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78073 Bad Dürrheim, 1957

… dass kein Kind es gewagt hätte, sich zu rühren.

Von: N.M.Sch.

Kostenträger: DAK

Dauer der Verschickung: 6 Wochen

Bericht: Im November 1957 kam als ich als 8-jähriger Junge für 6 Wochen zur Erholung nach Bad Dürrheim in die Villa Hilda, weil ich nach Einschätzung unseres Hausarztes zu dünn war. Die ca. 12-stündige Nachtfahrt startete in einem Sonderzug von Dortmund aus mit Hunderten von Kindern. Aus Bad Salzuflen angereist bekamen alle Kinder aus dieser Gegend ein Pappschild mit der Abbildung eines Westfälischen Schinkens umgehängt.

Die gesunde Schwarzwaldluft sollte allen Kindern zur Kräftigung und Erholung dienen. Allerdings hatten wir während meines Aufenthalts dort nur zweimal Gelegenheit, draußen an der frischen Luft zu sein. Einmal davon zu einem Friseurbesuch kurz vor der Abreise.

Ansonsten spielte sich der Kuraufenthalt – abgesehen von der regelmäßigen Wiegeprozedur im medizinischen Bereich – hauptsächlich im Speiseraum bzw. in den Schlafräumen ab.

Beim Spielen und Basteln im Speiseraum wurde es den überforderten Betreuerinnen oft zu laut, deshalb wurde häufig eine 15-minütige absolute Ruhe verordnet, bei der auch keine Bewegungen zugelassen waren. Ich habe gelernt, annähernd sekundengenau bis 900 zu zählen. Der psychische Druck war so stark, dass kein Kind es gewagt hätte, sich zu rühren.

Den ganzen Tag über wurde dieses angsteinflößende Verhalten von allen betreuenden Personen, auch vom Hausmeister, aufrecht gehalten.

Beim Essen herrschte ein strenges Regiment, die Teller mussten leer gegessen werden, auch wenn Erbrochenes darauf war. Als ich morgens meine Haferflockensuppe – obwohl ich Haferflocken sehr gerne mag – sehr zügig gegessen habe, um das Frühstück hinter mich zu bringen, wurde ich aufgefordert: „Guck“ nicht so blöd, iss noch einen Teller!“. Mir blieb nichts anderes übrig.

Morgens musste die Gruppe der älteren Kinder, zu denen ich auch gehörte, die jüngeren aus ihren meisteingenässten Schlafanzügen befreien und ihnen beim Anziehen helfen. Es waren insgesamt ca. 10 ältere Kinder im Alter von 8 -10 Jahren und genauso viele jüngere, schätzungsweise 4 – 6 Jahre alte Kinder.

Gerade die jüngeren waren in einem bedauernswerten Zustand, denn wir als ältere hatten kein Interesse die eigentlichen Aufgaben der Betreuerinnen zu übernehmen, d.h., diese völlig eingeschüchterten Kinder hatten nicht nur unter dem Personal, sondern zumindest morgens, auch unter der schlechten Laune der älteren Kinder zu leiden.

Wir waren angehalten, in Abständen Briefe nach Hause zu schreiben. Als ich einen Teil der erlebten Missstände bereits aufgeschrieben hatte, kam von hinten eine Hand, nahm mir das Papier ab, zerriss es in Stücke und eine Stimme sagte: „Na, na, wir wollen doch wohl etwas Schönes schreiben“.

In diesem Moment habe ich tatsächlich an Flucht gedacht, ich wusste, dass in der Nähe (ca. 7km) Verwandtschaft von mir wohnte, wusste aber auch, dass sie zu einem Besuch in dem Haus nicht zugelassen waren. Ich hatte aus dem Fenster gesehen, wie sie unverrichteter Dinge wieder ins Auto steigen mussten. Aus Angst vor der Heimleitung würden sie mich wahrscheinlich auch nicht bei sich aufnehmen. Außerdem wusste ich auch, dass es draußen winterlich kalt war.

Zu meinen Eltern hatte ich auch keinen Kontakt. Viele Kinder haben fast täglich Post erhalten, die mittags immer feierlich verlesen wurde. Jeden Tag habe ich auf Post von zu Hause gewartet. Als ich nach 3 Wochen(!) endlich das erste Mal Post bekam, bin ich auf die Toilette gerannt, weil ich bitterlich weinen musste. Ich wollte aber nicht, dass die Betreuerinnen das mitbekommen. Meine Eltern haben wohl eher den Rat befolgt, besser nicht zu schreiben, um kein Heimweh aufkommen zu lassen.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit den „herrschenden“ Bedingungen zu arrangieren und die Tage und Stunden bis zu meiner Abreise zu zählen.

Verschiedene für mich ungenießbaren Mahlzeiten und Situationen bin ich von da an gezielt aus dem Weg gegangen, indem ich mich krank gemeldet habe. Ich musste dann zwar ins Bett und bekam einen bitteren Tee zu trinken, der mir im Vergleich zum Essen im Speiseraum allerdings köstlich erschien. Ich habe gelernt, bestimmte Reaktionen des Personals vorauszusehen und kam damit weitestgehend unauffällig und unangreifbar davon und war damit auch nicht der Willkür und dem Zorn der Betreuerinnen ausgesetzt.

Die wöchentlich stets gleichen Abläufe haben mir dabei geholfen.

Ich hatte mir vorgenommen, als Erwachsener zurückzukommen und alle Beteiligten zur Rechenschaft zu ziehen, so klingt das heute – tatsächlich wollte ich alle nur verprügeln.

Nach der Kur ist meine Mutter mit mir zur DAK gegangen. Dort konnte ich den Verlauf der Kur schildern und meine Eltern haben Beschwerde eingelegt.

Wenn ich lese, dass nach meiner Zeit noch unzählige Kinder leiden mussten, viel mehr als ich es erlebt habe, weiß ich, dass unsere Beschwerde nichts verändert hat.

Dass ich aber ein Jahr später zu einem 6-wöchigen Aufenthalt zur Kur nach Weilmünster/Taunus gegangen bin, bleibt für mich bis heute ein Rätsel.

Dort hat es mir ausgesprochen gut gefallen, es gab viele Aktivitäten für die Kinder mit engagierten, liebevollen Betreuerinnen. Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt. Den Aufenthalt in Weilmünster habe ich bis heute in guter Erinnerung behalten.

Als ich beruflich in einer Suchtklinik Anfang der 1980er tätig wurde, ist es mir aufgrund meiner eigenen Erfahrung gelungen, die damals dort übliche öffentliche Bekanntgabe und Verteilung der Briefpost im Anschluss an das Mittagessen abzuschaffen.

Mein damaliges Team hat mich nach Kenntnis meiner Erlebnisse dabei unterstützt.

Anonymisierungs-ID: aie

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