Vom Opfer zum Kämpfer

von Detlef Lichtrauter

Mein langer Weg, die traumatischen Erlebnisse in Haus Bernward, Oberkassel, zu verarbeiten.

Vom Opfer zum Kämpfer - Kindersanatorium Haus Bernward
Kindersanatorium Haus Bernward

PAFF! PAFF! PAFF!  Mit jedem Schlag schreit der Junge im Bett neben mir lauter. Ich bin vor Angst stocksteif. Dr. Otto Müller, Leiter des Kindersanatoriums Haus Bernward, schlägt mit äußerster Brutalität auf den entblößten Hintern des Jungen. Die alte Nachtschwester und der Arzt sind ein eingespieltes Team. Ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wird, zeigt die gedrungene Frau mit dem ausgestreckten Finger auf ein anderes Bett im Schlafsaal. Die Orgie der Gewalt trifft den nächsten Jungen. Müller reißt die Bettdecke weg, zerrt mit einer Hand Schlafanzug- und Unterhose herunter, während die zweite Hand bereits zuschlägt. Ich liege im Bett, direkt unter dem Fenster, und wage mit klopfendem Herzen einen verstohlenen Blick über die Schulter. Jetzt bloß kein Geräusch machen, nicht die Aufmerksamkeit des Schlägers auf mich ziehen. Ich drehe mich weg Richtung Fenster, die Augen fest geschlossen. Dann höre ich, wie er neben mein Bett tritt, mittlerweile schwer atmend, spüre, wie er sich über mich beugt, fühle seinen übermächtigen Schatten. Ich stelle mich schlafend, halte die Luft an. Panik durchströmt mich.  „Na, wird hier geschlafen?“ zischt er in mein Ohr.

Im Alltag verdrängt

Montagmorgen. Es ist lange her, dass ich als 12-jähriger Junge in das Kindersanatorium Haus Bernward in Bonn-Oberkassel verschickt war. Jetzt betrete ich mit einer Kiste voller Instrumente den Kindergarten in meinem Heimatort.  Ich bin Musikschullehrer – für mich mein Traumberuf.

Mittwochs Tennis, am Wochenende Tanzmusik in einer Band, sonntags Ausflug mit der Familie: Heile Welt – so scheint es. Wenn da nicht die Ängste wären, die Befangenheit, Hemmungen, der zu große Respekt vor Autoritäten. Verschwommene Erinnerungen an die Kinderkur steigen auf.  Ich wage es zum ersten Mal mit meiner Mutter über meine Erlebnisse zu sprechen, 20 Jahren nach der Verschickung. Sie reagiert mit Erstaunen, Entsetzen, Entrüstung – aber auch Abwiegeln. „Och, war das denn wirklich so schlimm?“

Ich breche das Schweigen

Jahre später feiere ich im Kreis meiner Familie zufällig in Bonn-Oberkassel. Das Restaurant liegt nur wenige Gehminuten von dem Haus Bernward entfernt. Das Kindersanatorium gibt es schon lange nicht mehr. Heute ist es der Sitz einer Firma. Nach der Feier zieht es mich magisch dorthin. Bereits zweimal stand ich als Erwachsener vor dem Gebäude, alleine. Betrachtete die Fassade, stand vor dem mächtigen Portal und suchte nach Antworten. Auch heute schlägt mein Herz bis zum Hals. Doch etwas ist dieses Mal anders: Im Alter von 50 Jahre zeige ich erstmalig meiner Familie diesen Ort des Schreckens. Erinnerungen werden wach, die mich später auch regelmäßig in Alpträumen verfolgen werden:

Mein Gegenüber erbrach die Linsensuppe und musste sie mitsamt einer Extraportion aufessen. Nach dem Abendessen bekam jedes Kind eine Tablette, eine bunte Kapsel, die man ohne Wasser runterwürgen musste. Kinder, die über Nacht ins Bett gemacht hatten, mussten nach dem Frühstück nach vorne treten, sich entblößen und bekamen vor allen anderen Kindern eine Spritze in den Po. Die einmal wöchentlich stattfindende Visite fand bei absoluter Stille statt. Dr. Otto Müller duldete kein Geräusch. Seine cholerische, herrische und gewaltbereite Art war respekteinflößend und ließ uns in Angst erstarren.  Am Ende der Visite gab es immer das gleiche Ritual: Müller nahm mit Daumen und Zeigefinger das Bündchen der Unterhose, zog es nach vorne und blickte in die Hose des zu untersuchenden Kindes. Und immer wieder taucht die nächtliche Prügelorgie in meinen Träumen auf. Schweißgebadet wache ich auf.

Detlef Lichtrauter
etwa im Alter seiner Verschickung

Bad Sassendorf Haus Bernward Detlef Lichtrauer

Die Suche nach Antworten

Ich recherchiere im Internet zum Thema Haus Bernward, befinde mich jedoch schnell in einer Sackgasse, da die Ausbeute gering ist. Ich erinnere mich an den Namen eines Betreuers, finde ihn im Telefonbuch und rufe an. Er reagiert unfreundlich, unwirsch und versucht, die Ereignisse im Kindersanatorium zu verharmlosen. Erst später erfahre ich, dass er der damalige Lebensgefährte von Dr. Müller war.

Woher stammte der Anfangsverdacht?

Ich nehme Kontakt zum Bonner Stadtarchivar auf. Der lässt mir ein wichtiges Dokument zukommen. 1974 hat der Kinderschutzbund Köln dem Landschaftsverband Rheinland einen Brief  weitergeleitet. Darin wird von einer ehemaligen Angestellten im Haus Bernward berichtet, die von katastrophalen Zuständen im Sanatorium berichtet. Die Frau bezeugt, dass Müller besonders lebhafte Kinder mit der Spritze ruhigstellt und überliefert seinen Ausspruch: „Sedieren, sedieren, bis er im Stehen einschläft“. Ein weiteres Dokument belegt, dass erst nach der dritten Überprüfung Dr. Müller die Konzession entzogen und das Haus im Jahr 1976 geschlossen wird.

Alle sollen von dem Unrecht erfahren

Im Sommer 2020 stellt der Bonner Stadtarchivar den Kontakt zu einem Journalisten von „Report Mainz“ her. Er habe eine Drehgenehmigung im Haus Bernward und plane einen Bericht mit zwei ehemaligen Betroffenen.  Einer davon werde ich sein.

Am Tag des Filmdrehs habe ich Migräne, habe Angst, bin nervös, das Herz schlägt mir bis zum Hals. Das Tor öffnet sich elektrisch. Ich gehe die Einfahrt hinauf, dem Journalisten entgegen. Der begrüßt mich mit den Worten: „Ist das das Haus, wie Sie es in Erinnerung haben?“ Mir versagt die Stimme, ich habe Tränen in den Augen. Wir drehen um, gehen zum Parkplatz, ich beruhige mich. Anschließend gehen wir gemeinsam zum Portal, betreten die Villa. Vieles kommt mir bekannt vor. Die massive Holzvertäfelung und der ehemalige Untersuchungsraum sind im Original erhalten. Die Aura der permanenten Angst und Bedrohung wird greifbar. Nach dem Dreh im Portal habe ich die Möglichkeit, meinen Schlafraum im zweiten Stock zu besichtigen. Ich stehe an meinem Fenster, dort wo mein Bett stand. Auch wenn Müller mich damals verschont hat, die ständige Bedrohung durch ihn hat bei mir tiefe Spuren hinterlassen. Ich werde von Gefühlen überwältigt.

Die umfangreichen Recherchen von Report Mainz belegen Medikamentenmissbrauch, Gewaltexzesse und das Versagen der Behörden in der Ausübung ihrer Kontrollfunktion.

Bad Sassendorf Heimleitung
Dr. Otto Müller, ehemalige Leiter Haus Bernward

Bittere Tees, Spritzen, Tabletten: Viele ehemalige Verschickungskinder erinnern sich, bei ihrer Kur Medikamente bekommen zu haben. REPORT MAINZ ist diesem Verdacht nachgegangen und zeigt:

In einigen Kurheimen wurden Kinder gezielt ruhiggestellt, beispielsweise mit starken Psychopharmaka.

Verschweigen oder Aufdecken – werden wir siegen?

Von nun an steht meine Entscheidung fest – ich werde das Schweigen beenden – mein erlebtes Unrecht öffentlich machen. Ich will aufdecken, aufzeigen, aufarbeiten.

Immer mehr Medien berichten über das Leid der Verschickungskinder. Nach jedem Fernsehbericht, Radiobeitrag und Zeitungsartikel melden sich mehr und mehr Betroffene bei mir. Sie erzählen mir von ihren leidvollen Erlebnissen. Ich merke: Ich bin nicht allein! Waren wir am Anfang einzelne Kämpfer, sind wir nun eine starke Bewegung geworden.

Der NRW-Landtag lädt die Gründerin der „Initiative Verschickungskinder“ und mich als Sachverständige ein. Wir betreten den Sitzungssaal im Landtag- alle Blicke sind auf uns gerichtet- mein Puls rast. In der Runde sitzen hochrangige Landespolitiker. Und dann erblicke ich sie: Vertreter von Institutionen, die maßgeblich an Verschickungen beteiligt waren.

Endlich bin ich an der Reihe. Ich soll von meiner Verschickung berichten. Schon nach wenigen Sätzen überwältigen mich meine Gefühle – mir versagt die Stimme. Im Sitzungssaal herrscht ein Moment totaler Stille. Nach wenigen Sekunden habe ich mich gefangen; detailliert und präzise berichte ich fortan von Medikamentenmissbrauch, sexuellen Übergriffen und körperlicher Gewalt. Ich schildere einen mir per E-Mail zugetragenen Todesfall und zitiere aus dem Brief, in dem das Verabreichen von Sedativa beschrieben wird. Zu den Stellungnahmen der Träger äußere ich mich kritisch. Wir, die von Verschickungen betroffen waren, haben unsere Vorstellung einer gelungenen Bürgerforschung und die lege ich dar. Von Minute zu Minute spüre ich, wie ich sicherer werde. Ängste verschwinden und mir wird klar, dass ich hier für viele tausend Betroffene spreche. Diese Gelegenheit nutze ich!

Aufklärung!

Am 26.11.2021 ist so weit: einstimmig erteilen uns alle Parteien im Landtag von Nordrhein-Westfalen den Auftrag, im Rahmen eines Citizen Science Projekts, die Kinderverschickungen betreffend NRW aufzuarbeiten. Wir Betroffene nehmen diese große Herausforderung gemeinsam an. Ich werde meinen Teil dazu beitragen, denn:

ICH BIN KEIN OPFER MEHR!

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