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Tatort Klinik Aprath Impressionen eines bewegenden Tages

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Autoren/Redaktion: Bastian Tebarth + Maria Dickmeis

Fernsehen, Hörfunk, Zeitung, Online: Pressevertreter aller Medien begleiteten die Betroffenen mit viel Rücksichtnahme und großem inhaltlichen Interesse. Unser Pressesprecher Bastian Tebarth hat die Begegnung mit Offiziellen aus Wülfrath, der Presse und dem neuen Besitzer der ehemaligen Klinik akribisch vorbereitet. Mit großem Erfolg.

Foto: Maria Dickmeis

Eröffnungsrede von Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW

Foto: M. Dickmeis

Detlef Lichtrauter auf der Pressekonferenz im Rathaussaal Wülfrath  am 26.02.2024. Der AKV-NRW e.V. hat eingeladen.

Der 26. Februar 2024 ist ein besonderer Tag für die Aufarbeitung der Geschichte der Verschickungskinder in NRW. Wir freuen uns sehr, dass wir hier heute  begleitet werden von Bürgermeister Rainer Ritsche, Dezernentin Michaele Berster, Stadtarchivar Dr. Axel Bayer, Martin Sträßer, MdL, CDU Wülfrath, Ilona Küchler, Ratsfraktion DIE LINKE Wülfrath und Adelheid Heiden, Vorsitzende des Bürgervereins Wülfrath. Nach Jahrzehnten kehren an diesem Februarvormittag Menschen an einen Ort zurück, der wie ein Schatten über ihren Kindheitserinnerungen liegt. Dieser Tag und die Erfahrungen und Erkenntnisse, die wir heute miteinander teilen, werden auch in den Runden Tisch eingehen, der in einer Woche, am 5. März wieder in Düsseldorf tagen wird. Schwerpunkt der Sitzung wird das Handeln der Ärzteschaft in den Diagnoseverfahren und in den Verschickungs-Heimen sein. Vom heutigen Tag senden wir bereits ein Signal in Richtung der Verantwortlichen, das unmissverständlich ist: Die Zeit für eine umfassende Aufarbeitung ist jetzt. Dazu braucht es einen Fonds, in den alle Verantwortlichen einzahlen, und aus dem langfristig unsere Angebote für Betroffene und die Arbeit von internen und externen Wissenschaftler:innen finanziert werden können.

Foto: M.Dickmeis

Spurensuche: Beatrix ist ein Jahr alt, als sie nach Aprath verschickt wurde. 60 Jahre bewahrt sie eine Postkarte. Ihr Schlafsaal ist darauf markiert. „Ein Bild, das ich habe ist, dass ich liegend durch weiße Stäbe in einen weißen Raum blicke. Zeitlebens habe ich es gehasst, im Bett noch liegen bleiben zu müssen, wenn ich nach dem Schlafen morgens aufgewacht bin. Dann fühl(t)e ich mich wie festgebunden“

Von hier aus ist das Schlafzimmer-Fenster zu sehen, in dem Beatrix ein Jahr verbringt.“Was ich noch erinnere, sind Gerüche“, sagt sie.

Foto: Bastian Tebarth

Aprath - Ein Ort des Grauens

Die hier versammelten Betroffenen erlebten als Klein- und Kleinstkinder, Kinder und Jugendliche eine Welt des Grauens, die ihnen aufgrund der hohen Verweildauer in Aprath zu einer alternativlosen „zweiten Heimat“ wurde. Die Betroffenen waren in der Lungenklinik mindestens drei Monate zur Behandlung, oft waren es mehr Monate, manchmal weit über ein Jahr. Die Dauer des Aufenthaltes richtete sich nach dem Fortschritt der Behandlung und die Heilung von Tuberkuloseerkrankungen, derentwegen die meisten in Aprath waren, war langwierig. Bei Säuglingstuberkulosen galten 1956 gar 60 Monate Behandlungszeit für medizinisch angezeigt.

Dass die Kinder nicht nur eine möglicherweise zeittypische, also einfach eine nur „nicht-kindgerechte“ Welt erleben mussten, davon zeugen die Erinnerungsberichte der Betroffenen, die in Aprath zwischen 1954 und 1984 waren. Wie in den meisten Verschickungsheimen, herrschte auch in der Klinik Essenszwang. Erbrochenes musste aufgegessen werden, Hauptsache beim wöchentlichen Wiegen stimmte die Gewichtszunahme. Denn die war Teil des Kurerfolgs. Wehe wenn nicht, dann gab es Extraportionen.

Prof Nando Beladi, Foto: Michael Millgramm

Nando Belardi, em. Univ.-Prof. für Erziehungswissenschaft auf der Pressekonferenz im Rathaus Wülfrath:

Die frühe Trennung von Eltern und Kindern war unpädagogisch, das war damals schon wissenschaftlich nachgewiesen; der Personalschlüssel „Tanten“- Kinder viel zu niedrig.  Die Folgen: Lieblosigkeit, Gewalt, willkürliche Bestrafungen. Gewichtszunahme galt als Kurerfolg: Mastkuren, Erbrochenes Aufessen-Müssen waren an der Tagesordnung. Das war eine vielfache Verletzung damaliger Gesetze.

Welche Folgen haben die Erfahrungen der Betroffenen für sie und die nachfolgende Generation? Und: Wer waren die wirtschaftlichen Nutznießer des „Verschickungs-Systems? Was den Betroffenen in den Verschickungsheimen angetan wurde, das war:  „Strukturelles Staats-, Behörden- und Organisationsversagen“.

Das Heimregime in Aprath war einschüchternd, teilweise schlicht brutal. Den Berichten folgend, gingen die Schwestern und Betreuerinnen, die von den Kindern „Tanten“ genannt werden mussten, oft sehr gewalttätig mit den Kindern um. Demütigen und Schläge gehörten zur Tagesordnung. Die Kinder standen permanent unter dem Druck, nichts „Falsches“ zu tun, denn Strafen wurden auch willkürlich verhängt. Verunsicherung und Angst bestimmte den Alltag der Kinder. Die Liegekuren wurden besonders konsequent umgesetzt, die Kinder viele Stunden am Tag fixiert – vormittags und nachmittags jeweils 2-3 Stunden, dazu kam noch die Mittagsruhe, bei all dem durften nicht gesprochen werden. Eine Betroffene hat uns erzählt, dass sie in ihrer Not mit anderen Kindern eine Zeichensprache erfunden hätte, um so miteinander doch kommunizieren zu können.

Reporter: „Warum wurde man geschlagen?“

Joachim:  „Man wusste es nicht…..“

Joachim, im Gespräch mit Pressevertreter auf dem ehemaligen Klinikgelände. Er ist 1963 als Vierjähriger für ein Jahr nach Aprath verschickt worden.

Foto: Maria Dickmeis

Betroffene erinnern sich auch an sexuelle Übergriffe: Eiskaltes Abspritzen der Genitalien mit einem abgepressten Gartenschlauch gehörte zu Beginn der 1970er an den sogenannten „Duschtagen“ dazu, nächtliche Besuche durch Betreuerinnen, bei denen Kinder mitunter weitgehend enthemmt zu ihrer sexuellen Befriedigung missbraucht wurden, ebenso. Das aggressive sexualisierte Verhalten nicht weniger Frauen in Aprath zwischen 1954 und 1984 deutet auch auf den eklatanten Mangel an Kontrollwillen seitens der Klinikleitung. Die Täterinnen hatten offenbar wenig Angst davor, dass ihr Handeln auffliegen und sanktioniert werden könnte.

 

Euch wird keiner helfen, auch eure Eltern nicht, denn die haben euch schließlich in die Klinik gebracht, weil ihr ansteckend seid. Deswegen wollen die Eltern euch auch nicht zurück haben.

Foto M. Millgramm

Besonders perfide erscheint die ausgeübte psychische Gewalt. Den Kindern wurde eingetrichtert, dass sie nie wieder nach Hause kämen, wenn sie nicht gehorchten. Und auch von ihren Eltern sollten sie keine Hilfe erwarten, schließlich hätten die sie ja in die Klinik gebracht. Ein Betroffener, der als 9-jähriger noch Mitte der 1980er Jahre in Aprath wegen TBC behandelt wurde, brachte den repressiven Umgang des weiblichen Personals mit den Kindern und Jugendlichen so auf den Punkt: Den Kindern hätte der „Willen gebrochen“ werden sollen. Derart gefügig gemacht, erlitten vieler der TBC-Patient:innen im Kinder – und Jugendalter massive Vertrauensverluste. Dem medizinischen Personal sowieso, aber auch den Eltern und oft ganz allgemein der „menschlichen Natur“ gegenüber. Nicht wenige berichten von psychischen und psychosozialen Folgeschäden, die ihr Leben bestimmt hätten: Bindungsschwäche, Depression, wiederkehrende Ohnmachtsgefühle, Verlust von Lebensfreude.

Die Historikerin Carmen Behrendt und eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Fangerau haben eine intensive Zusammenarbeit zwischen Klinik und dem Pharmaunternehmen Bayer mindestens bis Beginn der 1960er Jahre zutage gebracht…Das ist für viele der hier anwesenden Betroffenen eine große Belastung.

 

Foto: M.Millgramm

Sigrid. Als 11jährige 1971 für vier Monate nach Aprath verschickt. Sie erfuhr erst vor wenigen Wochen, dass sie nicht alleine mit ihrer Erinnerung ist. Unerschrocken stellte sie sich auf dem ehemaligen Klinikgelände der Presse.

Nie mehr Opfer!

Als Kinder hatten wir keine Lobby, niemanden der unsere Interessen und Bedürfnisse geschützt hätte. Unser Wort, unsere Qualen zählten nicht. Das belastet viele von uns bis heute. Dennoch stellen wir uns hier in Aprath diesen belastenden Kindheitserlebnissen. Das tun wir auch und besonders für alle, die nicht dabei sein können. Kein von Kinderverschickung-Betroffener, keine Betroffene soll sich mehr alleine fühlen müssen.  Und: Wir  erwarten eine umfassende Aufarbeitung der bundesdeutschen Verschickungsgeschichte durch die Verantwortlichen.

Stellvertretend für alle Aprath-Betroffenen, spricht Sigrid zum Abschluss der Pressekonferenz. Die Community stand ihr in tiefer Solidarität zur Seite. 

 „Unsere Aufgabe ist, laut zu sein, so laut, dass man uns nicht überhört. Das Gegenteil von damals“.

Foto: M.Millgramm

Impressionen von der Ortsbegehung mit Fotos von Michael Millgramm, Maria Dickmeis und Bastian Tebarth

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