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Oberkassel

Medikamentenmissbrauch

„Es scheint, dass Sedativa nicht unüblich waren – um die Kurkinder „handhabbar“ zu machen.“

Ab den Fünfzigern Jahren wurden Millionen Jungen und Mädchen zu mehrwöchigen Aufenthalten in Kurheime verschickt und dort, wie sich allmählich zeigt, mit Medikamenten ruhiggestellt. Sogar als „Versuchskaninchen“ für die Medizinforschung missbraucht. Katharina von Ruschkowski sprach mit der Pharmazie-Historikerin Sylvia Wagner über torkelnde Kinder, Experimente mit Contergan und den Stand der Forschung.

Dr. Sylvia Wagner
erforscht den Medikamentenmissbrauch
bei Heim- und Verschickungskindern.

Interview Oberkassel Medikamentenmissbrauch

Frau Wagner, irgendwann um 1970 wird ein kleiner Junge im Haus Bernward aufgenommen. Er ist – wie Jungs in fremder Umgebung oft sind – aufgekratzt, wild. Der Arzt ordnet laut Akte eine so wirk- wie grausame Therapie an. „Sedieren, sedieren, bis er im Stehen einschläft.“

Ja, ich erinnere mit an die Schilderung dieses Falls. Es ist erschütternd, so etwas zu erfahren. Und es war sicherlich kein Einzelfall.

Woher stammte der Anfangsverdacht?

Mitte der 2010er Jahre kam der teils massenhafte Einsatz von Arzneimitteln und sowie Arzneimittelprüfungen in deutschen Kinderheimen ans Licht. Nach den Heim- begannen bald auch die Verschickungskinder sich zu organisieren. Ihre Berichte glichen denen der Heimkinder in so vielem. Auch sie erzählten von Schlägen, Drangsal und Dauermedikation – was nicht überrascht. Die Verschickungen fanden ja zur gleichen Zeit statt, die Pflegerinnen in den Kurheimen hatten ähnliche Herausforderungen zu bewältigen. So stand schnell die Frage im Raum: Warum sollten sie zu anderen Mitteln gegriffen haben, etwa, um Kinder zu beruhigen? Was mir wichtig ist zu betonen: Die Erforschung der Kinderverschickungen ist noch ganz am Anfang. Doch es zeigen sich erste Parallelen …

Erzählen Sie davon!

Die Kurheime, die quer übers Land verteilt lagen, waren womöglich wie die Kinderheime stets überbelegt – und unterbesetzt. Also verabreichte man Beruhigungsmittel: Sie sollten, glaubte man damals, die Erziehung erleichtern und verbessern. Und sie brachten ja auch vielen Vorteile: Heimleitung, Pflegepersonal, Pharmaindustrie. Nur den Kindern nicht. Sie trugen die Nebenwirkungen davon, manchmal noch weit über den Kuraufenthalt hinaus.

Per Pille zu besseren Menschen

Das Aufkommen von Psychopharmaka Anfang der 1950er-Jahre löste unter Mediziner:innen und Pädagog:innen eine Art „Hype“ aus. Viele waren überzeugt davon, Patient:innen künftig „per Pille“ zu besseren Menschen formen und erziehen zu können. Wobei ein guter vor allem ein unauffälliger Mensch war; auch das erklärt den massenhaften Einsatz von Sedativa in Verschickungsheimen. Eine fundierte, von Fachleuten gestellte Diagnose war dabei bis in die 1970er Jahre nicht Voraussetzung für den Einsatz gar stärkster Medikamente. Und selbst wenn sie begutachtet wurden, waren Patient:innen der Willkür von Fachleuten ausgesetzt. So galt noch in den 1960er Jahren jede Form von normabweichendem Verhalten als „Schwachsinn“, die mit Medikamenten „geheilt“ werden sollte.

In der Akte über das Haus Bernward ist weiter zu lesen: „Viele Kinder kämen morgens und nach dem Mittagsschlaf kaum zu sich und torkelten umher.“ So etwas fand – Ihren Erkenntnissen folgend – also nicht nur dort, sondern vielerorts statt?

Es gibt zumindest Hinweise, die das vermuten lassen. Es gibt einen Aufsatz über „Klimakuren bei Kindern“. Anfang der 1960er bemängeln darin Mediziner eine „zu stark gedrosselte Vitalität der Heranwachsenden“ während der Aufenthalte. Man solle, heißt es dann weiter, den Einsatz von Sedativa, also Beruhigungsmitteln, besser auf besonders sensible Kinder sowie auf die ersten Tage der Kur begrenzen. In einer anderen Schrift wird der Einsatz von Beruhigungsmitteln bei heimwehgeplagten Kindern nahegelegt. Es scheint, dass Sedativa nicht unüblich waren – um die Kurkinder „handhabbar“ zu machen. Das diente den Institutionen, nicht den Kindern.

Haben Sie ein Beispiel parat?

In der Heilstätte Maria Grünewald in der Eifel etwa wurde um 1960 das berüchtigte Schlafmittel Contergan ausgegeben, bevorzugt bei heimwehleidenden Kindern. Gebe man das Mittel schon am ersten Tag, heißt es in einer Publikation, seien die Kinder bald wieder „ausgeglichener“. Sie bekamen dabei bis zu 300 Milligramm – die dreifache Tagesdosis. Die Ärzt:innen dort testeten damit wohl auch Höchstdosen aus, verglichen Wirkung und Nebenwirkungen auch mit denen anderer, ähnlicher Medikamente.

Contergan und seine Folgen

Contergan wurde 1957 als rezeptfreies Schlaf- und Beruhigungsmittel eingeführt – und lange als „Kinosaft“ bezeichnet. Er könne selbst kleinen Kindern verabreicht werden, wenn die Eltern ausgehen wollen, hieß es. Anfang der 1960er Jahre zeigte sich, dass das Medikament Fehlbildungen während einer Schwangerschaft auslösen kann. Der „Contergan-Skandal“ sorgte, wenn auch mit Verzögerung, dafür, dass Medikamentenstudien heute klaren Regeln folgen: Hersteller müssen nun die Wirksamkeit in mehrstufigen, kontrollierten Studien mit vielen Proband:innen nachweisen. Zuvor hatte es ausgereicht zu belegen, dass die Herstellung sauber verlaufen und die Prüfung an einzelnen Patienten erfolgreich war.

Das heißt: Die Kinder waren Versuchskaninchen? Und die Kurheime dienten – wie so viele Kinderheime seinerzeit (KASTEN IV) – ebenfalls als Versuchsanstalten für Medikamententests?

Einige offenbar. Vor allem in Heilstätten für tuberkulose- oder asthmaerkrankte Kinder wurden jedenfalls zeitweise entsprechende Medikamente getestet. Dazu gibt es einige Hinweise auf die Prüfung von Arzneien: nämlich fachmedizinische Aufsätze, die sich explizit auf Studien in Verschickungsheimen, vor allem Heilstätten, beziehen.

Was genau geschah dort?

In der angesprochenen Eifeler Heilstätte Maria Grünewald wurde also Contergan an tuberkulosekranken Kindern getestet. Eine veröffentlichte Studie dokumentiert Begleiterscheinungen wie Schwindel, Unruhe, Gewichtszunahme. Und kommt trotzdem zu dem Schluss, dass auch bei „eindeutiger Überdosierung“ keine erheblichen Nebenwirkungen zu befürchten seien.
In einem Kinderkurheim in der Rhön testete man in den 1950ern die optimale Dosierung eines Präparates gegen Wurmbefall an „3-14-jährigen, unterernährten, überempfindlichen, anfälligen, nervösen und tbc-gefährdeten Kindern“.
In der Heilstätte Trillkegut in Hildesheim wurde ein Tuberkulose-Medikament, das radioaktive Substanzen enthielt und in Labor- und Tierversuchen keine positiven Wirkungen gezeigt hatte, trotzdem über 200 Kindern und Jugendlichen verabreicht.
In einer Garmisch-Partenkirchener Kinderrheumaklinik untersuchte man die blut- und knochenmarkschädigende Wirkung eines Präparates an jungen Patient:innen.

Impfstudien in deutschen Heimen

Heimkinder sind in der Nachkriegszeit vielfach für Medikamentenversuche benutzt worden. Neben Psychopharmaka wurden auch Impfstoffe wie Vakzine gegen Polio an den Minderjährigen getestet. Denn Heimkinder waren „leicht verfügbare“ Proband:innen, um deren Schutz sich kaum jemand kümmerte. Zudem waren Heime mit vielen Kindern in vielen Altersstufen an einem Ort gewissermaßen das „perfekte Setting“ für Impfstudien.

Was waren das für Ärzt:innen, die ohnehin angeschlagene Kinder solchen Risiken aussetzten?

Es gibt keine pauschale Antwort: Sicher gab es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in der Medizin – wie in so vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen – eine Kontinuität von Ärzten mit nationalsozialistischer Gesinnung. Beispiel Werner Catel, ein früherer NS-Arzt, der in der Kinderheilstätte Mammolshöhe im Taunus in der Nachkriegszeit Tuberkulose-Medikamente testete. Vier Kinder starben, er wurde trotzdem nie belangt. Andere Ärzt:innen hatten womöglich wirklich Gutes im Sinn, wollten chronisch kranken Kindern mit neuen Medikamenten Linderung und Heilung ermöglichen. Oftmals ging es aber sicher schlicht um Geld und Prestige

Inwiefern?

Es gehörte zu den Gepflogenheiten, dass die Pharmafirmen die Ärzte für Publikationen zu ihren Präparaten bezahlten. Für die Ärzt:innen waren das unter Umständen nette Nebeneinkünfte und eine Veröffentlichung war gut für die Reputation.

Warum schützte nichts und niemand die Kinder? Warum gab es keinen Aufschrei der Eltern?

Richtlinien und Gesetze gab es sehr wohl: Das Grundgesetz schützt seit 1949 die Würde jedes Menschen und seine körperliche Unversehrtheit. Nach dem Strafgesetzbuch galt auch damals schon, dass ein ärztlicher Eingriff ohne Einwilligung den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllt. Und auch medizinethische Richtlinien wie der „Nürnberger Kodex“ von 1947 und die „Deklaration von Helsinki“ schreiben vor, dass Versuche am Menschen nicht ohne deren Erlaubnis gestattet sind. Doch die Eltern der Verschickungskinder hat niemand gefragt. Das Ärztinnen-Patienten-Verhältnis in jener Zeit war paternalistisch geprägt, sodass die Eltern den Ärzten ohnehin kaum widersprachen. Sicher wussten viele um das, was in den Verschickungsheimen geschah: Kinder erzählten ja oder kamen traumatisiert aus den Kuren heim. Doch man stand ihnen nicht bei, Kinder hatten oft keinen großen Rückhalt.

Im Haus Bernward flog das System Mitte der 1970er auf, als Pflegerinnen kündigten und auspackten, 1976 wurde es geschlossen – vorgeblich aus hygienischen Gründen. Was weiß die Forschung mittlerweile über dieses Haus?

Auch hier ist die Forschung noch am Anfang. Was sich schon jetzt zeigt: Es ist darum höchste Zeit hinzugucken – und die Betroffenen endlich anzuhören. 

Vom Opfer zum Kämpfer
Verarbeitung der Erlebnisse im Haus Bernward, Oberkassel.

Orte des Grauens
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