Wenn ein Mensch traumatisiert ist, spüren es auch diejenigen, die ihm nahestehen. Kinder, Partner, Freunde – sie leben mit den unsichtbaren Folgen vergangener Verletzungen, oft ohne zu wissen, woher sie rühren.
Als uns die tief berührende E-Mail erreichte, wollten wir mehr über die Geschichte dahinter erfahren und baten um einen ausführlichen Bericht.
In seinem Text „Aprath im Gepäck – Biografie eines Verschickungskindes – “ schildert ein Sohn eindrucksvoll, wie die verdrängte Vergangenheit seines Vaters erst im Alter ans Licht kam – und wie der Aufenthalt in dem Verschickungsheim beide geprägt hat.
Beginnen möchte ich den Bericht über das Leben meines Vaters, der im November 2024 gestorben ist, mit einem Ereignis, ohne welches wir seine Vergangenheit in dieser Form überhaupt nicht kennengelernt hätten.
Aufgrund seines ungesunden Lebensstiles hatte mein Vater im Sommer 2017 in seiner damaligen Heimat Berlin einen körperlichen und geistigen Zusammenbruch erlitten.
Als völligen Pflegefall holten meine zwei Brüder und ich ihn daraufhin zu uns in die Nähe in ein Pflegeheim. Kurioserweise kam er innerhalb von einem halben Jahr wieder so gut auf die Beine, dass er in eine eigene Wohnung ziehen konnte. Ab dieser Zeit begann er sein Leben aufzuräumen. Er verbrachte sehr viel Zeit damit in seiner Vergangenheit zu forschen und alte Erinnerungen hervorzuholen. Sein Kurzzeitgedächtnis war zwar ein bisschen langsam und manchmal auch durcheinander, aber das Langzeitgedächtnis funktionierte einwandfrei.
Was wir bis dahin nicht wussten: Als Kind war unser Vater für acht Monate in einem Verschickungsheim untergebracht. Er hatte in der Folge sein Leben lang mit Depressionen zu kämpfen.
Bei dem Zusammenbruch in Berlin schien auch eine depressionsauslösende Funktion im Gehirn zerstört worden zu sein, denn er sprach bei seinen Erinnerungen sehr offen und aufgeräumt über die tiefschwarzen Gedanken und den Wunsch, morgens einfach nicht mehr aufwachen zu müssen und auch über seine Zeit im Verschickungsheim. Mein Vater meinte immer, diese offene und befreiende Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit mit „Kopftraining“ hinbekommen zu haben. Ich gehe jedoch nach wie vor davon aus, dass bei dem Zusammenbruch etwas in seinem Gehirn passiert sein muss. Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.
Aufgewachsen ist mein Vater in normalen dörflichen Strukturen als drittes von insgesamt sechs Kindern. Sein Vater war als Fallschirmspringer im Zweiten Weltkrieg an der Front eingesetzt, wobei natürlich traumatische Erlebnisse hängengeblieben sind. Nachts hat er geschrien, um sich getreten und musste geweckt werden. Gesprochen wurde aber über das Erlebte nie. Sein Leben und Umfeld strukturierte er klar. Dabei stand die Familie jederzeit an erster Stelle. Die Mutter meines Vaters war eine einfache, sehr herzliche Frau, bei der alle Menschen jederzeit willkommen waren. Für Schicksalsschläge hatte sie immer ihre eigene Erklärung: „Das hat der liebe Gott so gewollt“.
Im Alter von sieben Jahren musste mein Vater für acht Monate in die Lungenheilanstalt Aprath, wobei er sich an eine Lungenkrankheit oder Ähnliches nicht erinnerte. Sein Vater konnte oder durfte nur etwa einmal im Monat für ein paar Stunden zu Besuch kommen. Seine Mutter hingegen hatte wegen kleiner Kinder zu Hause nie die Möglichkeit dazu. So wie ich es aus Erzählungen anderer Betroffener und aus seinen Erinnerungen rückschließen konnte, ging es in der Anstalt wohl weniger um die Behandlung von Lungenleiden als vielmehr um Medikamenten-Testungen, Ansteckungsverhalten und Impfungen mit teilweise harten Erziehungsmethoden und Bestrafungen.
In dieser Zeit sind sicherlich auch die Depressionen und Suizidgedanken entstanden. Sein erster Suizidversuch fand nach seinen Erzählungen bereits während seiner Zeit in Aprath mit Hilfe eines dort befindlichen Lastenaufzuges statt, welcher im Gegensatz zu heutigen Aufzügen keinerlei Sicherungen hatte. Er wurde aber von einer Krankenschwester gefunden und hatte seiner Erinnerung zufolge auch keine Bestrafungen erhalten. Es wurde einfach unter den Tisch gekehrt.
Nach dem Aufenthalt wurde meinem Vater eingetrichtert, nicht über das Erlebte zu sprechen. An die Aussage „Sprich nicht drüber, dann ist das auch schnell vergessen“ hat er sich fast sein Leben lang gehalten. Mein Vater und ich hatten nach Onlinetreffen mit weiteren Betroffenen eigentlich vorgehabt, über seinen Aufenthalt in Aprath einen Erfahrungsbericht zu schreiben, wozu wir aber leider nicht mehr gekommen sind. Von daher habe ich auch nicht allzu viele Informationen über diese Zeit. Ich wollte ihn auch nicht zu sehr befragen, da ich Sorge hatte, was da alles zum Vorschein kommen könnte.
Nach dem Abitur studierte mein Vater Islamwissenschaften in Hamburg und Frankfurt sowie ein Semester in Istanbul. In der Studienzeit unternahm er zahleiche Reisen, oft auch wochenlang. Hauptsächlich ging es in den Nahen Osten in Länder wie z.B. Türkei, Iran, Israel, Saudi-Arabien, aber auch kreuz und quer durch Süd- und Nordeuropa.
Aus dieser Zeit erzählte er immer wieder von einem Erlebnis bei einer Reise in die Türkei. Mit einem damaligen Freund, der ebenfalls schwer depressiv war, unternahm er eine Klettertour an einem steilen Felsen. Aufgrund der Steilheit des Felsens war die Aufstiegsroute als Rückweg ausgeschlossen und sie waren sich einig, dass es auch ok gewesen wäre, wenn die Klettertour „schiefgelaufen“ wäre. Er konnte mir anhand eines ausgedruckten Fotos der Gegend genau erklären, wo sie hochgeklettert waren.
Dieser damalige Freund hat sich ein paar Jahre später mit dem Jagdgewehr seines Vaters das Leben genommen.
Aufgrund von fehlenden beruflichen Perspektiven hat mein Vater sein Studium nie beendet und stattdessen als Volontär bei der Frankfurter Rundschau eine journalistische Laufbahn eingeschlagen. Mit seinem damaligen Vorgesetzten wechselte er nach Hagen zur Westfälischen Allgemeinen Zeitung, wo er zunächst als Chefredakteur eine Lokalzeitung aufgebaut hat. Bei unseren Ausflügen mit dem Auto in seinen letzten Jahren durch seine alten Wirkungsstätten konnte er mir immer genau sagen, wer damals Bürgermeister der jeweiligen Kommunen war, welche heimischen Unternehmer maßgeblich in Gesellschaft und Politik aktiv waren, oder wer sonst noch als treibende Kraft an der Entwicklung der Kommunen (mehr oder weniger selbstlos) beteiligt war.
In der Zeit um 1988/89 wechselte er nach Bonn als leitender Journalist der Politiksparte der
Westfalenpost. Hier traf er sich regelmäßig mit allen möglichen Politikgrößen aus der damaligen Zeit, war bei Staatsempfängen vor Ort und begleitete auch diverse Auslandsreisen. Besonders stolz berichtete er von einem Hinterzimmertreffen mit dem engsten Berater des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und einigen Journalisten am Abend vor der Maueröffnung. Dieser Berater berichtete von gesicherten Informationen aus dem Osten, dass am nächsten Tag die Grenzen geöffnet werden sollten.
Keiner der Anwesenden schenkte diesen Aussagen Glauben. Selbst Helmut Kohl nicht, denn er machte sich zu einem Staatsempfang nach Warschau auf. Mein Vater allerdings fuhr am nächsten Morgen nach Berlin und konnte so als einer der ersten westlichen Journalisten „live“ von der Maueröffnung berichten.
Ein paar Tage später kam er mit einigen Bruchstücken der Mauer wieder, die dann überall bei uns im Haus verteilt wurden.
Nebenbei betrieb mein Vater einen Verlag, über den er zahlreiche Bücher publizierte. Sehr erfolgreich waren z.B. Jahresrückblicke mit einem bekannten Karikaturisten und Bildbände, bei denen er Städte und Inseln von „oben und unten“ näher betrachtet hat, wobei seine Fotografien aus der Luft damals eher unbekannte Perspektiven boten. Auf der Insel Sylt hatte er 1989 hierfür einen Flugschein für Sportflugzeuge gemacht.
An den Fluglehrer hatte er intensive Erinnerungen. Mein Vater war sich sehr sicher, dass dieser ebenfalls mit Depressionen zu tun hatte. Er hatte mit ihm waghalsige Luftmanöver getestet. Zum Beispiel hat er ihn in einer der ersten Flugstunden angewiesen, den Steuerknüppel so zu betätigen, dass letztlich ein Looping dabei herauskam.
Von ihm kamen auch Sätze wie: „Da unten siehst du das Leben, aber nur hier oben lebst du“. Er hatte ihm auch den Hinweis gegeben, niemals in ein Tal zu fliegen, da die Berge schnell näherkommen und das Tal immer enger wird. Kurz nach der bestandenen Flugprüfung hatte sein Fluglehrer einen tödlichen Flugunfall in den Bergen. Mein Vater war sich sicher, dass dies kein Unfall war.
Im Zusammenhang mit seinen eigenen Suizidgedanken erzählte mein Vater von einem späteren Flug in der Heimat, bei dem er absichtlich in eine starke Gewitterfront geflogen ist. Für ihn war der Flugschein immer so eine Art Absicherung, jederzeit einen sicheren Abgang machen zu können.
In gleicher Weise fühlte er sich auch in Hochhäusern „sicher“.
Bei der Zeitung gab es damals einen Vorgesetzten, mit dem er menschlich große Schwierigkeiten hatte (und der ihm seine Mauerberichterstattungen nie gegönnt hatte), weshalb er sich auch länger krankschreiben lassen musste. Sein damaliger Hausarzt diagnostizierte ihm erstmalig eine Depression. Dies hatte mein Vater aber für sich behalten und sich auch nicht weiter darum gekümmert, sondern mit seiner sogenannten „Veltins-Therapie“ (den Begriff wählte mein Vater später selbst) weitergemacht. Der besagte Hausarzt war meines Wissens der einzige Arzt, dem es jemals gelungen ist, einen Zugang zu meinem Vater zu finden. Durch den Aufenthalt in Aprath hatte er nämlich eine regelrechte Arztphobie entwickelt. So ließ er sich im Zuge einer Blutvergiftung im Fuß von seinem Hausarzt zu Hause operieren. Auch traf er eines Nachts trotz kritischem Zustand die Entscheidung, sich aus einem Krankenhaus in Berlin selbst zu entlassen – nach professioneller Eigendiagnose.
Nach Ende seiner Tätigkeit bei der Zeitung machte er weiter Verlagsarbeit und ging freien journalistischen Tätigkeiten nach. Da er sich aber immer weiter hängen ließ, hatte er praktisch kein Einkommen mehr und meine Mutter hatte große Mühe, sich und uns Kinder zu versorgen. In dieser Zeit kam mein Vater auf die glorreiche Idee, eine Weltreise machen zu müssen: über Dubai, Hongkong, Neuseeland, die Cook-Inseln, San Francisco und Miami.
Besonders schwärmte er später von den Eingeborenen auf den Cook-Inseln, mit denen er sich über Fragen des Lebens ausgetauscht hatte. Auch hatte er hier aus Spaß einen Führerschein gemacht, den er danach auch immer bei sich gehalten hat. Als die Rettungssanitäter und Polizei meinen verstorbenen Vater nach seinem Sturz auffanden, war es das einzige Dokument, welches in seiner Wohnung vorhanden war.
Nach dem Scheitern der Ehe meiner Eltern zog mein Vater mit dem damaligen Wechsel des Regierungssitzes nach Berlin. Hier hielt er sich nach einer Privatinsolvenz mit kleineren
journalistischen Tätigkeiten über Wasser und ging hierfür regelmäßig im Bundestag ein und aus. Auch machte er eine Reportage über einen Junkie, bei der er es sich nicht hat nehmen lassen, sich selbst mal Heroin zu spritzen. „Einfach mal ausprobieren. Was soll mir denn schon passieren?“. Mein Vater meinte, er sei erst nach zwei Tagen wieder zu sich gekommen. Bei der Begleitung des Junkies in seinem Alltag ist er von der Polizei als mutmaßlicher Dealer observiert und mit einer Pistole am Kopf unsanft verhaftet worden.
Hin und wieder überraschte mich mein Vater mit weiteren interessanten Erzählungen seiner Tätigkeiten. So war er etwa als Berater eines Abgeordneten im Landtag NRW angestellt. Hier hatte er auch dem damaligen NRW-Familien- und Integrationsminister Armin Laschet beratend zur Seite gestanden. Es ging dabei um das Thema „Verpasste Integration in Berlin“ und was in diesem Zusammenhang nach Einschätzung meines Vaters auf NRW zukommen würde.
Die Weltoffenheit und Neugier meines Vaters zeigten sich z.B. auch darin, dass er bei Großereignissen wie der Loveparade, dem Christopher-Street-Day oder etwa der Ankunft der Fußballweltmeister 2014 immer in erster Reihe mit vor Ort war. Bei der Verhüllung des Reichstages, welchen er aus auch der Luft fotografierte, konnte er ein paar Sätze mit dem Künstler Christo und seiner Frau wechseln und auch beim Umbau des Reichstages hielt er mit Stararchitekt Norman Foster einen Smalltalk.
In der damaligen analogen Welt der Fotografie und Kommunikation war mein Vater immer auf der Höhe der Zeit, hatte hochwertige Ausrüstungen und konnte schwarz-weiß Fotos auch selbst entwickeln. Jedoch hatte er, bedingt durch seine depressiven Phasen die aufkommende rasante Wende zur digitalen Fotografie und Korrespondenz komplett versäumt und konnte dementsprechend im Journalismus nicht mehr Fuß fassen.
Wir Söhne konnten irgendwann nur noch darauf warten, dass es eines Tages zu einem Zusammenbruch o.Ä. kommen würde.
Grundsätzlich waren wir ihm aber nie böse, sondern hatten schon so eine Vermutung, dass da eine Krankheit hinter stecken könnte. Auch unsere Mutter hat uns zu keinem Zeitpunkt gegen unseren Vater aufgehetzt, sondern einfach nur den Kontakt abgebrochen und versucht, uns ordentlich ins Leben zu bringen (Was ihr glaube ich auch ganz gut gelungen ist). Meine Mutter sagt jedenfalls bis heute, dass die Zeugung seiner Söhne das Beste ist, was er in seinem Leben gemacht hat.
Bei einem früheren Vorfall in Berlin, als mein Vater der Meinung war, er könne von einem auf den anderen Moment auf Alkohol verzichten, erlitt er einen Kreislaufzusammenbruch und musste im Krankenhaus behandelt werden. Nach dem Aufenthalt folgten ein Entzug und eine Entgiftungskur. Im Anschluss daran versuchte einer seiner Brüder, ihm durch die Stellung einer Wohnung und die Gründung einer Firma, für welche mein Vater journalistische Arbeiten erledigen sollte, wieder ins geregelte Leben zu verhelfen.
Meinen Vater zog es jedoch schnell wieder nach Berlin, wo er gleich wieder in seine alten Muster verfiel: der Hingabe seiner depressiven Gedanken und dem Genuss von Brauereiprodukten. Das führte im familiären Umfeld natürlich zu Frust und Enttäuschung und auch zu einer abweisenden Haltung. Wir Söhne hatten nur alle paar Wochen mal mit ihm telefoniert und uns max. einmal pro Jahr persönlich getroffen.
Nach dem anfangs beschriebenen Zusammenbruch 2017 und dem darauffolgenden zeitweiligem Aufenthalt im Pflegeheim kam dann die große Aufräumarbeit. Der Alkoholismus und auch die Depressionen waren nun keine Belastung mehr. Es war erstaunlich, wie offen er über die Depressionen und Suizidversuche gesprochen hatte. Eigentlich waren es kein richtigen Versuche gewesen, sondern eher ein „Antesten“, durch das er die Gewissheit erlangte, es jederzeit richtig durchziehen zu können.
Es gelang meinem Vater sehr gut (und zunehmend besser), nach und nach Erinnerungen aus seinen früheren Zeiten hervorzuholen. Er war auf diese Erfolge seiner „Kopfarbeit“ sehr stolz und erzählte immer mit Begeisterung davon. Allerdings gab es eine Zeit in seiner Kindheit, an die er trotz großer Bemühungen zunächst nicht herankommen konnte. Er sprach von einer dunklen Wolke oder Kugel, in die er nicht eintauchen konnte. Mit der Zeit stellte er mir Fragen wie „Hast du schon mal was von dem Ort Aprath gehört?“ oder „Da muss es irgendeine Heilanstalt geben“. Ich hatte dann auch den Ort unter dem Begriff Heilanstalt recherchiert und erstmals etwas zum Thema Verschickungskinder gehört bzw. gelesen. Anfangs hatte ich große Sorgen, was da alles zum Vorschein kommen könnte und dass mein Vater durch die wieder erlangten Erinnerungen aus dieser Zeit in depressive Verhaltensmuster zurückfallen könnte. Er erzählte aber sehr offen und klar über das, was ihm so nach und nach wieder über seine Zeit im Verschickungsheim einfiel. Es belastete ihn nicht im Geringsten. Vielmehr war er sehr froh, dieses Thema nach all den Jahren der Verdrängung aufarbeiten zu können.
Mit großer Begeisterung hatte mein Vater in den letzten Jahren alle möglichen Rückblicke und Dokus aus vergangenen Zeiten im Fernsehen verfolgt. Er konnte sich immer bestens an die jeweiligen Ereignisse erinnern. Besonders lebhafte Erinnerungen hatte er an die Zeit um Woodstock, Willy Brandt, Axel Springer, Rudi Dutschke und die 68er Proteste, die er auch aktiv unterstützt hatte. Auch hat er sich gerne die ganze Nacht symphonische Konzerte angehört. Als Jugendlicher hätte er sich sich gut vorstellen können, Klavier zu lernen. Da die Ausbildung aber sehr lange gedauert hätte und er depressionsbedingt keine langfristigen Pläne machen wollte, hatte er das niemals ernsthaft in Erwägung gezogen.
Mein Vater hat immer den Ausdruck „Selbstmord“ gemieden. Ein Mord hat in der Regel etwas mit Heimtücke, Rache o.Ä. zu tun. Ein Suizid hingegen ist ein selbstgewählter Tod, welcher für den Betroffenen ein befreiender Abgang ist.
Auch hatte er immer davon gesprochen, nochmal ein Buch herauszubringen. Zum einen hatte er schon länger ein Werk mit dem Titel „Wie gesagt“ vorbereitet, in dem er historische Zitate mit eigenen Fotos aus Politik und Gesellschaft humorvoll und hintergründig kombiniert hat. Leider sind die Verlage heutzutage nicht mehr auf eine handgeschriebene Zettelsammlung mit aufgeklebten Fotos eingestellt.
Zum anderen wollte er über seine Depressionen und sein Kopftraining schreiben, mit denen er die schwarzen Gedanken in den Griff bekommen hat. Der Titel sollte sein: „Der Tod hat nicht gesiegt“. Das Leben läuft leider schon mal anders als geplant, aber dieser Tod, den mein Vater in einem Buch beschreiben wollte, hatte ja tatsächlich nicht gesiegt.
Nach einem tragischen Ereignis, bei dem ich einen Nachbarn erhängt aufgefunden habe, war mein Vater unglaublich hilfreich, weil er mir sehr viel über suizidale Gedankengänge, Verhaltensweisen und auch zu Vorbereitungen eines selbstgewählten Abgangs erklären konnte.
Der Tod meines Vaters kam sehr plötzlich. Er ist einfach im Bad umgekippt und erst am nächsten Tag von seinen Nachbarn gefunden worden. Wahrscheinlich war ein Schlaganfall, Herzinfarkt o.Ä. die Ursache.
Trotz der Trauer über seinen plötzlichen Tod sind wir sehr dankbar, dass er vorher noch seine Vergangenheit aufräumen konnte und vor allem auch mit ihr im Reinen war. Er ist als glücklicher Mensch gestorben.
Schlussendlich glaube ich, dass die letzten sieben Jahre für meinen Vater die Besten seines Lebens waren.
Da er und auch wir Söhne immer einen großen Bezug zu der Insel Sylt hatten, bzw. haben, war für uns sofort klar, dass es eine Seebestattung in der Nordsee werden wird. Und so konnten wir ihn im April 2025 mit einer sehr schönen, emotionalen und würdevollen Zeremonie dem Meer vor Sylt übergeben.
E-Mail an einen Verteiler mit Betroffenen des Verschickungsheims Aprath vom 10.03.2025
Hallo liebe Aprather,
ich bin H., der Sohn von B.H., der 1957-58 im Alter von 7-8 Jahren für 8 Monate in Aprath war.
Ein paar von euch kennen meinen Vater aus 2 Online-Treffen, an denen er teilgenommen hatte.
Leider muss ich euch mitteilen, dass mein Vater ist im November 2024 im Alter von 74 Jahren gestorben ist. Er ist im Badezimmer so gestürzt, dass keine Hilfe mehr möglich war. Wahrscheinlich auf Grund eines Herzinfarktes, Schlaganfall o.Ä..
Ich möchte euch einen kleinen Einblick in das Leben meines Vaters geben, weil ich denke, dass es euch als Leidensgenossen interessieren könnte.
Sicherlich bedingt durch den Aufenthalt in Aprath, hatte er eigentlich sein ganzes Leben lang mit Depressionen zu kämpfen und auch Suizid-Gedanken gehabt. Es gab ein paar kritische Situationen, in die er sich begeben hatte, bei denen es ihm egal war, wenn es „schiefgelaufen“ wäre.
Mein Vater hätte niemals eine therapeutische Behandlung oder Beratung für sich gewinnen können, da er sich immer schön an den damaligen Ratschlag gehalten hat: „Sprich nicht darüber, dann ist das auch schnell vergessen“. Stattdessen hat er sich mit dem Genuss von Brauerei-Produkten das Leben erträglicher gemacht. Selbst meine Mutter, seine Geschwister oder geschweige denn wir als Kinder hatten nie etwas von seinen Depressionen mitbekommen.
Nach einem kompletten Zusammenbruch im Sommer 2017 in Berlin auf Grund seines ungesunden Lebensstiles, haben wir ihn in ein Pflegeheim zu uns in die Nähe geholt. Zum Glück hatte mein Vater sich sehr schnell so gut gebessert, so dass er im Februar 2018 in eine eigene Wohnung gehen konnte.
Ab dieser Zeit hatte er nach und nach sehr offen und reflektiert über seine Depressionen, Suizid-Gedanken und auch die Zeit in Aprath gesprochen, an die er sich äußerst detailliert erinnern konnte.
Ich gehe davon aus, dass bei seinem Zusammenbruch in Berlin irgendeine depressionsauslösende Funktion im Gehirn kaputt gegangen ist, denn es war schon sehr ungewöhnlich, dass er so offen und aufgeräumt über seine Vergangenheit gesprochen hatte, was er bis dahin nie getan hat.
Dieses „Aufräumen“ in der Vergangenheit war für ihn zwar ziemlich anstrengend, aber es hat ihn nicht belastet, sondern im Gegenteil, er konnte auf seine Art damit einen Frieden schließen.
Für meinen Vater waren die Online-Treffen unglaublich hilfreich, da ihm dabei noch klarer wurde, dass er mit dem Thema nicht allein ist, und er auch in den Erzählungen der anderen so viele Parallelen wiedererkannt hat. Dieses war für seine persönliche Aufarbeitung sehr hilfreich.
Wir wollten eigentlich über die Zeit in Aprath einen Erfahrungsbericht schreiben, aber manchmal läuft das Leben halt etwas anders als geplant.
Schlussendlich glaube ich, dass die letzten 7 Jahre für meinen Vater die Besten seines Lebens waren!
Von daher bin ich trotz der Trauer über seinen Tod einfach nur dankbar, dass er als glücklicher Mensch kurz und schmerzlos gestorben ist und mit seiner Vergangenheit im Reinen war.
Wir werden meinen Vater am 14.04. vor der Insel Sylt seebestatten, da er immer eine große Nähe zu der Insel hatte.
Für die weitere Aufarbeitung wünsche ich euch alle Kraft, die ihr braucht und viel Erfolg.
Weiter wünsche ich euch allen von ganzem Herzen, dass ihr einen Weg findet, mit eurer Vergangenheit einen Frieden schließen zu können.
Mit den besten Grüßen
H.


