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59505 Bad Sassendorf, 1971

Es war kalt, Urin und andere Extremente liefen uns die Beine herunter.


Von: S.B.
1969 ließen sich meine Eltern scheiden, meine damals gerade 23-jährige Mutter zog
mit mir und meinen beiden Brüdern in das Haus ihrer Eltern, also meiner Großeltern.
Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, was ich jedoch nach allen Äußerungen
über ihn nie als besonderen Verlust empfunden habe. Er schlug und betrog meine
Mutter. Umso unbegreiflicher war es, dass sie von ebendiesem Mann im Jahre 1971
noch ein weiteres Kind bekam. Trotz der Unterstützung meiner Großeltern war meine
Mutter in so mancherlei Hinsicht mit uns vier Kindern überfordert, und so war es wohl
für sie eine willkommene Möglichkeit, uns jeweils in den Sommerferien in
verschiedenen Erholungsheimen unterzubringen. Alljährlich schleppte sie uns zum
Bielefelder Gesundheitsamt, wo nach entsprechender Untersuchung unsere
angebliche Unterernährung festgestellt wurde. Hiervon konnte in Wahrheit gar keine
Rede sein: Essen gab es bei uns immer regelmäßig, meine Oma kochte täglich gut
und mehr als reichlich, und selbst Süßkram gab es in Hülle und Fülle. Wir Kinder
waren eben von Haus aus sehr schlank, ebenso wie unsere Mutter und unser
Erzeuger, und dies hat sich bis heute nicht geändert.
Nun trat ich also 1971 im Alter von vier (!) Jahren zusammen mit meinem damals
fünfjährigen Bruder meine erste Reise an: Wir wurden mit einer Begleiterin und
weiteren gleichaltrigen Kindern in den Zug gesetzt – das Ziel war ein Kinderkurheim
in Bad Sassendorf. Ich erinnere mich, dass ein Großteil der Kinder, ich
eingeschlossen, sehr weinten und überhaupt nicht begriffen, was mit uns geschah.
Es war entsetzlich. Aus der situativen Hilflosigkeit heraus versprachen uns unsere
Mutter und unsere Großeltern, wenn uns das Heim nicht gefallen sollte, könnten wir
sofort wieder nach Hause fahren.
In dem Kinderheim angekommen, mussten wir uns in einem dunklen Flur jeweils zu
zweit in einer Reihe aufstellen. Mit meinem weinenden Bruder an der Hand nutzte ich
gleich die Gelegenheit, die anwesende Erzieherin mit dem Versprechen unserer
Mutter zu konfrontieren, also jetzt wieder nach Hause fahren zu wollen. Die Frau
antwortete in einem sehr rüden Ton, dies sei erst wieder in einigen Wochen möglich,
da habe unsere Mutter wohl nicht die Wahrheit gesagt. Für uns beide brach komplett
die Welt zusammen, wir hatten ja keine Ahnung, wie lange „einige Wochen“ dauern
würden.
Merkwürdigerweise, aber in Anbetracht der Ereignisse wohl verständlich, habe ich in
Bezug auf die folgenden sechs Wochen in diesem Heim ausschließlich negative
Erinnerungen. Ein paar dieser Ereignisse haben sich derartig in mein Gehirn
eingebrannt, als wären sie erst wenige Jahre her:
Nach jeder kleinen „Unartigkeit“ musste man sich in die nächstbeste Ecke stellen,
immer mit dem Gesicht zur Wand. Da es jede Menge zum Teil unsinnige Regeln gab
und sich die Schmerzgrenze der Erzieherinnen auf einem sehr niedrigen Niveau
befand, habe auch ich häufig gefühlte Stunden in irgendwelchen Ecken verbracht,
wo ich über meine Unartigkeit nachdenken sollte. Nach einer gewissen Zeit und einer
Entschuldigung für das begangene Vergehen durfte ich wieder aus der Ecke
herauskommen. Weil ich aber oft nicht wusste, wofür ich mich entschuldigen sollte,
wurde mein Ecken-Aufenthalt meistens sehr lang.
Meine linke Tischnachbarin im Speisesaal erbrach sich oft. Ich erinnere mich nicht an
den Grund, vermutlich war sie einfach eine schlechte Esserin. Sie musste aber, wie
wir alle, immer die gesamte Portion auf ihrem Teller aufessen. Sie erbrach sich also,
entweder direkt auf ihrem Teller oder unter dem Tisch, denn aufstehen durften wir
nicht. Nun gab es für sie zwei Möglichkeiten: War das Erbrochene auf dem Teller
gelandet, musste sie dieses aufessen. Hatte sie sich für die Variante unter dem Tisch
entschieden, wurden ihr Eimer und Lappen hingeknallt, womit sie das Erbrochene zu
entfernen hatte. Das Ganze immer unter lautem Gezeter und Geschimpfe, das ich
wohl nie vergessen werde.
Nun noch zu einer vollkommen sinnfreien, folgenschweren und für mich am
wenigsten nachvollziehbaren Regel: Nach dem Abendessen durften wir nur noch in
dem kurzen Zeitraum bis zum Schlafengehen die Toiletten aufsuchen. Sobald wir in
den Betten lagen, waren diese für uns Kinder Tabu. Die Flure wurden gut bewacht,
und wenn wir in unserer Not trotzdem losschlichen, wurden wir fast immer erwischt.
Obligatorische Strafe: In einer Flur-Ecke stehen, mit dem Gesicht zur Wand, barfuß
und im Schlafanzug oder Nachthemd. Es war kalt, Urin und andere Extremente liefen
uns die Beine herunter. Alle vier Ecken waren immer „belegt“. Bevor wir gefühlte
Stunden später wieder ins Bett durften, mussten wir unseren „Dreck wegmachen“.
Um dieses unwürdige Prozedere zu umgehen, kamen besonders findige Kinder bald
auf die Idee, unter den Betten von jeweils anderen Kindern, die gerade in den FlurEcken standen oder bereits schliefen, ihre Geschäfte zu verrichten. Morgens nach
dem Wecken musste dann jeder von uns auf allen vieren unter seinem eigenen Bett
die Hinterlassenschaften eines anderen Kindes beseitigen. Der Gestank in unserem
Schlafsaal war unerträglich. Ich selbst gehörte zu den „Eckenstehern“, und diese
häufigen nächtlichen Episoden sorgten bei mir für eine dicke Erkältung. Ich musste in
der Krankenstation behandelt werden und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen
meinem Bruder gegenüber, den ich nun allein lassen musste. Wie lange, weiß ich
nicht mehr. Nach diesem „gelungenen“ Kuraufenthalt kam ich als regelmäße
Bettnässerin wieder nach Hause. Meine Mutter zeterte und verstand die Welt nicht
mehr, und ich schämte mich in Grund und Boden.
Dies sind so ziemlich meine frühesten Kindheits-Erinnerungen, was mich noch heute
sehr traurig macht. Meinem Bruder geht es ähnlich, wir haben oft darüber geredet
und tun es manchmal noch heute. Ich glaube, für ihn war das alles noch viel
schlimmer. Er war sehr schüchtern und introvertiert, ich das Gegenteil –
aufgeschlossen und verspielt. Obwohl er der Ältere war, habe ich damals auf ihn
„aufgepasst“. Nach unserer Heimreise erzählten uns unsere Mutter und die
Großeltern, sie hätten sich bei ihrem einzigen Besuch nicht zu erkennen geben
dürfen, sich also am Heimgelände hinter Büschen versteckt und uns beobachtet. Ich
hätte mit anderen Kindern gespielt, wäre aber zwischendurch immer wieder zu einer
Bank gelaufen, auf der mein Bruder traurig und untätig herumgesessen habe. Ich
hätte mich dann neben ihn gesetzt, ihn umarmt und sei dann wieder kurze Zeit
spielen gegangen, um dann wieder nach meinem traurigen Bruder zu schauen.
Dies alles ist ja jetzt viele Jahre her, heute einigermaßen gedanklich sortiert und
verarbeitet, aber eben nicht vergessen. Damals waren wir jedoch traumatisiert, was
meine Mutter aber nicht davon abhalten konnte, uns weiterhin alljährlich in weitere
Kurheime oder später in Ferienlager zu verschicken. Glücklicherweise ist es mir in
den Folgejahren nie wieder so ergangen wie in Bad Sassendorf. Im Gegenteil: In
allen darauffolgenden Heimen und Lagern habe ich mich sehr wohl gefühlt.
Aus meinen Erfahrungen heraus nehme ich an, dass in den 70er Jahren nicht mehr
in allen Kinderkurheimen das autoritäre Zepter geschwungen wurde. Umso
schlimmer für diejenigen Kinder, die das Pech hatten, in einem dieser entsetzlichen
Häuser gelandet zu sein, um dort ihre Ferien zu verbringen, auf die sich doch
eigentlich jedes Kind sehr freut.
Dass dieses Thema endlich in den Medien zur Sprache kommt und Betroffenen die
Möglichkeit zur Aufarbeitung sowie zum Erfahrungsaustausch gegeben wird, ist
sicher eine gute Sache. Mir selbst hat es jedenfalls gutgetan, meine Erlebnisse hier
einmal zu schildern. Die Frage, ob ich an einem weiteren Erfahrungsaustausch
interessiert bin, würde ich im Moment eher mit nein beantworten. Meine Erlebnisse in
Bad Sassendorf waren sicherlich sehr schlimm, wurden in den Jahren danach jedoch
von vielen weiteren schlimmen Ereignissen und Phasen in meiner Kindheit
überschattet. All diese habe ich später im Erwachsenenalter, mühsam und
phasenweise auch mithilfe von Therapeuten, für mich aufarbeiten und abschließen
können, so dass ich heute ein zufriedener Mensch bin.
Anonymisierungs-ID: abr

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