Lena Gilhaus im Kölner Literaturhaus

 

Lena Gilhaus las am 15. November 2023 im Kölner Literaturhaus aus ihrem Buch „Verschickungskinder. Eine verdrängte Geschichte“. Mitgebracht hatte die Journalistin auch Ausschnitte aus ihrem ARD-Dokumentarfilm „Verschickungskinder – Missbrauch und Gewalt bei Kinderkuren“. Zur Lesung hatte der Verein AKV-NRW e.V. geladen, der erste Vorsitzende Detlef Lichtrauter moderierte den Abend. 

Von Bastian Tebarth

Der Saal des Kölner Literaturhauses war voll. Viele waren gekommen, um Lena Gilhaus lesen zu hören. Das Buch war im Juli 2023 im Kiepenheuer & Witsch-Verlag erschienen. Sogar ihr Lektor war angereist. Das Publikum war gemischt: Neben älteren Betroffenen hatten sich auch nicht wenige jüngere Menschen eingefunden. Darunter auch einige, die vorher noch nicht viel von Kinderverschickungen gehört hatten.

Das zeigt wie aktuell das Thema ist. Viele junge Menschen erleben heute Situationen in Sportvereinen oder Ferienlagern, die Ähnlichkeiten zu denjenigen in den Kinderkuren aufweisen. Und es gäbe, so Gilhaus, immer noch Reha-Einrichtungen, in denen Kinder auf Strukturen treffen, die womöglich denen in Kinderheilanstalten ähneln. Dass sich heutzutage so viele Menschen zu ihren Gewalterfahrungen äußern, sieht Gilhaus als Chance.

„Man spricht bei den Verschickungskindern und ihren Kurerfahrungen mittlerweile vom #MeToo der Babyboomer.“

Eine verdrängte Geschichte

Viele dieser Babyboomer, also Menschen der Generation mit Geburtsjahrgängen 1946-1964, haben lange geschwiegen über ihr Kinderkurerfahrungen, stellte Lena Gilhaus zu Anfang heraus. Das habe auch oft mit den Eltern der Verschickungskinder und dem in den 1950er und 60er Jahren herrschenden Erziehungsideal zu tun.

"Kinder sollten sich nicht anstellen und funktionieren. Bei den Eltern herrschte eine große Obrigkeitshörigkeit."

Auf Spurensuche 

Ausgangspunkt von Gilhaus’ Buch ist die Geschichte ihres Vaters, Matthias Vollmer, und ihrer Tante. Beide waren bei der Lesung zu Gast. Verschickt waren die Geschwister Ende der 1960er auf die Insel Sylt, in ein Privatheim, das heute nicht mehr existiert. An viele der Kinderkurheime knüpfen sich Erinnerungen an grausame Erziehungsmethoden. Auch Matthias Vollmer und seine Schwester haben dort schlimme Erfahrungen gemacht.

Oft werde darauf verwiesen, so Lena Gilhaus, dass die Erziehungsmethoden Überbleibsel der Nazizeit gewesen seien. Doch ging die Schwarze Pädagogik nur teilweise auf die Ideologie der Nationalsozialisten zurück, wie Gilhaus betonte. 

„Die in den Kinderkurheimen herrschende Pädagogik hat tiefe Wurzeln. Sie ist Ausdruck einer von Männern dominierten Kinderheilkunde aus der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert."

Kaltherzigkeit und Disziplin gehörten zu deren Repertoire, körperliche Züchtigungen wurden als unumgängliches Mittel angesehen. Es gab auch Todesfälle, weil es an Aufsicht mangelte, berichtete Gilhaus. Und das bereits bei den Zugfahrten: Sie habe zwei Fälle aus den frühen 1950ern recherchiert, bei denen Kinder aus dem Zug gefallen wären, als sie allein auf die Toilette hätten gehen wollen – standardmäßig fuhr bei den Sonderfahrten nur eine Begleiterin mit, die vermutlich mit der Betreuung der großen Kindergruppen überfordert war, und die eingesetzten Züge wären ihren Nachforschungen zufolge oft sicherheitstechnisch mangelhaft ausgestattet gewesen.

Aufarbeitung: Warum erst heute?

In der lebhaften Diskussion nach der Lesung ging es vielen im Publikum um die Frage, warum es erst nach so vielen Jahren zu einer Aufarbeitung kommt. Dass sich viele Menschen erst Jahrzehnte später ihrer eigenen Geschichte öffnen, habe, so die These einer Betroffenen, auch mit Scham zu tun. Viele Kinder hätten Demütigungen erlebt, Erfahrungen, von denen viele dachten, das nur sie allein sie gemacht hätten. Erst nachdem sich immer mehr Menschen in Foren geäußert und in Vereinen organisiert hätten, entwickelten viele den Mut, sich ihren seelischen Verletzungen zu stellen.

Auch Matthias Vollmer ging es ähnlich. Erst als seine Tochter begonnen hätte, ihm Fragen zu stellen, wäre langsam die Bereitschaft gestiegen, sich mit seiner Kindheitserfahrung aus der Kur zu beschäftigen.

„Ich brauchte dazu eine starke, vertrauensvolle Bindung, wie ich sie zu meinem eigenen Tochter oder zu meiner Partnerin habe, um mich diesem Schamgefühl aus Kindheitstagen zu stellen.“

Der Abend hat wieder deutlich gemacht, wie wichtig die Aufarbeitung der Kinderverschickungen ist. Aus der Geschichte zu lernen, ist ihr wichtigstes Ziel. Darin waren sich alle Anwesenden einig.

„Die Rückmeldungen an Lena und mich zur heutigen Lesung waren alle positiv. Die Betroffenen haben sich gesehen gefühlt."

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