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Betroffenen-Interview Aprath

Klinik Aprath: Interview mit dem Betroffenen J. am 21.10.2022 durch Carmen Behrendt.

J. war 1963 zur Behandlung einer Tuberkulose für ein Jahr in Aprath.

Frage:

Wie war das Verhältnis zwischen dem Chefarzt Kurt Simon und den Tanten und/oder Schwestern? Gab es eine „Komplizenschaft“ zwischen den Tanten bzw. den Schwestern und dem Chefarzt?

Antwort:

Nein, gar nicht. Es war von dem Chefarzt manchmal die Rede und man sah ihn manchmal durch’s Gebäude gehen, aber eigentlich war er doch für uns Kinder weit weg. Und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass er mit den Schwestern oder Betreuerinnen kommuniziert. Im Gegenteil, ich hab’ ihn so in Erinnerung: Er trug einen weißen Kittel, darunter einen Anzug und eine Krawatte, also er wirkte auf mich sehr stattlich, also insoweit war er für mich eine beeindruckende Persönlichkeit, mit dem ich gern mehr Kontakt gehabt hätte. Ich hatte sogar den Eindruck: „So böse, wie die Tanten hier sind, ist der nicht.“ Ich habe manchmal gedacht: „Wenn das der Chefarzt wüsste, wie die hier mit uns umgehen, der würde bestimmt dazwischen springen.“ Aber das war eher meine Fantasie. 

Frage: 

Die Medizinhistorikerin Sylvia Wagner hat herausgefunden, dass Ende der 1950er Jahre unter Kurt Simon Contergan-Versuche in Aprath durchgeführt wurden. Allerdings war das bis zu Wagners Studie in der öffentlichen Rezeption und im medizinischen Fachdiskurs kein Thema. Im Gegenteil veröffentlichte der Fachverlag Thieme im Jahr 2018 einen Nachruf auf Kurt Simon, mit dem dieser als Pneumologe und Mediziner beinahe glorifiziert wurde. Wie nimmst Du als Betroffener diesen Gegensatz wahr?

Antwort:

Ich habe auch erst aus dem Internet erfahren, dass er in Aprath geboren ist und sein Vater ja auch schon Chef der Klinik war. Aber von dieser Dynastie habe ich erst im Nachhinein erfahren. 

Zur Rolle der Ärzte kann ich insgesamt sagen: Ab und zu ging auch mal ein Arzt über eine Station, guckte, was so läuft, oder hat ein einzelnes Kind untersucht, und ich hatte eigentlich immer das Gefühl, dass wenn ein Arzt in Erscheinung tritt, dann tritt Ruhe ein. Dann waren auch die Schwestern und Betreuerinnen gegenüber uns Kindern – ja liebevoll mit Sicherheit nicht, aber sie ließen uns in Ruhe. Allein, wenn die da waren, war schon Ruhe. Schon deshalb habe ich die Ärzte nach damaliger Vorstellung als integer erlebt.

Frage:

Hast Du mehr Informationen darüber, wer die Betreuerinnen und Schwestern waren?

Antwort:

Zunächst einmal: Ich war vier Jahre alt, als ich in Aprath war. Und im Alter von vier Jahren ist es ziemlich schwierig, das Alter einer Person einzuschätzen. Ich habe mal meine Mutter gefragt, wie alt die Betreuerinnen gewesen seien, und sie sagte mir, die müssten so 18, 20 Jahre alt gewesen sein. Also die waren insoweit noch sehr jung, noch im Krieg geboren oder kurz danach. Und bei den Krankenschwestern kann ich nur schätzen. Da habe ich die Vermutung, dass das schon Rot-Kreuz-Schwestern im Dritten Reich waren oder sogar Rot-Kreuz-Schwestern im Krieg. So kamen die mir jedenfalls vor, also sehr abgehärtet, sehr abgebrüht, aber da habe ich auch nur Vermutungen – gerade deren Lebenslauf würde mich sehr interessieren.

Frage:

In Deinem Bericht hast Du bereits einiges über den Tagesablauf in der Klinik geschrieben. Was ist Dir besonders in Erinnerung geblieben?

Antwort: 

Mir ist aufgefallen, dass alles ziemlich streng gegliedert war. Da waren die Kleinen, die Großen, die Mädchen und die Muttis. Und die Großen, die Jungs, die waren auf derselben Etage wie wir, wir waren zwar stationsmäßig getrennt, aber auf derselben Etage. Und ich hatte den Eindruck, dass die Schwester Irmgard, also meine Stationsschwester, sowohl für uns Kleine als auch für die Großen zuständig, aber wir waren eben räumlich getrennt, in unterschiedlichen Schlafsälen. Nur im Flur, da sah man sich mal. Aber die strikte Trennung finde ich das Markante daran. 

Frage:

In Deinem Erinnerungsbericht schilderst Du körperliche und seelische Misshandlungen durch die Betreuerinnen und Schwestern. Kannst Du Dich erinnern, ob das nach einem System passiert ist?

Antwort:

In der Situation hatte ich den Eindruck, dass das spontan war. Und später habe ich mir das so erklärt, dass die überfordert waren. Nachdem ich aber jetzt die vielen Berichte gelesen habe, wo klar war, dass da System hinter steckte, denke ich mir heute, die werden auch eine bestimmte Anweisung gehabt haben, durchzugreifen, und vor allen Dingen, was ich schon immer vermutet hab’, die werden die Anweisung gehabt haben: „Also die Kinder müssen das und das essen. Und sorgt dafür, dass die den Teller leer essen.“ Und wenn wir Kinder also so da saßen und stocherten da so rum und aßen ganz langsam und würgten das eher runter, dann zog sich das Essen natürlich in die Länge. Und da hatte ich den Eindruck, dass die dann irgendwann die Geduld verloren. Da haben die eine Ohrfeige gegeben und gesagt: „Nun iss mal ein bisschen schneller.“ Oder: „Gib’ mal den Löffel her, jetzt fütter’ ich Dich mal.“ Teller leer essen war also ein Evangelium. 

Frage:

Du warst ja etwa ein Jahr in der Klinik wegen einer Tuberkulose. Kannst Du Dich noch daran erinnern, wie Deine Eltern Dir das erklärt haben?

Antwort: 

Ich weiß, dass damals meine Mutter, das war kurz nach Ostern, sagte, ich sollte in die Ferien fahren, damit ich groß und stark werde. Und nun wusste ich von Erwachsenen, dass es hieß „Der fährt in den Urlaub“ oder „Der fährt in die Ferien“ und wie meine Mutter zu mir sagte „Du fährst in die Ferien“, habe ich gesagt „Ja, ja, wenn ich groß bin, klar.“ Denn wie gesagt, von den Großen kannte ich das. Und dann hat meine Mutter gesagt: „Nein, am Freitag kommst Du schon da hin.“ Und das fand ich ein bisschen komisch.

Ich muss sagen, verstanden habe ich das alles nicht. Und da ich meine Mutter eigentlich immer als eine sehr liebevolle Person erlebt habe, habe ich das Vertrauen gehabt: „Wenn die das sagt, wird das seinen Grund haben, was Schlimmes wird das nicht sein.“ Auch wenn mir das alles komisch vorkam. Und im Laufe der Zeit, als wir dann Tabletten, Spritzen bekamen, untersucht wurden, ab und zu durchleuchtet, habe ich mir gedacht, dass das irgendwas mit Krankheit zu tun haben muss. Und da habe ich an einem Besuchstag zu meiner Mutter mal gesagt: „Hör’ mal, Mama, ich bin ja hier in ’nem Krankenhaus, obwohl ich gar nicht krank bin.“ Die Tuberkulose spürte ich also nicht.

Frage: 

Hat das das Verhältnis zu Deinen Eltern verändert?

Antwort:

Hat es nicht, obwohl ich später schon gesagt habe: „Mama, ich glaube, es wäre schon besser gewesen, Du hättest mir die Wahrheit gesagt.“ Das hätte ich auch mit vier verstanden. Dass man mir gesagt hätte: „Du hast eine Krankheit, die wir zu Hause nicht heilen können.“ Das wäre sicherlich besser gewesen. Denn ich bin bis heute der Meinung, dass auch Kleinkinder weit mehr begreifen, als man als Erwachsener glaubt. Ich habe auch bei meinen Nichten und Neffen immer Abstand davon genommen, denen was zu erzählen, was nicht stimmt. Das habe ich immer in Erinnerung gehabt. 

Was mir aufgefallen ist: meine Eltern sind zu jedem Besuchstag gekommen. Der Besuchstag war circa alle vier Wochen und die sind immer gekommen. Ich weiß, dass es auch mal Kinder gab, wo das ein oder andere Mal die Eltern auch mal nicht da waren. Gott sei Dank ist mir das erspart geblieben. Meine Eltern sind jedes Mal da gewesen und ich hab’ auch gespürt, dass ihnen das wichtig war.

Frage:

Erinnerst Du Dich, ob sich nach der Verschickung etwas für Dich verändert hat?

Antwort:

Ich erinnere mich, dass ich nach der Verschickung immer sehr langsam gesprochen habe. Und ich weiß, dass manchmal, seien es Kinder, seien es Erwachsene, gesagt haben: „Sprich mal ein bisschen schneller.“ Und ich selber habe das langsame Sprechen nicht gemerkt. Und es gab natürlich auch Kinder, die mich deshalb auslachten oder verspotteten. Aber ich verstand das wirklich überhaupt nicht, was das sollte. Und da hat meine Mutter mir später gesagt, so hätte ich erst gesprochen, als ich aus Aprath wiederkam. Und irgendwann mal, weil ich immer wieder verspottet wurde, habe ich demonstrativ schnell gesprochen. Und dann pendelte sich das irgendwann auf ein normales Maß ein. 

Es gibt auch ein besonderes Erlebnis, das ich mit Aprath nicht in Verbindung gebracht habe. Ich bin nach dem vierten Schuljahr in Gummersbach erst zur Realschule gegangen, danach dann zum Gymnasium und hab’ danach dann Jura studiert. Und ich weiß, in meiner Realschulzeit hatte ich zu meinen Mitschülern ein sehr schlechtes Verhältnis. Ich war einerseits Klassenbester, war ein guter Schüler. Wenn manchmal andere Schwierigkeiten hatten, kamen die zu mir und sagten: „Mensch, Du kannst das doch so gut. Kannst Du mir das mal erklären? Kann ich Deine Hausaufgaben mal schnell abschreiben?“ Und das machte ich auch, aber das hinderte die nicht daran, bei anderer Gelegenheit über mich zu spotten und Witze zu machen. Ich habe meinen Mitschülern immer wieder geholfen, immer in der Hoffnung, irgendwann würde ich mal integriert und so behandelt wie jeder andere Mitschüler. Und ich konnte mir nicht erklären, warum ich immer die Zielperson dieser Witze war, wenn dumme Witze gemacht wurden. Heute bringe ich das mit Aprath in Verbindung. 

Es ist kein Zufall, wer Mobbingopfer wird. Ich passte in dieses Opferschema. Ich war im Vergleich zu Gleichaltrigen vergleichsweise schüchtern. 

Frage:

Ich möchte noch einmal auf den Erfahrungsbericht zurückkommen. In Deinem Bericht hast Du das, was Dir in Aprath passiert ist, sehr ausführlich geschildert. Weißt Du noch, wann Du angefangen hast, das zu reflektieren, und wann es für Dich wichtig geworden ist, das zu notieren?

Antwort:

Ich würde sagen, reflektiert habe ich das eigentlich immer wieder. Ich denke mal, das war so ungefähr im Jahr 2010, als der sexuelle Missbrauch an Kindern sehr aktuell wurde. Es gibt ja auch die Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch und an die habe ich auch geschrieben. Und da habe ich erstmals angefangen, mal einen Erfahrungsbericht über Aprath überhaupt zu schreiben. Und dann habe ich, nachdem ich im vorigen Jahr auf Detlef Lichtrauter aufmerksam wurde, habe ich den Erfahrungsbericht noch ein bisschen überarbeitet und ergänzt. 

Bei dem Stichwort kann ich noch sagen, das habe ich, glaube ich, in meinem Erfahrungsbericht nicht geschrieben. Oft wurde einem von den Betreuerinnen gesagt „Du warst böse!“ Oder man wurde für etwas bestraft, wo man gar nicht wusste, für was man überhaupt bestraft wurde. Man verstand gar nicht, was überhaupt los ist. Und das Essen, das schmeckte natürlich in der Regel abscheulich, und manchmal, wenn es Süßigkeiten gab oder einen wohlschmeckenden Nachtisch, dann kam es gar nicht so selten vor oder war sogar der Regelfall, dass ein paar Kinder ausgeguckt wurden „Du, Du, Du warst böse, du kriegst das nicht!“ Der Entzug von gutem Essen als Strafe, aber man verstand gar nicht, wofür man überhaupt bestraft wurde.

Frage:

Kannst Du noch etwas mehr darüber erzählen, also auch über den Tagesablauf in der Klinik?

Antwort: 

Ich hatte sehr schnell begriffen: „Hier ist es nicht wie zu Hause!“ Ich weiß, wir hatten diese Liegekuren und da lagen wir ja in einem Schlafsack, der auf der Liege festgebunden war. Und da waren manche Kinder aufgestanden und rumgelaufen und die wurden dann auch geschlagen. Und da habe ich mir gedacht: „Was seid ihr so dumm und steht hier auf? Ihr wisst doch, dass wir das nicht dürfen, dass sie dann auch schlagen.“

Ich weiß auch einmal, da waren zu wenig Schlafsäcke da. Aber ich lag schon auf meinem Liegebock und da sagte die Betreuerin zu mir: „J., bleibst du liegen?“ „Ja“ „Auch ohne Anbinden am Schlafsack?“ „Ja“ Und da dachte ich, Du hast jetzt Dein Ehrenwort gegeben, Du bleibst liegen, und das machst Du auch. Und ich hatte auch den Ehrgeiz „Die können mich schlagen so viel wie sie wollen, die werden mich nie weinen sehen.“ Und ich habe auch nie geweint. Andere Kinder, die geschlagen wurden, haben natürlich geweint. Und dann habe ich zu denen gesagt: „Mensch, wein’ doch nicht.“ 

Frage:

Waren die Tage jeden Tag gleich? Wurde jeden Tag die Liegekur gemacht?

Antwort: 

Ja, das auf jeden Fall. Die Tage waren gleich. Und es war nur, wenn im Winter Schnee lag oder wenn ein schöner Sommertag war, wurde schon mal nachmittags statt Liegekur spazieren gegangen. Das war die Ausnahme. Die Liegekur war immer gleich.

Frage:

Über mehrere Stunden?

Antwort: 

Ja, aber ich muss sagen, ich kann heute natürlich schwer einschätzen, wie lange das war, zumal man in dem Alter ja ein anderes Zeitgefühl hat. Aber ich würde sagen, die waren eigentlich ewig lang, und ich würd sagen, also vormittags, wenn das Frühstück fertig war, hieß es: „Jetzt noch Tabletten nehmen und die Spritze kriegen, dann hinlegen, dann aufstehen, dann Mittagessen und dann wieder hinlegen.“ Und ich weiß gar nicht, ich glaube, es könnte sein, dass wir nach der Mittagsruhe noch im Tagesraum waren und dann spielen konnten, aber das mit dem Liegen war für mich eine gefühlte Ewigkeit. Es hieß, wir sollten diese frische Waldluft einatmen. 

Frage:

Gibt es noch etwas, was Dir besonders wichtig ist, was Du mir erzählen möchtest für die Aufarbeitung? Und was noch unbedingt recherchiert werden sollte?

Antwort: 

Also erstmal interessiert mich: Wer waren die Personen, die uns dort betreut haben. Was haben die für eine Historie? Ich würde mal sagen, bei den Betreuerinnen, da hat meine Mutter gesagt, nach ihrer Schätzung waren die so um die 18, 20 Jahre alt. Also bei denen würde mich mal interessieren, ob das wirklich ausgebildete Kindergärtnerinnen waren oder aber ich meine, könnte mir vorstellen, was ja in damaliger Zeit auch üblich war, dass man jungen Frauen eher selten die Möglichkeit gab, wirklich etwas qualifiziertes zu lernen. Oder ob das welche waren, die gerade aus der Schule kamen und wo man dann gesagt hat, in Aprath werden welche gesucht, die auf die Kinder aufpassen, geh’ dann da mal hin. So und die praktisch schon vom Elternhaus in die typische Frauenrolle gedrängt worden waren und die auch deshalb ein bisschen frustriert waren. Das halte ich für möglich und deshalb würde mich deren Vita mal interessieren, ob die wirklich ausgebildet waren. Und ich würd’ mal sagen, wenn die Betreuerinnen noch sehr jung waren, so zwischen 40 und 45 geboren, aber das könnten ja die typischen Töchter von irgendwelchen Nazis gewesen sein, von irgendwelchen SS-Männern. Aus was für einem Elternhaus kamen die? Wie waren die geprägt? Wie sind die dann überhaupt an den Beruf gekommen?

Frage:

Von wem ging die Gewalt besonders aus?

Antwort:

Schwestern und Betreuerinnen, das war gleichermaßen. Die jüngeren auch. Ich bin sogar geneigt, zu sagen, gerade die. Ich kann mich erinnern, wir hatten einen Jungen auf der Station, der wurde nie geschlagen. Also da war manchmal, wenn wir nach Auffassung der Betreuerinnen zu laut waren, dann gingen die der Reihe nach durch – entweder wir saßen am Tisch oder wir lagen im Bett – und dann wurd’ der Reihe nach „patsch, patsch, patsch, patsch“, der eine nach dem anderen kriegte ’ne Ohrfeige, aber der eine Junge, der hieß Jürgen, der wurde immer ausgespart. Zu dem wurde auch nie gesagt, wenn der mal nicht essen wollte: „So, Jürgen, Du isst jetzt, sonst kriegst du ’ne Ohrfeige!“ Mit dem ging man eigentlich so um, wie ich mir das gewünscht hätte. Ich kann mir das heute im Nachhinein nur so erklären, dass der Eltern hatte, die sehr aufpassten. Die von vornherein gesagt hatten: „Ok, unser Kind ist krank, wir geben ihn hier hin, aber hören wir auch nur einmal, dass ihr den anfasst, dann ist was los.“ Und wie gesagt, die gingen mit dem Jungen sehr vorsichtig um, das weiß ich.

Frage:

Aber niemand hat hinterher was davon gehört, warum das so war?

Antwort:

Nein.

Frage:

In Deinem Erlebnisbericht hast du den Fall des sexuellen Missbrauchs geschildert. Weißt Du, von wem das genau ausgegangen ist?

Antwort: 

Ja, das war die Tante Gisela. Diese Tante Gisela, da hatte ich sogar den Eindruck, dass die die jüngste war. Also die muss irgendwie noch ganz jung gewesen sein. Diese Gisela, das war ein Biest, also die schlug auch viel und da war ich auch deshalb irritiert, die sah so nett aus, also ich würd auch sagen, die war eine hübsche Frau, aber die hübsche Ausstrahlung, die sie hatte, die spiegelte sich in ihrem Verhalten gar nicht wider. Die war das auch, die da an mein Bett gekommen war und das mit dem sexuellen Übergriff gemacht hatte. 

Deshalb ist meine Vermutung auch, dass die aus einem Elternhaus kamen, wo entweder der Vater SS-Mann war oder sonst irgendwas, auch ein führender Nationalsozialist oder ziemlich strammer Nationalsozialist, das kann ich mir schon vorstellen. Deshalb interessieren mich auch der Lebenslauf und die Herkunft der Krankenschwestern und Betreuerinnen.

Ich kann zur Dauer meines Aufenthalts noch sagen. Es war ja so, dass von Zeit zu Zeit immer mal wieder ein Kind nach Hause kam, dass es hieß: „Der kommt heute nach Hause“ und dann dachte ich immer, irgendwann müsste ich ja auch dran sein, hab’ mich dann immer damit getröstet „Das Kind, das nach Hause kam, war schon da, als ich gekommen war“. Also das heißt, ich hab’ Gott sei Dank nie erlebt, jetzt kommt ein Kind nach Hause, das erst nach mir gekommen ist. Ich hatte irgendwie immer das Gefühlt, der war schon da, war schon da, und irgendwann mal müsste ich ja auch an der Reihe sein und das zog sich dann irgendwo ewig hin. Und dann hatte eine Betreuerin, das weiß ich noch, Tante Waltraud, die hatte zu mir mal gesagt, da lagen wir schon im Bett, und dann kam die zu mir ans Bett und sagte „Hör’ mal, X.“ – die redeten uns also auch nicht mit dem Vornamen an, was ich natürlich auch nicht sehr kindgerecht fand, die sagten immer nur „X.“ – da sagte die „X., bist Du noch wach?“ Ich sagte „Ja“, da sagte sie „Deine Mutti hat gerad angerufen, ich hab’ ihr gesagt, Du kommst bald nach Hause. Noch vor Ostern kommst Du nach Hause.“ Und ich hatte schon den Eindruck, dass es dieser Tante Waltraud auch Freude machte, dass sie mir mal was Gutes sagen konnte. Und dann brachen aber auf der Station Masern aus, und weil ich Masern hatte, durfte ich doch noch nicht nach Hause. Da kriegten meine Eltern dann auch eine Karte, wo drin stand, es sind Masern, deshalb muss ihr J. doch noch länger bleiben, und er wird’s verkraften können, denn er weiß zwar, dass er bald nach Hause kommt, aber er weiß nicht den Termin. Nur, was die Schwester Irmgard nicht wusste, dass die Tante Waltraud mir gesagt hatte: „Du kommst noch vor Ostern nach Hause.“ Und dann eines Sonntagsmorgens da sagte eine Betreuerin: „Kinder, der Osterhase hat was gebracht!“ Da wurden hinter den Gardinen, hinter den Schränken so kleine Osternester versteckt. Und wir sollten die mal suchen. Und ich stand wie versteinert da, ich sollte doch Ostern zu Hause sein.

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