgehen zur Toilette, was ja
streng verboten war, weil wir das Zimmer unter keinen Umständen mehr verlassen durften. Wir
öffneten dann sehr leise die Tür und guckten zum Treppenabsatz, ob die Schwester dort saß.
Manchmal hatten wir Glück und sie war für kurze Zeit nach unten gegangen. Dann schlichen wir
zu den Toiletten, die sich auf halber Höhe des Treppenhauses an einem schmalen Gang
befanden. Wir hatten dank entsprechender Ohrfeigen, die es hagelte, wenn man uns erwischte,
gelernt, dass wir die Spülung nicht betätigen durften. Das Wasser war nämlich in einem unter
der Decke angebrachten Spülkasten mit Zugkette und rauschte entsprechend laut. Wir spülten
deshalb erst morgens. Soviel Glück beim späten Toilettengang hatten wir aber nicht immer.
Wenn die Nachtschwester ihren Platz nicht zwischendurch mal verließ, konnte es vorkommen,
dass ein Kind in die Unterhose oder ins Bett machte. Die Unterhose wurde dann im Schrank
versteckt. Das Bett ließ sich leider nicht verstecken und es gab am Morgen Prügel. Aber auch die
Unterhose wurde schnell entdeckt. Ich erinnere mich, dass ein Mädchen mit der durchnässten
Unterhose geschlagen wurde. Ein Mädchen aus Minden, das schon in die Schule ging und
schreiben konnte, hat wohl versucht, solche Vorkommnisse ihren Eltern zu schreiben und Ärger
bekommen. Sie weinte, nachdem sie zur Heimleitung musste. Aus heutiger Sicht ist natürlich
klar, dass die Post kontrolliert wurde. Ein weiteres unangenehmes Detail war der Badetag am
Samstag. Wir mussten in Zweieraufstellung zu Fuß zum Badehaus gehen. Ich weiß nicht mehr,
wo das war und wie lange der Fußweg dauerte. Ich weiß aber noch, dass die Straße mit roten
Klinkern gepflastert war, die oft vereist war. Es war eben Winter und es lag Schnee. Es war
verboten, aus der Reihe zu gehen. Aber manchmal rutschte jemand aus und fiel hin. Und
manchmal fiel auch die Zweite hin, die man ja an der Hand hatte. Dann setzte es je nach Laune
der Schwester Ohrfeigen, weil man sich nicht an die Anweisung gehalten hatte, oder es wurde
dem betreffenden Kind Schnee in den Nacken gesteckt. Eine weitere Chance auf Prügel gab es im
Badehaus. Wir Kinder wurden einzeln in Kabinen mit Badewannen geschickt. Dort mussten wir
uns alleine ausziehen, baden und wieder anziehen. Das Antreten zum Abmarsch wurde durch
ein Klingelzeichen angekündigt. Es klingelte aber häufiger und ich wusste nie, welches
Klingelzeichen für mich galt. Aus Angst vor Strafe habe ich mich im Eiltempo ausgezogen, mich
abgewaschen und angezogen. Ich habe dann so lange gewartet, bis ich merkte, dass sich Kinder
aus meiner Gruppe zum Abmarsch versammelten. Zum Glück ist keiner kontrollierenden
Schwester aufgefallen, dass ich immer früh fertig war. Beides war verboten. War man zu früh
fertig, hatte man sich nicht gründlich gewaschen. Kam man zu spät, hat man gedamelt. Dunkel
erinnere ich mich auch an einen Spaziergang auf der Sandbank. Plötzlich wurden wir
aufgefordert zu rennen. Vermutlich stieg die Flut zu schnell. Diese Erinnerungen an meinen
Aufenthalt im Kinderheim auf Langeoog haben bewirkt, dass ich nie wieder auf diese Insel
wollte. Zwei Familien aus unserem Bekanntenkreis fuhren schon vor mehr als 30 Jahren
mehrmals im Jahr nach Langeoog und schwärmten davon. Die andere Familie fährt seit 10
Jahren regelmäßig mit der Familie des Sohnes nach Langeoog. Als ich mal erwähnte, dass ich aus
den geschilderten Gründen nie nach Langeoog fahren würde, sah man mich skeptisch an und
hielt die Details wohl auch für übertrieben. Vor ein paar Jahren entschloss ich mich dann doch zu
einem Besuch. Eine Busreisegesellschaft bot eine zehntägige Fahrt nach Langeoog an. Unser
Hotel hieß „Feuerschiff“ und war nur ca. 300 Meter vom Inselbahnhof entfernt. An der Rezeption
erhielten mein Mann und ich unseren Zimmerschlüssel mit dem Hinweis auf Treppenhaus und
erste Etage. Das Treppenhaus hatte ein Podest und es gingen zwei Flure in verschiedene
Richtungen ab. Plötzlich bekam ich eine Gänsehaut und begann zu zittern. Ich hatte das Gefühl,
genau dort schon einmal gewesen zu sein. Das konnte doch nicht Haus Seeruhe gewesen sein.
Die Toiletten von damals fehlten, aber der kurze schmale gang war da. Nur führte er jetzt auf
eine Terrasse im ersten Stock. Die junge Frau an der Rezeption kannte kein Kinderheim mit
diesem Namen. Sie wollte aber die Küchenchefin fragen. Diese Dame bestätigte dann am
nächsten Tag meine Frage und sagte, dass sie schon von sehr vielen Menschen darauf
angesprochen worden wäre und niemand hätte zu diesen Heimaufenthalten auch nur ein
positives Wort gesagt. Mich hatte also dieses Kindheitserlebnis auf seltsame Weise wieder
eingeholt. Nach zwei bis drei Tagen verflüchtigten sich die Bilder aus der Kindheit und ich
bekam keine Beklemmungsgefühle mehr. Haus Seeruhe war ursprünglich als Fabrikantenvilla zu
Beginn des letzten Jahrhunderts gebaut worden und dann irgendwann von der Diakonie gekauft
worden. Kleine Notiz am Rande: als die Küchenchefin mit mir draußen vor dem Küchentrakt
sprach, holte sich ein junges Ehepaar so um die 38, 40 Jahre alt, ihre Leihfahrräder. Die Frau
hatte wohl einige Details unseres Gesprächs mitbekommen. Ihr Kommentar: Man sollte solche
Dinge nicht so hoch spielen, das wäre doch eine ganz andere Zeit gewesen. Ich habe ihr das
Recht abgesprochen, darüber zu urteilen und sie gefragt, was sie denn sagen würde, wenn ihre
anwesenden beiden Kinder im Grundschulalter das erlebt hätten. Ihrem Mann war das peinlich
und er fuhr schon weg. Langeoog hat für mich den Schrecken verloren. Aber ich bin sehr dafür,
dass diese Vorkommnisse ans Licht gebracht werden.
Anonymisierungs-ID: add
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