Der vierte Bundeskongress »Das Elend der Verschickungskinder« wurde von der bundesweiten Initiative Verschickungskinder veranstaltet, unter Beteiligung des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW“.
Neueste Forschungsergebnisse, gegensätzliche Emotionen und eine Überraschung, die Hoffnung macht.
Von Bastian Tebarth
Der 4. Fachkongress »Das Elend der Verschickungskinder«, fand vom 15.-18. September 2022 im westfälischen Bad Sassendorf statt. Er brachte nicht nur neue wissenschaftliche Erkenntnisse, es ließen sich auch Erfolge vermelden und alte, wie neue Herausforderungen identifizieren.
An vier Tagen wurden richtungs- und zukunftsweisende Beiträge aus Wissenschaft und Bürgerforschung präsentiert, intensive Gespräche geführt und das solidarische Miteinander gestärkt. Am Ende forderte die Initiative in einer offiziellen Erklärung die Bundesregierung auf, endlich ihrer Verantwortung bei der Aufarbeitung der Kinderverschickungen gerecht zu werden. Und der AKV-NRW e.V. konnte einen ersten Schritt in Richtung einer angemessenen Gedächtniskultur in Bad Sassendorf verkünden.
Warum der Kongress in Bad Sassendorf stattfindet
Der Bürgermeister Malte Dahlhoff begrüßte die Teilnehmer des vierten Kongresses »Das Elend der Verschickungskinder« im westfälischen Bad Sassendorf mit den folgenden Worten: „Mittlerweile ist klar, dass auch hier an diesem Ort schlimme Dinge passiert sind.“ Das Kinderkurwesen in Bad Sassendorf ist vergleichsweise gut erforscht. Es liegen bereits mehrere Arbeiten vor, die über das Leid berichten, das auch hier unzähligen Kindern widerfahren ist. Während ihrer Kur in Bad Sassendorf erlebten viele Kinder Demütigungen, Schläge, Zwangsmaßnahmen und sexuelle Gewalt. In seiner Begrüßungsrede bekannte sich der Bürgermeister Dahlhoff zu der Verantwortung des Soleheilbads bei der Aufarbeitung. Er unterstrich, dass die Misshandlungen, die Kinder in Bad Sassendorf erlebt haben, unentschuldbar seien.
Vorbildliche Zusammenarbeit
Was die Forschung zum Kinderkurwesen in Bad Sassendorf anbelangt, sind in den vergangenen Jahren Wissenschaftler der Universität Münster und Mitarbeiter des örtlichen Museums Westfälische Salzwelten eine beispielgebende Kooperation eingegangen. Sie haben Zeitzeugeninterviews geführt, Akten ausgewertet und Quellen recherchiert. Dass Bad Sassendorf einer der wichtigsten Kinderkurorte in Nordrhein-Westfalen war, bezeugen Zahlen, die diese Forschung beispielsweise ans Tageslicht gebracht hat. In den 1950ern etwa besuchten den westfälischen Ort im Rahmen einer Kurmaßnahme etwa 5000 Kinder pro Jahr. Die Kinderverschickung war damit einer der bedeutendsten regionalen Wirtschaftsfaktoren und Sassendorf entwickelte sich rasch zu einem Zentrum für Kinderkuren.
NRW als Vorreiter
Zur offiziellen Eröffnung des erstmals in NRW stattfindenden Kongresses waren auch Abgeordnete des Landtags aus Düsseldorf gekommen. Dr. Dennis Maelzer, familienpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und Vertreter des Landkreises Lippe, bekräftigte einmal mehr die Notwendigkeit der Aufarbeitung: „Kinderverschickung war zu lange kein Thema für die Politik, keins für die Öffentlichkeit“. Die ebenfalls angereiste stellvertretende Vorsitzende des Kinder- und Jugendausschusses der CDU-Fraktion, Charlotte Quik, betonte in ihren Grußworten, dass sie weiter die Initiative der Betroffenen unterstützen werde.
Christian Fritsch, zuständiger Referent im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales betonte die Vorreiterrolle des Bundeslandes NRW in Punkto Aufarbeitung der Kinderverschickungen. Er wies darauf hin, dass es bislang an Nachahmung mangelt. „Wir hoffen, dass wir mit der Installation eines Runden Tischs, eines Archivgipfels und einer Studie zum Medikamentenmissbrauch beispielgebend für andere Landesregierungen sein werden.
Erfolge und Herausforderungen
Die Gründerin der bundesweiten Initiative der Verschickungskinder Anja Röhl machte deutlich, dass sie an ihrer Forderung einer Unterstützung durch den Bund festhalten möchte. Sie wies aber auch auf die Fortschritte hin, die seit 2019 erreicht werden konnten: „Mittlerweile sind unabhängige Wissenschaftler von 10 verschiedenen Universitäten mit Forschungen zum Thema beschäftigt.
Darüber hinaus haben wir ein Archiv mit mehr als 10.000 Zeitzeugen-Berichten geschaffen. Und bislang haben 40.000 Menschen die Petition unterschrieben, in der der Bund aufgefordert wird, die Aufklärung zu unterstützen. 90 % der Unterzeichner gaben an, selbst Betroffene zu sein“.
„Nährboden für eine Subkultur der Gewalt“
Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl verglich in seinem Vortrag die Struktur der Kinderkuren mit anderen pädagogischen und pädiatrischen Einrichtungen. Der Historiker identifizierte in allen Heimformen ein „sehr hohes Maß gleichförmiger Gewalt“. Des Weiteren kündigte Schmuhl für das Jahr 2023 seine Veröffentlichung über das Bad Sassendorfer Kinderkurheim „Haus Hamburg“ an.
Warum hat man uns als Kindern in der Erholungskur Gewalt angetan?
Weil Pädagogen, Mediziner und Politiker Eltern misstrauten, dass sie ihren Nachwuchs alleine gesund großziehen können, mussten Kinder in Verschickungsheimen leiden. Der Historiker Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl ordnet die Verschickungen in das Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit ein.
„Alles war in den Kinderkuren darauf ausgerichtet“, berichtete Dr. Lena Krull, „den Tagesablauf einzuhalten“. Die Forscherin von der Universität Münster gab einen Einblick in ihre Arbeit zu Bad Sassendorf als einem der Zentren der Kinderkuren in NRW. Ihrer Einschätzung nach kann man bei der dortigen Kinderheilanstalt der Inneren Mission „in den 1950er- und 60er-Jahren von einer »totale Institution« im Sinne der Konzeption des Sozialpsychologen Erving Goffman sprechen. Die Kinder wurden aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und komplett in die Logik der Kurheime eingegliedert“.
Kinderverschickungen in Kinderkurheime in Bad Sassendorf
Die Historikerin Dr. Lena Krull von der Universität Münster hat die Geschichte der Kinderkurheime in Bad Sassendorf erforscht.
Verwahren statt Heilen?
Wichtige Impulse für weitere Ursachenforschung ergeben sich auch aus der aktuellen Arbeit von Prof. Dr. Marc von Miquel. Der Historiker und Geschäftsführer der “Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger” (sv:dok) hat zur Verschickung tuberkulöser Kinder geforscht. Von Miquel stellte heraus, dass es auch beim Kinderkurwesen zur Heilung von Tuberkulose Formen „rigiden Verwahrens“ und einem „Mikrokosmos der Gewalt“ gekommen sei.
Julia Todtmann berichtete über ihre Forschung zu Kinderkuren in der DDR. Die Historikerin zeigte strukturelle Parallelen zum Kinderkurwesen in der BRD auf, wies aber auch darauf hin, dass es viele Unterschiede gab: So waren etwa körperliche Strafen in der DDR bereits 1949 als Erziehungsmittel in pädagogischen Einrichtungen verboten (in der BRD erst 1973). Berichte über physische Gewalt waren entsprechend in DDR-Kinderkurheimen tendenziell weniger oft zu finden.
Langzeitfolgen der Verschickung
Die Psychologin und Professorin an der University of California, Irvine, USA, Dr. Ilona Yim, gab einen Einblick in ihre Arbeit über die Folgen von verschickungsbedingten Kindheits-Traumata: Menschen mit Verschickungsgeschichte haben laut Studien von Prof. Yim „ein stark erhöhtes Risiko für Depressionen“ und andere Langzeitschäden.
Was Bürgerforschung leisten kann
Bei der von Prof. Dr. Christiane Dienel moderierten Podiumsdiskussion sprachen Dr. Stefan Schröder, Corinna Keunecke, Prof. Dr. Ilona Yim, Dr. Sylvia Wagner, Julia Todtmann und Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl über die Besonderheit von betroffener Bürgerforschung, die Schwierigkeiten der Forschungsfinanzierung und die nötigen nächsten Schritte in der Aufarbeitung der Kinderverschickung. Dienel und Wagner hoben die Stärken der Bürgerforschung und der akademischen Forschung aus Betroffenen-Perspektive hervor. Prof. Dr. Schmuhl wies daraufhin, dass betroffene Forschung auch wissenschaftlichen Standards genügen kann. Alle Podiumsteilnehmer beklagten die bisherige mangelhafte finanzielle Ausstattung der Forschung. Die Pionierarbeit etwa von Dr. Sylvia Wagner im Bereich der Erforschung von Medikamentenmissbrauch in Kinderkuren geschah jahrelang ohne Bezahlung. Erst vor kurzem erhielt sie eine Förderung durch das Land NRW für eine Medikamentenstudie.
Erinnern statt vergessen
Im abschließenden Plenum konnte die stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Vereins AKV-NRW, Maria Dickmeis, eine Überraschung verkünden. Der Verein hatte während des Kongresses Gespräche mit Bürgermeister Dahlhoff über einen möglichen Gedenkort für Verschickungskinder in Bad Sassendorf geführt. Die Gespräche waren konstruktiv und lassen auf eine angemessene Umsetzung hoffen. Dieser erste Erfolg in Richtung einer angemessenen Erinnerungskultur in NRW wurde von den anwesenden Kongressteilnehmern mit viel Applaus gewürdigt.
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