Frühe Erlebnisse von Kinderverschickung Betroffener und ihre Folgen
Von Klaus J. Schmidt-Bucher, M.A., Psychotherapeut/ Psychotraumatologie
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In der Zeit zwischen 1950 und 1990 wurden rd. 10 Millionen Kinder bundesweit zu Kur- und Fachklinikaufenthalten verschickt.
Die Aufenthalte gingen oftmals mit vielfältig belastenden Erlebnissen einher. Die Betroffenen berichten u.a. von seelischer und körperlicher Gewalt, sexuellen Übergriffen, unmenschlichen Erziehungsmethoden und Strafen. Unter günstigen psychosozialen Bedingungen konnten diese Lebensbelastungen verarbeitet werden. Das war aber häufig nicht der Fall (1, S. 193). In der Regel wurden die Erlebnisse familiär und gesellschaftlich verschwiegen; die Kinder selbst hatten keine Worte für ihr Leid. Und im Leben der von der Kriegs- und Nachkriegszeit betroffenen Eltern hatten die Erlebnisse ihrer Kinder keinen Raum.
Die Psychotraumatologie hat mittlerweile eine Fülle von Erkenntnissen gewonnen, um die Biografien von Menschen mit belastenden Kindheitserfahrungen besser zu verstehen. So wissen wir heute, dass, „wer traumatischen Stress in Kindheit und Jugend erlebt und erlitten hat, … häufiger nicht nur seelisch, sondern auch körperlich krank (wird)“ (2, S. 435).
Verschickungskinder erfuhren meistens mehrfach traumatisch wirkende Erlebnisse. Eine der umfassendsten Studien zur Wirkung solcher Erfahrungen, die „Adverse Childhood Experiensces (ACE)-Study“ von Vincent J. Felitti und Robert F. Anda, untersuchte detailliert belastende Kindheitsereignisse (ACE´s) und ihre gesundheitlichen Folgen (3). Die Anzahl der Kindheitsbelastungen wurde in „ACE-Punkten“ erfasst. „Es bestand eine eindeutige Beziehung zwischen den ACE-Punkten und der Gesundheit Erwachsener 50 Jahre nach den Belastungen.“ (2, S. 437). Die Betroffenen litten signifikant häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt unter Depressionen und Angsterkrankungen, Lebererkrankungen, Herzkreislauferkrankungen und chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen. Ab vier ACE´s war das Risiko einer koronaren Herzerkrankung verdoppelt, das Krebsrisiko 1,9-fach, das Schlaganfallrisiko 2,4-fach und das Diabetes-Risiko 1,6-fach erhöht. Das Risiko für Depressionen erhöhte sich um das 4,6-fache.
Und das noch Jahrzehnte nach den Ereignissen.
Die ACE-Studie wurde mittlerweile mehrfach weltweit bestätigt.
So zeigte u.a. eine Studie zu Verdingkindern, dass sich das Risiko einer pathologischen Entwicklung nach Kindheitstraumatisierung um das 5- bis 20-fache erhöht. Dabei wird insbesondere auf die Folge „schlechterer Gesundheit und Alltagsbeeinträchtigungen“ (4, S. 9) verwiesen.
Es ist anzunehmen, dass hierfür eine dauerhaft erhöhte Ausschüttung des das physiologische Stresssystem aktivierenden Hormons Cortisol relevant ist, die zur Zunahme von Entzündungsprozessen und einer langfristigen Schwächung des Immunsystems führt.
Glaesmer et al., die auch auf ein erhöhtes Risiko dementieller Veränderungen, beschleunigter Alterungsprozesse und verkürzter Lebenserwartung bei in der Kindheit Traumatisierten verweisen (5, S. 266), konstatieren: „Traumatisierungen können zum Teil biografisch weit zurück liegen und werden deshalb oft als Ursache für psychische und körperliche Symptome nicht beachtet oder übersehen. Sie begleiten viele Betroffene über ihr Leben als chronische Verläufe, aber auch als Traumareaktivierung im Alter und haben deshalb auch Bedeutung in der Medizin des alternden Menschen, in der Altenpflege und in der Gerontopsychiatrie.“ (5, S.272 f.)
Bei anhaltenden seelischen und körperlichen Erkrankungen sind daher auch im höheren Lebensalter Diagnostik und Therapie kindlicher Traumatisierungen als mögliche verursachende und aufrechterhaltende Bedingungen indiziert.
Literatur
1 Röhl, Anja (2021), Das Elend der Verschickungskinder
2 Seidler, Günter H., Freyberger, Harald J., Maercker, Andreas (Hrsg.) (2011), Handbuch der Psychotraumatologie
3 Felitti VJ, Anda RF, Nordenberg D, et al.: Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading causes of death in adults: The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study. Am J Prev Med 1998; 14: 245–58 CrossRef
4 Krammer, Sandy, Simmen-Janevska, Keti, „Studie über die langfristigen Folgen potenziell traumatischer Erfahrungen – am Beispiel der Verdingkinder“, in Aware Magazin für Psychologie, FS11
5 Glaesmer, Heide, Sierau, Susan, Böttche, Maria, „Die Konsequenzen traumatischer Erfahrungen. Eine Lebensperspektive“, in „Trauma & Gewalt“ 14
Zur Vertiefung, eine Auswahl aktueller Studien
Korrelation zwischen Trauma und körperlichen & somatischen Erkrankungen in der NAKO Gesundheitsstudie
Klinger-König J, Erhardt A, Streit F, Völker MP, Schulze MB, Keil T, Fricke J, Castell S, Klett-Tammen CJ, Pischon T, Karch A, Teismann H, Michels KB, Greiser KH, Becher H, Karrasch S, Ahrens W, Meinke-Franze C, Schipf S, Mikolajczyk R, Führer A, Brandes B, Schmidt B, Emmel C, Leitzmann M, Konzok J, Peters A, Obi N, Brenner H, Holleczek B, Moreno Velàsquez I, Deckert J, Baune BT, Rietschel M, Berger K, Grabe HJ:
Childhood trauma and somatic and mental illness in adulthood—findings of the NAKO health study.
Dtsch Arztebl Int 2024; 121: 1–8.
DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0225
Bindung und die Entwicklung somatischer Symptome nach Gewalt in der Kindheit
Greenman, P. S., Renzi, A., Monaco, S., Luciani, F., & Di Trani, M. (2024, January).
How does trauma make you sick? The role of attachment in explaining somatic symptoms of survivors of childhood trauma.
In Healthcare (Vol. 12, No. 2, p. 203). MDPI.
https://doi.org/10.3390/healthcare12020203
Negative Kindheitserfahrungen und Kopfschmerzen im Erwachsenenalter
Sikorski, C., Mavromanoli, A. C., Manji, K., Behzad, D., & Kreatsoulas, C. (2023).
Adverse Childhood Experiences and Primary Headache Disorders: A Systematic Review, Meta-analysis, and Application of a Biological Theory.
Neurology.
DOI: https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000207910
Verbindung zwischen negativen Kindheitserfahrungen und Multipler Sklerose
Rehan, S. T., Khan, Z., Shuja, S. H., Salman, A., Hussain, H. U., Abbasi, M. S., … & Surani, S. (2023).
Association of adverse childhood experiences with adulthood multiple sclerosis: A systematic review of observational studies.
Brain and Behavior, e3024.
https://doi.org/10.1002/brb3.3024
Demenz und PTBS
Havermans, D. C., Cations, M., Woudsma, J. S., Janssen, I., Collet, J., Gerritsen, D. L., … & Sobczak, S. (2024).
Impact and Needs in Caregiving for Individuals With Dementia and Comorbid Posttraumatic Stress Disorder Living in Nursing Homes.
International journal of older people nursing, 19(6), e12653.
https://doi.org/10.1111/opn.12653
Entwicklungstraumata und Psychoserisiko
Onyeama, F., Melegkovits, E., Yu, N., Parvez, A., Rodrigues, A., Billings, J., … & Bloomfield, M. A. (2024).
A systematic review and meta-analysis of the traumatogenic phenotype hypothesis of psychosis.
BJPsych Open, 10(5), e146.
https://doi.org/10.1192/bjo.2024.52
Zusammenhang zwischen Gewalt in der Kindheit und späterer Adipositas
Zhou, Y., Sun, Y., Pan, Y., Dai, Y., Xiao, Y., & Yu, Y. (2024).
Association between adverse childhood experiences and obesity, and sex differences: A systematic review and meta-analysis.
Journal of Psychiatric Research, 180, 56-67.
Negative Kindheitserfahrungen und ADHS
Schwartz, A., Galera, C., Kerbage, H., Montagni, I., & Tzourio, C. (2023).
Adverse Childhood Experiences and ADHD Symptoms Among French College Students.
Journal of Child & Adolescent Trauma, 1-9.
https://doi.org/10.1007/s40653-023-00543-z
Kürzere Telomerlänge im Lebensverlauf nach Gewalt in der Kindheit
Zhou, Z., Lo, C. K., Chan, K. L., Chung, R. S., Pell, J. P., Minnis, H., … & Ho, F. K. (2023).
Child maltreatment and telomere length in middle and older age: retrospective cohort study of 141 748 UK Biobank participants.
The British Journal of Psychiatry, 1-5.
https://doi.org/10.1192/bjp.2023.33
Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt durch Männer oder Frauen
Gerke, J., Gfrörer, T., Mattstedt, F. K., Hoffmann, U., Fegert, J. M., & Rassenhofer, M. (2023).
Long-term mental health consequences of female-versus male-perpetrated child sexual abuse.
Child Abuse & Neglect, 143, 106240.
https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2023.106240
Traumatherapie auch für ältere Menschen
Forstmeier, S., Zimmermann, S., van der Hal, E., Auerbach, M., Kleinke, K., Maercker, A., & Brom, D. (2023).
Effect of Life Review Therapy for Holocaust Survivors: A randomized controlled trial.
Journal of Traumatic Stress.