Verschickungsheime in Bonn-Oberkassel

Von Martina Schuch

Oberkassel, seit 1969 ein Stadtteil von Bonn, liegt auf der rechten Rheinseite am Rande des Siebengebirges. In Oberkassel gab es zwei Verschickungsheime: Das Kindersanatorium Haus Ebton und das Kindersanatorium Haus Bernward.

Heike Fischer-Nagel - Wie ist die Welt so stille Ausschnitt

„Wie ist die Welt so stille“  © Heike Fischer-Nagel, Hamburg

Kindersanatorium Haus Bernward

Das Kindersanatorium Haus Bernward

Im Werbeprospekt klang alles wunderbar: Durch „eine heitere, vertrauensvolle Geborgenheit“ sollten sich die Kinder erholen. Doch was sie im Kindersanatorium Haus Bernward in Oberkassel erwartete, war Drill und Einschüchterung. Die Jungen und Mädchen wurden geschlagen, erniedrigt und mit Sedativa ruhiggestellt.

 

Im Zentrum der Misshandlungen stand der Kinderfacharzt Dr. med. Otto Heinrich Müller. 1960 erhielt er vom Regierungspräsidenten Köln die Genehmigung zum Betrieb einer privaten Krankenanstalt für Kinder in Oberkassel. Zuvor hatte er dafür ein Kurheim in der Bernwardstraße 25 gepachtet. Die Eigentümerin des Sanatoriums, Dr. Egil Brinch-Toft, hatte es bereits in den 1930er Jahren gegründet. Dr. Müller blieb bis zu dessen Schließung am 15.11.1976 Pächter und leitender Arzt des Kindersanatoriums Haus Bernward.

Das Haus war ein prachtvolles Anwesen: Idyllisch gelegen direkt am Rhein, mit eigenem Parkgelände, altem Baumbestand und Ausblick auf das Siebengebirge. Dr. Müller warb mit umfassendem Fachpersonal (Arzt, Psychologe, Kinderkrankenschwestern, Kindergärtnerinnen, Kinderpflegerinnen, Masseurin u.a.) für sein Haus. Leere Versprechungen, wie sich später herausstellen sollte.

Etwa 60 Jungen und Mädchen im Alter von 4 bis 13 Jahren konnten hier für die Dauer von jeweils sechs Wochen untergebracht werden.

Das Angebot richtete sich beispielsweise an Kinder mit Untergewicht, Asthma, Herz-Kreislaufbeeinträchtigungen und „neurotischen Fehlhaltungen“. Gemeint ist: Bettnässen. Zugewiesen wurden die Kinder in der Regel vom Landschaftsverband Rheinland.

Ein Ort des Grauens

Doch die vermeintliche Idylle entpuppte sich für viele der dorthin verschickten Kinder als traumatische Erfahrung. Sie wurden von Dr. Müller und seinem Team geschlagen, erniedrigt und mit dubiosen Behandlungen gequält. Im Oktober 1974 erhielt das Landesjugendamt des Landschaftsverbandes Rheinland deutliche Hinweise über die schrecklichen Vorgänge im Haus Bernward. Der Deutschen Kinderschutzbund hatte einen Brief (Hyperlink) an das Jugendamt weitergeleitet. Darin waren die Aussagen einer ehemaligen Angestellten des Sanatoriums zusammengefasst. Demnach verabreichte Dr. Müller den Kindern mehrfach am Tag Spritzen in den Rücken – sowohl um sie zur Ruhe zu bringen, als auch gegen das Bettnässen. „Ein Kind wurde derart massiv damit behandelt, dass es weder schlucken noch reden konnte. Bei einem Jungen sind nach einer Spritze, die das Rückenmark getroffen hatte heftige Krampfanfälle aufgetreten“, heißt es im Schreiben. Ebenso wird berichtet, dass der leitende Arzt Dr. Müller die ehemalige Kinderpflegerin angewiesen habe, einen aufgebrachten Jungen mit Spritzen zu beruhigen – und zwar mit den Worten: „Sedieren, sedieren, bis er im Stehen einschläft!“. Viele Kinder wären oft morgens und nach dem Mittagsschlaf kaum zu sich gekommen und umhergetorkelt.

 

Dr. Otto Heinrich Müller
als Kinderfacharzt erhielt er 1960 vom Regierungspräsidenten Köln die Genehmigung zum Betrieb einer privaten Krankenanstalt für Kinder in Oberkassel - bis 1976 Pächter und leitender Arzt des Kindersanatoriums Haus Bernward

Die Kontrollbehörden versagten

Am 28.11.1974 besichtigten Vertreter des Landesjugendamts routinemäßig das Haus Bernward.  Dabei konfrontierten sie Dr. Müller mit den Beschwerden des Kinderschutzbundes. Der Behauptung des Arztes, die Anschuldigungen seien böswillige Verleumdungen einer zwangsgekündigten Mitarbeiterin, wurde Glauben geschenkt.

Bei der gleichzeitig stattfindenden Kontrollbesichtigung sahen die Vertreter des Landesjugendamtes ausschließlich auf baulichen Gegebenheiten. Sie hatten einen „sauberen und gepflegten Eindruck“ vom Haus. Die hygienischen Verhältnisse seien einwandfrei. Insgesamt: „keine Veranlassung zu Beanstandungen“. Die anwesenden Kinder wurden nicht befragt.

Das Ende von Haus Bernward

Doch Beschwerden von Nachbarn und Eltern führten dazu, dass das Haus Bernward weitere Kontrollbesuche erhielt. Aber erst 1976 wurde genauer hingeschaut und katastrophale Zustände dokumentiert: Schwere Misshandlungen der Kinder durch Bedienstete des Hauses, medizinisch unsachgemäße und angsteinflößende Behandlung mit Anästhetika, unzureichende psychotherapeutische Maßnahmen, fehlendes Fachpersonal, unzureichend geführte Krankenpapiere und unzureichende räumliche und hygienische Verhältnisse, wie Blutflecken auf der Kopfunterlage im Behandlungsraum.

Angesichts dieser Beanstandungen entzog der Regierungspräsident Köln im August 1976 die 1960 erteilte Konzession. Laut seinem Beschluss musste Dr. Müller das Haus Bernward (Hyperlink) bis zum 11. August 1976 schließen.

In der Begründung des Regierungspräsidenten heißt es, Dr. Müller habe „jahrelang eine mit dem Moment der Angst operierende Therapieform angewandt“. Er verfüge offenbar nicht über die erforderlichen Fachkenntnisse.

Das Kindersanatorium Haus Ebton

Im Gegensatz zum Haus Bernward ist über das Kindersanatorium Haus Ebton bislang nur wenig bekannt. Doch auch hier war die Zeit für die Kinder alles andere als Erholung. In einem Leserbrief im General-Anzeiger vom 27.03.2021 erinnert sich ein ehemaliges Verschickungskind: 

Den Zwang, etwas zu essen, das ich absolut nicht mochte oder auch mehr, als ich wollte, kannte ich von zu Hause nicht, obwohl jeder Pfennig zweimal umgedreht und nichts verschwendet wurde. Eine Erholung für Großstadtkinder waren die Wochen in Oberkassel ganz sicher nicht.

Das private Kindersanatorium Ebton wurde bereits 1958 geschlossen – also rund 18 Jahre früher als Haus Bernward. Der Landschaftsverband Rheinland erwarb um die Jahreswende 1958/59 das Sanatorium und eröffnete dort am 16. Februar 1959 das „Rheinische Landeskurheim für Sprachgeschädigte“. So geht es aus einer Publikation der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik von August 1984 hervor.

Ursprünglich war das Haus Ebton als Landhaus für den Kölner Fabrikanten Julius Vorster erbaut worden. Dazu gehörte ein englischer Park, mit zum Teil exotischem Baumbestand. Heute gehört das Gebäude zum Itzel-Sanatorium, einer stationären Pflegeeinrichtung, vorwiegend für Menschen mit Demenz.

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