Sigrid Röder liest in Aprath aus dem Vorwort ihrer bisher unveröffentlichten Buchs
Wenn man krank ist, braucht man gute körperliche Pflege und seelische Geborgenheit, um gesund zu werden. Das gilt vor allem für kranke Kinder.
Glauben Sie das?
Ich habe es geglaubt. Bis ich als Kind an Lungentuberkulose erkrankte und in eine Heilstätte eingewiesen wurde.
Seither glaube, ja, weiß ich, dass man auch aus Angst gesund werden kann. Und seit dieser Zeit weiß ich auch, dass es Schlimmeres gibt als eine offene TB. Viel Bedrohlicheres. Und mit weniger Aussicht auf eine vollständige Heilung.
Eine eigene Welt, die an verschlossenen Stationstüren endet und in der befremdliche, grausame Gesetze herrschen. Wo Pflegepersonal seine Macht missbraucht und ein Regime der Willkür führt.
Eine Heilstätte für Organe, die zur Folterkammer für zarte Kinderseelen wird. Unbemerkt und mit System. Mitten in Deutschland, mitten im 20. Jahrhundert.
Eine Brutstätte für Traumata, die einem unauslöschlich in Herz und Hirn pflanzen, was Ohnmacht, Angst, Isolation und Verlassensein wirklich bedeuten.
Wenn man es richtig anstellt – und die Schwestern von Station III haben es richtig angestellt – braucht es für diese Lektion nur vier Monate, damit man es ein Leben lang nicht mehr vergisst.
Ich bin nun 50 Jahre älter als damals. Die Krankenschwestern und deren Helferinnen müssten mittlerweile tot oder hochbetagt im Ruhestand sein.
Gottseidank.
Ob sie allerdings ihre Ruhe gefunden haben, wage ich zu bezweifeln.
Wir Kinder und Jugendlichen, die in dieser UNHeilstätte gefangen und der Willkür ausgesetzt waren, finden vermutlich so lange keine Ruhe, bis die Mauer des Schweigens gebrochen ist. Das Geheimhaltungsgelübde, das wir unseren Peinigern gegenüber ablegen mussten, es gilt nicht mehr. Wir müssen Zeugnis ablegen, um auch die unsichtbaren Stationstüren aufzuschließen, endlich der wahren Freiheit entgegen.
Dieses Buch soll unsere echten Entlassungspapiere sein, die uns wieder hinaus ins Leben führen. Denn damals haben wir alle gemerkt, dass der große Tag, an dem wir wieder „nach draußen“ dürften, eine bittere Erkenntnis bereithielt: Wir waren frei, aber wir gehörten nicht mehr dazu. Wie waren zu Fremden in der Heimat geworden. Fremd uns selbst und unseren tatenlosen Angehörigen, ja, der ganzen hochgelobten heilen Welt gegenüber.
Wir mussten still sein, damals.
Nicht nur bei den täglichen Liegekuren bei jedem Wetter auf dem Balkon. Auch auf den Fluren, in den Zimmern.
Leise oder gar nicht sprechen. Das mussten wir. Und wir wurden still. Eine Stille, die in uns schrie.
Aber, meine Brüder-und-Schwestern-im-Leid, heute müssen wir laut zu sein. Sehr laut. So laut, dass man uns hört.
Für euch und für alle, die als „Verschickungskinder“ ähnliches erlebt haben in Kurheimen oder Heilanstalten, aber auch für alle Eltern, die ihre Kinder vor solchen Erfahrungen bewahren wollen, und nicht zuletzt für mein eigenes, inneres Kind, das in der Erinnerung zittert, habe ich dieses Buch geschrieben.
Gewiss auch für alle Ausführenden und Verantwortlichen des bundesdeutschen Gesundheitswesens, damit Geschichten wie diese wirklich nur der Vergangenheit angehören. Und damit Stätten der Heilung nie mehr zu Tatorten werden.
Ein hehres Ziel und weit entfernt.
Denn es ist gleichsam auch eine allzu leicht übertragbare Geschichte über die Macht und deren Missbrauch. Und das findet wohl auch heute noch hinter unzähligen verschlossenen Türen und noch mehr verschlossenen Ohren und Augen statt: in Kinderheimen, in Familien, in Ghettos – hier wie überall auf der Welt. Das Leid, das dort produziert wird, wird auf Schultern aller Hautfarben geladen. Und nicht selten sind es gerade die schmalen, zarten Schultern, die den schwersten Anteil zu tragen haben.
Aber es ist auch eine Geschichte des Mutes, der Solidarität und menschlichen Anpassungsfähigkeit, die selbst in scheinbar ausweglosen Situationen Überlebensnischen sucht und findet.
Und es ist eine Geschichte über das Glück.
Wie oft fragen wir uns, was Glück eigentlich ist und merken nicht, dass allein die Fragestellung zeigt, dass es uns bereits gefunden hat. Wir sehen es nur nicht. Denn im Leid, im täglichen Überlebenskampf fragen wir nicht, sondern wissen, was Glück sein kann. Wir erkennen es in all seinen unendlich vielen Gestalten: Ein Brief, ein gutes Wort, eine ungestörte Nachtruhe, ein Ausgang für zwei Stunden in vier Wochen…
©Sigrid Röder/Sigi Strohschen, Germany
1997/2000/2024
Euch wird keiner helfen, auch eure Eltern nicht, denn die haben euch schließlich in die Klinik gebracht, weil ihr ansteckend seid. Deswegen wollen die Eltern euch auch nicht zurück haben.
So oder ähnlich erinnern Betroffene grausame Drohungen der Betreuerinnen.