Forschung muss Betroffenenberichte in den Mittelpunkt stellen
Anja Röhl und Christiane Dienel (Verein Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e.V., AEKV) schrieben eine kurze Einführung und betonen die Bedeutung erzählter Geschichte von Betroffenen.
Einleitung des Verfassers
Seit 2009 sollte der „Runde Tisch Heimerziehung“ in West und Ost eine Vielzahl von Missbräuchen, Gewalttaten sowie daraus folgenden körperlichen und psychischen Schäden mit Langzeitfolgen untersuchen, wertschätzen und zu Entschädigungen vorbereiten.
Das galt auch für die Behindertenhilfe sowie die Kinder- und Jugendpsychiatrie dieser Zeit.
Das Kinderkurwesen der Angestelltenkrankenkassen 1921-1945
Das Kapitel beginnt mit einer kurzen Entwicklungsgeschichte der Vorläufer der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK), innerhalb der Deutschen Angestelltengewerkschaften (DAG). Hierbei wurde auch auf den damals dominierenden Deutschen Handlungsgehilfenverband (DHV) hingewiesen. Dieser war seit den 1890er Jahren völkisch, rechtskonservativ und antisemitisch.
In der Weimarer Republik (1918-1933) entstanden die Kinderkuren als Teil des Gesundheitswesens. Sie wurden von konfessionellen oder privaten Trägern, wie auch von Krankenkassen, angeboten. Weshalb kam es dazu?
Schmuhl nennt die Folgen des Ersten Weltkrieges: Schlechte Ernährung, gesundheitliche Mängel. Viele Kinder waren untergewichtig sowie anfällig für Infektionskrankheiten. Teilweise kamen die Kinder aus unvollständigen und ärmeren Familien. Allerdings waren die Eltern bei der DAK versichert.
Für die DAK gibt es noch weitere Motive, sich auf diesem Feld zu engagieren: Zu nennen ist der Bedeutungszuwachs der Sozialhygiene, also medizinischer Massnahmen zu Vorbeugung, Schutz und Verbesserung der Gesundheit. Aber auch „Kosteneinsparungen“ einer Krankenkasse, die sich einerseits als genossenschaftlich verstand und auf der anderen Seite auch dem Wettbewerb mit anderen Krankenkassen ausgesetzt war (S. 31-33). Denn man dachte, dass die Kinder in den Kuren gesünder würden und damit die Kassen später in finanzieller Hinsicht weniger belasten könnten. Ungeklärt ist die Frage, ob es für Kuren, Personal und Heimausbau auch staatliche Hilfen gab.
Neben der Sorge um die „Kriegskinder“ wurde als eine weitere Gefahrenquelle das Leben in der moderne Großstadt hervorgehoben. Denn dort fehlten den Heranwachsenden angeblich gesunde „Anreize“ wie frische Luft, Sonne und Bewegung, sowie regelmässige und gute Ernährung. Auch deswegen wurde besonderes Gewicht auf die körperlich-medizinische Seite der Kuren gelegt: Gewichtszunahmen und Längenwachstum waren ein wichtiges Thema (S. 31). Über psychische Gesundheit wurde nichts mitgeteilt.
Hintergrund war auch eine damals vorherrschende Zivilisationskritik. Das mündete in einer Großstadtkritik (S. 92f.) sowie der Idealisierung des angeblich einfachen und gesunden Landlebens.
Schon früh tummelten sich in diesem von Ärzten dominierten Bereich, Leute, die dann später im NS-Staat Karriere machten.
Leider hat das Buch eine begrenzte Fragestellung. Das hat auch mit dem Auftrag zu tun. An zwei Stellen der Besprechung möchte ich über die Fragestellung des Buches von Schmuhl hinausgehen und diese mit eigenen Gedanken in Form von Exkursen ergänzen. Das soll die Leistungen sowie den Gehalt der Ergebnisse des Verfassers nicht schmälern..
Schwarze Pädagogik
Im Buch wird einmal kurz die „Schwarze Pädagogik“ erwähnt. Das ist ein Begriff, den Katharina Rutschky (1941-2010) in ihrem gleichnamigen Buch von 1977 geschaffen hatte. Gemeint waren bis heute noch anhaltende „Erziehungspraktiken“ vergangener Jahrhunderte, wie Strafe, Gewalt, Druck, Kontrolle, Demütigung oder mit religiösen Drohungen versehenes Schuldgefühle-Machen. Es würde in dieser Besprechung zu weit führen, alle hieran beteiligte Personen und deren Einflüsse auf die „Erziehungswissenschaft“ bis heute anzuführen. Hinzu kamen noch die seit Mitte des 19. Jahrhunderts sich stärker entwickelnden Ideologien von Rassismus, Antisemitismus, Biologismus. Diese waren verbunden mit Gewalt, Druck und Kontrolle wie auch mit pseudomedizinischen Lehren und technischen Apparaten, um einen neuen und gesunden Menschen „herstellen“ zu wollen. Wohlgemerkt: Das war schon lange vor der Nazi-Diktatur. Denn schon damals gab es Praktiken, Menschen nach „wertvoll“ und weniger „wertvoll“ einzuteilen. Prof. Manfred Kappeler (*1940), einer der „Väter“ des „Runden Tisches Heimerziehung“, hatte dazu im Jahre 2000 ein Buch mit einem sich selbst erklärenden Titel veröffentlicht: „Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen“. Zu den „Schwarzen Pädagogen“ gehört auch Moritz Schreber (1808-1861). Er war ein Arzt und konstruierte Apparate, um Kinder zu gesunder Haltung zu zwingen oder durch Fesselung am Onanieren zu hindern. Der eine Sohn von ihm brachte sich um und der andere, Daniel Paul Schreber, wurde Jurist und erkrankte psychisch. In der Psychiatrie schrieb er das Buch „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Diese Autobiografie diente dann später Sigmund Freud als klassischer Fall für die Psychoanalyse. Der „Schwarze Pädagoge“ Moritz Schreber wurde als Volkspädagoge bekannt. Nach ihm hatte man die Kleingärten für die ärmere Bevölkerung benannt. In Buch und Internet findet man Zeichnungen von Moritz Schrebers „Apparaten“. Im Bildteil von Schmuhls Buch wurden Fotos aus den Kinderkurheimen abgedruckt. Vor allem der „Bestrahlungsraum“ und der „Inhalationsraum“ erinnerten mich an die Erziehungs-Apparate von Moritz Schreber. Das was in den Kinderkurheimen als „Pädagogik“ ausgegeben wurde, war „Schwarze Pädagogik“ in „totalen Institutionen“ (davon später mehr). „Schwarze Pädagogik“ war auch nach 1945 noch dominierend. Aber es gab zur gleichen Zeit auch Strömungen einer „Weißen Pädagogik“, also wertschätzende, freundliche, unterstützende sowie entwicklungsfördernde Umgangsformen mit Kindern.
Zurück zur Buchbesprechung: Schmuhl beschäftigt sich auf den Seiten 37-42 sowie im Bildteil mit der „architektonischen Gestaltung der Kinderkurheime“.
Sichtbar ist die „klare Trennung der Funktionsbereiche, Schlafen, Waschen, Ankleiden, Essen, Spielen, Ruhen – für alle Aktivitäten gab es separate Räume“ (S. 41). Möglichst viele Kinder sollten während der sechs Wochen kostengünstig durch die Heime geschleust und aufgepäppelt werden.
Die weitere Entwicklungsgeschichte der DAK-Kinderkurheime nach 1933 ist einfach erzählt. Die Gewerkschaften und ihre Kassen wurden weitgehend gleichgeschaltet. Man baute die Kinderkuren aus und stellte sie in den Dienst des neuen totalitären Staates. Antisemitismus, Rassenkunde, Nazi-Kult und Führerverehrung kamen noch dazu. Ansonsten musste konzeptionell nicht viel geändert werden.
Nach Schmuhl ging es damals auch um die „Festigung der Volksgemeinschaft“.
„In bewusster Abgrenzung zur modernen Kleinfamilie sollten die Kinder während der Kur in der Gruppe durch die Gruppe erzogen werden“ (S. 50).
Dieser „Bruch mit dem Leben in der Familie“ war beabsichtigt; ging es doch um „Ordnung, Reinlichkeit, Pünktlichkeit, Disziplin, Unterordnung und Kameradschaft“. Das letzte Zitat stammte aus einem Text von 1937. Denn anstelle von Familie sollten Führer und Volksgemeinschaft stehen.
Spätestens seit 1944 musste man das Kinderkurwesen durch die Kriegsfolgen, (Luftangriffe, Flüchtlinge, Beschlagnahme von Heimen) reduzieren und dann ganz einstellen.
Das Kinderkurwesen der DAK 1945-1993
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die soziale und gesundheitliche Situation noch schwieriger als 1918: Kriegswaisen, Flüchtlinge in Massenunterkünften, Unterernährung, Gefahr von Infektionen und Massenerkrankungen.
„Als die DAK im Jahre 1951 beschloss, die Kinderkuren in eigener Regie wieder aufzunehmen, knüpfte sie an drei Jahrzehnte Erfahrungen an“. Außerdem:
„Konzeption, Organisation und Praxis der Kinderkuren ab den 1950er Jahren orientierten sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, weitgehend an den Mustern, die sich zwischen 1921 und 1944 herausgebildet hatten“ (S. 25).
Die Ziele blieben die gleichen. Die Kinder zwischen 4 und 14 Jahren sollten für mehrere Wochen in den Kurheimen aufgepäppelt werden (S. 62).
Auch wurde wieder über die moderne Familie sowie deren verweichlichte Stadtkinder geklagt (S. 94).
Psychische Probleme der Kinder tat man als „Heimweh“ ab (S. 95).
Es war keine grundsätzlich neue „Pädagogik“ notwendig. Denn es gab ja kaum eine alte. Man musste nach 1945 nur die NS-Parolen streichen und schon war man wieder beim Konzept von vor 1933.
Hier möchte ich auf eine Parallele zu einem der meist gelesenen „Erziehungsbücher“ der „Schwarzen Pädagogik“ hinweisen. 1934 veröffentlichte die Ärztin und Hitler-Verehrerin Johanna Haarer (1900-1988) das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Auch nach 1945 gab es bis 1983 Neuauflagen dieses „Bestsellers“. Denn das Buch wurde nach 1945 nur geringfügig „bereinigt“. Es spricht für Schmuhl, dass er als Historiker die Diskussion um dieses Buch kennt (S. 267, Anmerkung 1).
Nach einer kurzen Phase der Bestrafung und Umerziehung weniger führender NS-Täter kamen Millionen von Mittätern und Mitläufern aus Politik, Verwaltung, Justiz, Bildung und Wirtschaft nun als demokratisch reingewaschene Demokraten wieder in ihre Positionen.
Weshalb sollte das beim Kinderkurwesen anders sein?
Das ging umso einfacher, weil es keine ausgefeilte „Kur-Pädagogik“ gab. Nach pädagogischen Konzepten muss man in den Texten suchen. Denn solche hätte man nachlesen, kritisieren und verändern können. Das was als „Pädagogik“ ausgegeben wurde, waren manipulative und gewaltsame Techniken der Massen-Verwahrung sowie Beschäftigung von Kindern durch einen ridigen und unpersönlichen Tagesablauf. Es waren lediglich einige selbstlobende Äußerungen in den Prospekten zu finden. „Kur-Pädagogik“ war auch Disziplinierung und Misshandlung. Diese waren oft in zweifelhafter Weise medizinisch begründet.
Es dominieren bürokratische Abläufe: Antragstellung, Begutachtung, Daten der Anreise, Eigenanteil sowie die „richtige“ Diagnose.
Seit Anfang der 1950er Jahre kam es bei der DAK jährlich zu 10.000 bis 20.000 teilnehmenden Kindern. Ab 1980 gingen die Zahlen langsam zurück. Als Gründe für diese Veränderungen nehme ich die Heimskandale in der damaligen Fürsorgeerziehung, die gesellschaftlichen Veränderungen seit 1968 sowie eine neue Elterngeneration an. Viele Eltern wollten nun mit ihren Kindern die Ferien verbringen. 1989 bis 1993 waren es dann nur noch einige hundert Kinder pro Jahr (S. 78-79). Dann wurde die Arbeit eingestellt.
Theoretischer Rahmen
Schmuhl nennt als Untertitel: Die „totale Institution“ und die Verletzung des Selbst.
Erving Goffman (1922-1982) entwickelte seine Beschreibung „totaler Institutionen“ ursprünglich am Beispiel der damaligen Psychiatrie. Aber sie galt auch für Gefängnisse, Klöster, Militär und Kasernen oder Arbeits- und Vernichtungslager.
Bei „totalen Institutionen“ handelt sich um Einrichtungen auf Dauer oder für einen bestimmten Zeitabschnitt (hier meistens sechs Wochen). Darin werden sämtliche Lebensäußerungen von Kindern umfassend geregelt.
Vorher wurden die Kinder mit falschen Informationen und oft gegen ihren Willen in diese Heime verbracht. Sie trafen auf eine fremde Welt. Denn sie fanden sich in einer neuen und unbekannten Einrichtung mit vielen fremden Kindern und sahen sich einer ebenfalls unbekannten Welt von Aufsichtspersonen, den „Betreuerinnen“ oder „Tanten“ ausgeliefert. Diese verfügten über nahezu totale Macht den Kindern gegenüber. Vorgebliches Hauptziel war es, die Kinder körperlich gesund zu machen. In Wirklichkeit sollten diese sich reibungslosen Betriebsabläufen unterordnen und viele wurden psychisch krank.
Als pädagogische Autorität über dem weiblichen Personal galten vorwiegend männliche Mediziner, die selber nicht am täglichen Leben in den Kinderkurheimen teilnahmen. Sie waren für Diagnosen und Berichte zuständig. Zur damaligen Zeit galten Ärzte als absolute Autoritätspersonen.
Auf diese Weise hatten die Aufsichtspersonen, den Eindruck, dass man ihnen die Verantwortung für ihr Tun abnähme.
In Wirklichkeit ging es darum, die Kinder dem Betriebszweck, der kostensparenden Einordnung, zu unterwerfen. Hierzu wurde eine Reihe von Regeln und Praktiken aus halbmilitärischen Erfahrungen entwickelt, die man, mit Bezug auf die Medizin, als „pädagogisch“ ausgab.
Dabei galt es auch die Individualität, die Lebensfreunde, Neugier und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder zu verringern oder zu zerstören. Denn das Personal nahm auch an, dass die Kinder aus defizitären Familien kämen und dort vernachlässigt oder verwöhnt worden wären.
Die persönliche Geschichte der Kinder, ihre Herkunft und sogar ihre Eltern waren unbekannt und störten. Also wurden die Eltern durch spitzfindige Regeln von Information und Teilhabe ausgeschlossen.
So gesehen handelt es sich bei den Kinderkurheimen um „totale Institutionen“, die Ergebnis eines Politik- und Organisationsversagens sind.
Alltag und Gewalt in den Kinderkurheimen der DAK 1950er bis in die 1980er Jahre.
Neben der bis jetzt behandelten historischen Analyse sind die Befragungen von ehemaligen Verschickungskindern ein Kernstück dieses Buches (S. 136-221).
Es gelang dem Verfasser, zwölf Frauen und fünf Männer für Interviews zu gewinnen.
Die Untersuchungsmethode nennt sich „Erzählte Geschichte“ (oral history).
Alle Befragten waren zwischen 1944 und 1972 geboren und zum Zeitpunkt der (ersten) Verschickung zwischen 4 und 13 Jahren alt (S. 137). Die Gespräche fanden zwischen 2021 und 2022 statt.
Welche Gründe gab es für die Verschickung?
Die meisten Befragten meinten oder erinnerten sich, dass ihre Eltern auf Vorschlag eines Arztes die Kur beantragten. Oft spielten dabei Unterentwicklung, Untergewicht, Fehlernährung oder Wachstumsschäden eine Rolle.
Ein Mädchen kam wegen „Bettnässens“ im Alter von zehn Jahren in ein spezielles Heim für „Bettnässer“.
Von der Bewilligung der Kurs bis zur Abfahrt
Hierzu war eine Fülle von Bürokratie zu erledigen. Einem Antrag folgte ein Vorabscheid mit Angabe des ungefähren Entsendetermins. Es musste ein Sachenverzeichnis angefertigt und Namensschilder in die Kleider eingenäht werden. Weiterhin: Endgültiger Bescheid, ärztliche Bescheinigungen, ein kleiner Rucksack sowie ein Koffer.
Schockstarre: Abschied, Anreise und Zukunft
Die lange Vorbereitung und ein straffer Ablauf lassen kaum Zeit zu Vorbereitung und zum Abschiednehmen. Was dann kam war für viele ein Schock.
Von Teddys und Puppen. Der Umgang mit Übergangsobjekten
Alleine bei diesem Thema zeigt sich das unsensible und unpädagogische Verhalten vieler Betreuerinnen in den Heimen. Oftmals wurden diese persönlichen Sachen während des Aufenthalts weggenommen, teilweise anderen Kindern zugänglich gemacht oder waren endgültig verschwunden.
Natürlich wusste man schon damals auch ohne pädagogische Ausbildung und durch bloßes Einfühlen, wie wichtig diese vertrauten Dinge für die Kinder sind. Waren es doch oft die einzigen „Begleiter“ und „Tröster“ in Einsamkeit und Not. Von wissenschaftlicher Seite wurden Übergangsobjekte (und Übergangsrituale) schon 1953 von Donald Winnicott beschrieben. Im Jahre 1969 erschien die erste Publikation darüber auf deutsch.
Die Tagesstruktur
Von den DAK-Heimen ist ein straffer Tagesplan überliefert. Die Bedürfnisse eines geregelten Ablaufes hatten Vorrang vor der Individualität der Kinder. Beispielsweise musste aufgegessen werden, was auf den Tisch kam. „Drei Interviewpartnerinnen berichteten, dass Kinder, die sich hatten erbrechen müssen, gezwungen wurden, das Erbrochene wieder zu essen“ (S. 167). Manche der heutigen Erwachsenen führten ihre späteren Essstörungen auf diese Erlebnisse zurück.
Derartige Misshandlungen sind auch von den Heimen anderer Träger sowie aus dem Behinderten- und Seniorenbereich dieser Zeit, teilweise bis heute, bekannt.
Kommunikation mit der Familie
Die Post der Eltern wurde geöffnet. Oft hatten Betreuerinnen die Briefe zerschnitten, um an die Briefmarken zu entnehmen. Umgekehrt wurde die abgehende Post der Kinder zensiert oder, wenn diese noch nicht schreiben konnten, mit Standardsätzen versehen und dann von den Betreuerinnen abgeschickt.
Besuche der Eltern in Kinderkurheimen waren auch dann verboten, wenn die Kinder erkrankt waren.
Nachts
Auf Einnässen, Einkoten und Erbrechen folgten oft Strafen. Die Kinder wurden vor den anderen bloßgestellt und bekamen abends nichts mehr zu trinken.
Strafende Betreuerinnen
Körperliche Bestrafungen kamen häufig vor. Die Betreuerinnen hatten schnell unter den Kindern ihre „Lieblinge“. Das führte dann zu einer unkontrollierten Hierarchie von Konkurrenz und Gewalt zwischen den Kindern.
Zwar wurden von einem Theoretiker der Kinderkurheime namens Kleinschmidt körperliche Strafen erst einmal abgelehnt. Aber es könne einem schon einmal „die Hand ausrutschen“. Zusammenfassend schreibt Schmuhl zu diesem Thema: „Die Vorschläge Kleinschmidts lassen erkennen, dass in den Kinderkuren ganz unbefangen das Mittel der öffentlichen Bloßstellung, Beschämung und Entwürdigung angewandt wurde“… (S. 198). Sowie: „Bevorzugte Opfer körperlicher Züchtigungen seien ´drei Italiener`- möglicherweise Kinder der ersten Gastarbeiter – gewesen“ (S. 199). Waren hierbei auch rassistische Sündenbockstrategien im Spiel? (vgl. auch S. 228, Anmerkung 131).
Sexuelle Gewalt
Es wurde von fließenden Grenzen zur sexuellen Gewalt berichtet; etwa bei den „medizinischen Untersuchungen“. Eine Befragte berichtete, dass sie 1979 im Alter von sechs Jahren im DAK-Heim „Haus Hamburg“ (Bad Sassendorf, Westfalen) mehrfach von einem älteren Arzt vergewaltigt wurde. Erst im Jahre 2009 kehrte dieses lange verdrängte Erlebnis im Rahmen einer Traumatherapie wieder in die Erinnerung der nun 37jährigen Frau zurück.
Ich hab´gedacht, ich müsste für immer bleiben
Bekanntlich ist das kindliche Erleben von Zeit anders als das der Erwachsenen. Hinzu kommen noch die oftmals schlechte Vorbereitung und der hastige Abschied. Einige Kinder erleben die Verschickung als eine dauerhafte Trennung von den Eltern und verarbeiteten das so, als ob sie selber „schuld“ seien. Manche führten ihre Beziehungs- und Bindungsstörung im späteren Leben darauf zurück.
Zurück in der Familie
Nach der Heimkehr wurde von den Eltern oft nicht richtig und gründlich nachgefragt. Für manche Kinder war damals etwas zerbrochen: „Ich hab` dieser Familie nie wieder vertraut“ (S. 205). In einem Fall wurde von einem Beschwerdebrief der Eltern an die DAK berichtet. Dieser sei jedoch nicht beantwortet worden. Was sollten Eltern gegen eine Krankenkasse, Betreuerinnen und Ärzte unternehmen?
Ich kämpfe jeden Tag. Langfristige Folgen der Kur
Auf den Seiten 210 bis 220 gelingt Schmuhl eine Meisterstück: Er kann auf diesen wenigen Seiten die vielen Schädigungen der damaligen Kinder kurz und glaubhaft darstellen. Bei 15 der insgesamt 17 befragten Erwachsenen „löst die Erinnerung an ihre Kur starke negative Emotionen aus“ (S. 210): Psychischer Terror, Ekel vor den Speisen mit der Folge von Essstörungen bis in die Gegenwart, Verlustängste, Bindungsstörungen, Minderwertigkeitsgefühle, Schwierigkeiten, sich auf neue Situation und Beziehungen einzulassen (fremde Menschen, neue Arbeit, Urlaub). Man fühlte sich als Außenseiter. „Viele Interviewpartnerinnen und -partner leiden noch immer unter den traumatischen Erinnerungen an die Kur und ringen um ihr seelisches Gleichgewicht“ (S. 220).
Bildteil
Auf den Seiten 231-248 folgt ein Abschnitt mit Bildern der damaligen Zeit. Aus heutiger Sicht könnte man vermuten, dass diese in ihrer Mehrheit manipuliert waren.
Deutlich wurde für mich noch einmal der vorrangig technisch-ärztliche Aspekt der Kuren mit Wannenbädern sowie Bestrahlungs- und Inhalationsraum; ebenso die dargestellten „Körperertüchtigungen“ sowie die Massenunterbringung.
Fazit
Im Zentrum dieser abschließenden 18 Textseiten stehen für Schmuhl zwei Themen:
Zuerst geht es bei ihm nochmals darum, den Blick auf die Gewalt in diesen Heimen zu lenken: Die „körperliche Integrität“ wurde im Kuralltag ständig beschädigt. Es fehlte der persönliche Raum eines jeden Kindes. Es gab einen „entwürdigenden Kommunikationsstil“. Die Gefühle der Kinder wurden verletzt.
„Bettnässer“, „schlechte Esser“ und „unruhige Kinder“ gehörten zu den „bevorzugten Opfern von Gewalt“… (S. 257).
Zu diesem Punkt möchte ich hinzufügen. Da es keine gute oder gar keine psychologische und pädagogische Ausbildung mit Selbstreflexion gab, musste das Personal eigene Spannungen und Unzulänglichkeiten auf die Kinder abwälzen. Dazu eignet sich hervorragend die Projektion von Aggression auf diejenigen Kinder, die pädagogisch-psychologische Hilfe am meisten nötig gehabt hätten, weil sie Probleme hatten und Symptome zeigten. Doch die traf es am Schlimmsten.
Auf der Seite 258 fragt Schmuhl: „Wie repräsentativ sind die Erfahrungen der im Rahmen dieser Studie interviewten Frauen und Männer“? Es folgen einige methodische Überlegungen dazu. Ich persönlich halte diese Ergebnisse nicht nur für die DAK-Heime – sondern auch für andere ähnliche Einrichtungen – als für sehr relevant und verallgemeinerbar.
Das zweite Thema dieses Fazits bezieht sich auf eine „rechtshistorische Betrachtung“.
Bis 1956 durfte ein Lehrherr seine Lehrlinge schlagen. Lehrer konnten bis in die 1970er-Jahre hinein die Kinder „körperlich züchtigen“. Eltern war es erlaubt, ihre Kinder bis zum Jahre 2000 zu prügeln.
Welche Gesetze wurden damals verletzt? Zu nennen wären: Körperverletzung (körperlich und psychisch), Verletzung der Obhutspflicht, Freiheitsberaubung, Unzucht mit Kindern.
Vor allem hatten auch die Jugendämter bzw. Landesjugendämter Rechte der Kinder und Gesetze mißachtet, indem sie durch „Befreiungsverfügungen“ den Heimen einfach einen Freibrief gaben. Dabei war nach Schmuhl „allen Beteiligten“, also Heimen, Fachverbänden, Kostenträgern und den Ämtern klar, „dass die offiziellen Richtlinien in der Praxis nicht eingehalten wurden“ (S. 263).
Meine Schlussbewertung dieses Buches
An wen wendet sich das Buch? Eigentlich an alle, die sich um Aufklärung über dieses sehr dunkle Kapitel dieser Zeit bemühen. Dazu gehören vor allem die heute erwachsenen Opfer, von denen viele noch unter den Folgen dieser „Kuren“ leiden und für ihr Leben geschädigt sind. Viele der Täter und finanziellen Nutznießer werden heute nicht mehr am Leben sein. Das Buch wendet sich auch an Institutionen, welche damals Verantwortung trugen. Denn es ist auch ein Beispiel für Politikversagen, Verwaltungsversagen sowie Organisationsversagen. Manche der damals beteiligten Einrichtungen stehen heute wieder oder immer noch im kritischen Blick der Medien: Politische Entscheidungsträger, Jugendämter sowie kirchliche und andere Betreiber solcher Heime.
Sehr gefallen hat mir, dass Schmuhl sich auch mit pädagogischen und (tiefen-) psychologischen Themen wie „Schwarze Pädagogik“, Bindung oder Übergangsobjekten auskennt. Gleiches gilt für Traumata, also schwere seelische Verletzungen, die unbewusst ein störendes Eigenleben führen können und dann durch spätere Ereignisse wieder wachwerden (Flashback).
Nicht geklärt werden konnte im Buch der Stand der Anerkennung und Kompensation für das geschädigte Leben vieler Tausend Menschen.
Ein Blick in die Zukunft: Damalige Opfer sind schon oder kommen in das Rentenalter. Sind Senioreneinrichtungen, speziell Heime, darauf vorbereitet, mit durch Kinderkurheime traumatisierten Menschen umzugehen? Regulierte Tagesabläufe, Gemeinschaftsessen ja sogar Geräusche und Gerüche können zu Rückerinnerungen beitragen.
Weshalb konnte sich „Schwarze Pädagogik“ so lange halten?
Wie mein erster Exkurs oben haben diese Bemerkungen weniger mit Inhalt und Zielsetzung des Buches zu tun. Sie sind eigene und hoffentlich weiterführende Gedanken.
Ich hatte auch neuere Geschichte studiert und erinnere mich an die 1950er-Jahre als einer Zeit der konservativen Familienpolitik. Die ersten Familienminister der Jahre 1953-69 kamen von der Union und vertraten ein konservatives Bild von der Familie.
Nach den Erlebnissen von Krieg und Vertreibung erfolgte die Verdrängung der schrecklichen Vorgänge durch wirtschaftlichen Aufstieg. Die Kleinfamilie sollte vor den Gefährdungen der Außenwelt geschützt werden. Man war gegen Mütterarbeit. Denn Mütter sollten zuhause bleiben, um sich den Kindern zu widmen. Auch deshalb wurde der Ausbau von Kindergärten und Kindertagesstätten nur zögerlich betrieben.
Doch wie vertrug sich dieses Ideal einer isolierten Kleinfamilie mit der Wirklichkeit der Kinderkurheime?
Wie kam es, dass sich gereinigter Nazijargon bis in die 1990er-Jahre in die Kurkinderheime retten konnte? Weshalb kam es zur Zielverschiebung?
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die soziale und gesundheitliche Situation noch schwieriger als 1918. Kriegswaisen, Flüchtlinge in Massenunterkünften, Patchworkfamilien, Unterernährung, Gefahr von Infektionen und Massenerkrankungen. Das sollte verbessert werden. Je besser es den Familien und Kindern ging, desto mehr rückte die medizinisch-gesundheitlichen Aspekte in den Hintergrund. Allerdings blieb die unmenschliche Umgangsweise mit Kindern
Familie und Eltern stören
Schmuhl schreibt: Der Kontakt der Kinder zur Familie sollte auf „ein Minimum“ begrenzt werden. Und er fährt fort: „sah man doch die Familie eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung an“ (S. 97). Man war der sogenannten „Kindesliebe“ (S. 97) der Eltern gegenüber skeptisch eingestellt.
Sahen die Verantwortlichen die autoritäre Kollektiverziehung der Heime eigentlich als die bessere Welt für die Kinder an und weshalb?
Das Personal
Schmuhl spricht von einem „niedrig angesetzten Personalschlüssel“. Das führte dazu, dass die Betreuerinnen während eines Zwölfstundentages für Gruppen mit bis zu 20 Kindern verantwortlich waren (S. 250). Das war schon damals aus pädagogisch-psychologischen Gründen völlig unzulänglich. Wie konnten die Betreuerinnen die Individualität der Kinder erkennen? Wie sollten sich die Kindern vertrauensvoll, ohne Rivalität, an die Betreuerinnen wenden können? Wie sollen Beziehungen und Bindungen entstehen? Gab es überhaupt Zeit und Raum dafür?
Über die Qualifikation des weiblichen Personals wird wenig gesagt. Es wurde einfach unterstellt, dass diese gut seien. Es handelte sich um Schwestern und Kindergärtnerinnen. Die Älteren waren oftmals noch in der NS-Zeit ausgebildet. Meist mussten sich die Jüngeren fügen. Zwischen 1933-1945 ging es um Unterordnung des Einzelnen unter die Volksgemeinschaft. Selbst wenn moderne Pädagogik und Psychologie bekannt waren, sie wurden kaum praktiziert und gingen im rigiden total organisierten Alltag unter.
Das Personal hatte vielleicht ursprünglich die Motivation, Menschen zu helfen, sie zu erziehen, zu bilden oder irgendwie zu bessern.
Man wurde Kindergärtnerin oder Schwester mit einer kurzen, auf praktische Regeln des Gehorsams bezogenen, Ausbildung. Vermutlich wurden auch Aushilfskräfte und Praktikantinnen eingesetzt.
Der schon damals bekannten Stand der Wissenschaft über Kinderentwicklung oder menschliche Bindungen war in den Kurzausbildungen meistens nicht enthalten.
Wenn doch, so wäre das im rigiden Alltag dieser abgeschlossenen und frauendominierten Sonderwelt verloren gegangen.
Stand des damaligen Wissens
Schmuhl erwähnt auch die Soziologie des Kindes- und Jugendalters. Damals nannte man das „Jugendkunde“ (S. 91).
Im Jahre 1967 erschien von Peter Fürstenau die „Soziologie der Kindheit“. Dabei handelte es sich um eine Zusammenfassung des seinerzeit international bekannten Standes der Wissenschaften aus Pädagogik, Psychologie und Psychoanalyse über Kinder und Jugendliche. Schon damals wusste man Vieles über menschliche Beziehungen und Bindungsforschung. Das hätte man für die Pädagogik der Kinderkurheime seit den 1970er-Jahren auch wissen und können müssen. Aber in der BRD gab es, bedingt durch die NS-Zeit auch eine Leerstelle durch die Emigration und Ermordung von Fachleuten, die oft in Opposition zum NS-Diktatur standen.
Kein Pädagogisches Konzept?
Psychische Probleme der Kinder hatte man als „Heimweh“ abgetan (S. 95). „Bettnässer“ wurden bloßgestellt. Es ist klar, dass es eigentlich kein pädagogisches Konzept gab. Mehrfach erwähnte man die Erziehung durch die Gruppe. Damit ist jedoch nicht das schon damals bekannte und bis heute praktizierte Prinzip aus der Jugendbewegung von vor über 100 Jahren gemeint: „Gruppe führt Gruppe“. Es ging vielmehr um „straffe pädagogische Führung“ (S. 98). Die Kinder sollten zu einer „homogenen Gruppe geformt werden“, und man zielte auf „Gemeinschaftsfähigkeit“ ab (S. 99). Ich halte das für eine autoritäre Kollektivpädagogik.
Subkultur der Gewalt
In autoritären Systemen und totalen Institutionen bildet sich immer dann, wenn die Kontrolle nicht so stark vorhanden ist, eine Subkultur der Gewalt der Kinder untereinander heraus (S. 250). Denn die von „oben“ erzeugten Aggressionen müssen dann nach „unten“, an die Schwächsten, weitergegeben werden. Es wurde berichtet, dass manche Betreuerin sich diese vom System erzeugte Gewalt zunutze machte. Man hatte im Sinne einer „Hackordnung“ einige „Lieblingskinder“. Diese dürften dann die anderen schikanieren.
Versagen der Jugendämter
Damals wie auch heute kam es zum Versagen von Jugendämtern. Dabei war nach Schmuhl „allen Beteiligten“, also Heimen, Fachverbänden, Kostenträgern und den Ämtern klar, „dass die offiziellen Richtlinien in der Praxis nicht eingehalten wurden“ (S. 263).
Eigentlich hatten die Jugendämter die Rechtsaufsicht über diese Heime.
Doch viele Landesjugendämter verzichteten auf eine Kontrolle. Ein Mittel war die sogenannte „Befreiungsverfügung“, wie es auf der Seite 103 am Beispiel des Kreisjugendamtes Soest aus dem Jahre 1961 dargestellt wurde.
Eigenlob und Beschwerden
In einer DAK-Werbebroschüre von 1956 wurde der Brief eines Vaters erwähnt. Dessen Sohn soll in den wenigen Wochen in einem Heim eine Art Wunderheilung erlebt haben (S. 108).
Wie ging man mit Beschwerden um? In den offiziellen Unterlagen fanden sich nach Schmuhl keine Klagen (S. 107). Auf den Beschwerdebrief der Mutter einer Interviewperson wurde seitens der DAK nicht reagiert (S. 207).
Ein ungeklärter Widerspruch
Wie war es möglich, dass so kurz nach der Nazi-Zeit durch Etikettenschwindel eine derartige „Pädagogik“, wieder entstehen konnte?
Ich behaupte: Das war deshalb möglich, gerade weil es kurz nach der Nazi-Zeit geschah. Viele der alten Eliten in Politik, Verwaltung, Justiz, Gesundheit und Bildung waren noch oder wieder da. Hätte man die Anliegen einer gesundheitlichen Förderung der Kinder nicht viel besser und kostengünstiger tagsüber durch ambulante Maßnahmen fördern können?
Es wäre besonderer Forschungen wert, die offizielle und inoffizielle Kommunikation zwischen den Entscheidungsträgern und Aufsichtspersonen um die Kinderkurheime seit 1951 zu untersuchen. Welches waren die Hintergründe? Ging es nur um die Fortsetzung von Bekanntem? Gab es auch direkte oder indirekte Gelder vom Staat? Dann sollte man der Spur des Geldes folgen. Was wurde aus den Vermögenswerten und den Immobilien? Nach den schrecklichen Äußerungen in den Interviews wünsche ich mir, dass diese den Opfern zukommen.
Ergänzung
Soeben erhielt ich eine vierseitige Pressemeldung der DAK-Zentrale vom 26. April 2023.
„Verschickungskinder: DAK-Gesundheit legt Studie vor und bittet Betroffene um Entschuldigung“
Diese Mitteilung ist auch geprägt von Eigenlob: „Als erste Krankenkasse hat die DAK-Gesundheit die Geschichte der Kinderkuren in der Nachkriegszeit aufgearbeitet“.
Es folgen die Namen des DAK-Vorstandschefs, eines Gesundheitsministers aus Baden-Württemberg, die Würdigung einer Professorin sowie ein Lob des Buchautors Prof. Schmuhl. Danach lese ich eine informative Zusammenfassung seiner Studie mit den oben in der Buchbesprechung vorgestellen Ergebnissen.
Gefallen hat mir, dass hervorgehoben wurde: „Es handelte sich eindeutig nicht um Einzelfälle“.
Nicht richtig finde ich, dass von den „pädagogischen Vorstellungen der Erzieherinnen“ gesprochen wurde. Denn nach den mir vorliegenden Texten kann ich keine „Pädagogik“ (ursprünglich „Knabenführung“), sondern nur autoritäre Verwahrtechniken entdecken. Zu einer Pädagogik gehören auch ethisch begründete Ziele für (und nicht gegen) Kinder sowie dafür ausgebildetes Personal. Dieses muss in der Lage sein, mit alltäglichen Praktiken, diese Ziele umzusetzen. Pädagogik meint auch die Nachprüfbarkeit aller dieser Massnahmen durch andere sowie die Möglichkeit, solche Ziele nach einer kritischen Diskussion, zu ändern.
Dann finde ich in der Pressemitteilung den Hinweis, dass es auch zu „massiven sexuellen Übergriffen“ kam. Das klingt für mich verharmlosend: Das Schlimmste war wohl die Mehrfach-Vergewaltigung eines damals sechsjährigen Mädchen durch einen „Kur-Arzt“.
Geärgert hat mich der letzte Satz: „Besonders stark betroffen, so die in der vorliegenden Studie vertretene These, waren Kinder, die keine sichere Bindung zu ihren Eltern hatten – hier wurden schon bestehende Beziehungsmuster verfestigt und verstetigt“.
Weshalb kritisiere ich diesen Satz? Langfristige Bindung und häufig kürzere Beziehungen sind nicht das gleiche.
Wenn ich den ersten Teil des von mir kritisierten Satzes nehme, heisst das im Umkehrschluss: Weniger stark betroffen waren Kinder, die eine sichere Bindung zu ihren Eltern hatten. Soll das bedeuten, dass ihnen, weil sie angeblich so gut gebunden waren, die Gewalthandlungen weniger oder nichts ausgemacht hatten? Schmälert oder entschuldigt das die Gewalttaten und Rechtsverletzungen?
Ich komme zu meiner Zusammenfassung. Starker Anfang: Der Beginn der Pressemitteilung ist stark. Die Nachfolger einer Täter-Organisation bitten um Entschuldigung. Dazwischen kommt viel Aufklärung. Das ist gut so. Ist auch werbewirksam für die DAK.
Schwacher Schluss: Am Ende steht sinngemäß die Aussage, dass die Heime vor allem für Kinder schlimm waren, die schon von zuhause aus keine sichere Bindung zu ihren Eltern hatten. Weshalb hatten diese Eltern ihre Kinder überhaupt geschickt oder sich zur Verschickung drängen lassen? Selber schuld?
Weder damals noch heute konnten die DAK und der Historiker wissen, wer sicher gebunden ist und wer nicht. Soll das ein halber Freispruch durch die Hintertür sein? Wieviele Stunden mögen Fachleute der DAK an dieser Pressemitteilung gefeilt haben? Auch beim Schuldeingeständnis zeigt eine Organisation ihre Macht.
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der Forschungsbericht von
Marc von Miquel: Verschickungskinder in NRW Herausgegeben vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) NRW. 2022.
Dieser Bericht ist im Internet frei zugänglich und auch auf der Homepage des MAGS sowie des AVK einsehbar.
Verschickungskinder berichten über ihre Erlebnisse
Für viele Opfer war es wichtig, den Ort des Grauens wieder zu finden und sich mit Anderen über ihre Erlebnisse auszutauschen.
So entstehen Bücher oder Erfahrungsberichte. Bei den Verschickungskindern (AVK) NRW werden Kurse zum Schreiben sowie Veröffentlichen der eigenen Erlebnisse angeboten.