Verschickt, sediert, ertrunken – was in Archiven gefunden werden kann, obwohl persönliche Akten fehlen

4. April 2025, LWL-Archivamt für Westfalen, Verschickungskinder recherchieren gemeinsam in Verschickungsakten. Foto: Detlef Lichtrauter
4. April 2025, LWL-Archivamt für Westfalen, Verschickungskinder recherchieren gemeinsam in Verschickungsakten. Von links: Historikerin Carmen Behrendt, Eleonore Lubitz, Maria Dickmeis und Karin Geesink

 Münster, 4. April 2025

Mit unserer Archivexpertin und Historikerin Carmen Behrendt durften die fünf ehemaligen Verschickungskinder Eleonore Lubitz, Karin Geesink, Maria Dickmeis, Detlef Lichtrauter und Karl-Joseph Dieckmann Anfang April im LWL-Archivamt für Westfalen in Münster Akten mit Verschickungsbezug einsehen. Sie fanden unter anderem erschreckende Belege für Ertrinkungsfälle während Kuraufenthalten und nicht genehmigte Medikamentengaben.

In demselben Archiv haben auch die Wissenschaftler:innen der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Leitung von Professor Dr. Alexander Nützenadel Akten untersucht. Der Abschlussbericht zum Forschungsprojekt „Die Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der Bundesrepublik 1945-1989“ wurde am 15. Mai 2025 veröffentlicht.

Der Besuch im LWL-Archiv verdeutlicht eindrucksvoll, wie nicht nur Wissenschaflter:innen, sondern auch Betroffene trotz fehlender persönlicher Akten durch archivierte Dokumente und Kontextmaterialien wichtige Informationen über ihre Verschickung finden können.

Ein Bericht von Carmen Behrendt

Hoch motiviert treffen wir uns schon am Morgen des 4. April 2025 im LWL-Archivamt für Westfalen in Münster. Zusammen wollen wir einen Tag lang in Akten über Heil- und Erholungskuren recherchieren. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe war  nicht nur Träger, sondern vor allem Organisator  im Verschickungssystem. Er war für die Belegung der Kurheime, für den Ablauf und die Kosten verantwortlich. Daher befinden sich in Münster viele Akten zu Kinderkuren. Ermöglicht hat uns den Besuch der engagierte Archivar Hans-Jürgen Höötmann, der sich zusammen mit seinem Kollegen Dr. Stefan Schröder für die Verschickungskinder einsetzt und Recherchetipps auf dem Blog des LWL-Archivamts teilt.

Gemeinsam für die Aufarbeitung, Foto: Maria Dickmeis

Was ist überhaupt eine Überlieferung? Was ist ein Bestand?

Ein extra reservierter Gruppenraum bietet am sonnigen Morgen nicht nur genug Platz für die umfangreiche Recherche, sondern auch die Gelegenheit zum Austausch. Ganz nach dem Motto unserer Citizen Science: Handlungssouveränität gewinnen, neue Kompetenzen erlernen und dabei die Stärke und Solidarität der Gemeinschaft erfahren.

Das Rechercheteam hat sich viel vorgenommen. Insgesamt 724 Akten aus der Überlieferung der ehemaligen Abteilung Erholungs- und Heilfürsorge des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe im Bestand Nr. 620 stehen zur Einsicht bereit.

Was ist überhaupt eine Überlieferung? Was ist ein Bestand? Schon bevor es richtig losgeht und die Akten gewälzt werden, stehe ich mit Rat und Tat zur Seite und gebe einen Einblick in die Welt des Recherchierens.

Die Ordnung in Archiven folgt in der Regel dem sogenannten Provenienzprinzip. Provenienz bedeutet ‚Herkunft‘. Das heißt, dass die Archivalien in Archiven danach geordnet werden, von woher sie abgegeben wurden. Nachdem die Abteilung der Erholungs- und Heilfürsorge ihre Akten zur Archivierung abgegeben hatte, landeten sie zusammengefasst in einem sogenannten Bestand im Archiv, dem Bestand Nr. 620.

Aktentitel zu Verschickungsinhalten

Nach der fachlichen Einführung kann die Recherche dann richtig losgehen. Die Unterlagen sind umfangreich und vielfältig. Schnell hat jede:r eine erste Akte gefunden, die aufgrund des Titels spannende Funde vermuten lässt. Es geht zum Beispiel um die Zusammenarbeit der Abteilung Erholungs- und Heilfürsorge des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe mit der „Arbeitsgemeinschaft der sozialen Heime auf den Ostfriesischen Inseln“, mit Stadt- und Kreisverwaltungen oder Verbänden der freien Wohlfahrtspflege. Es geht um Tagungen entsendender Ärzte und Heimärzte oder die Planung von sogenannten „Kindersonderzügen“. Es geht um „Kurmaßnahmen für neurotische Kinder und Bettnässer“ oder „Anweisungen zur ärztlichen und pädagogischen Behandlung auffälliger und psychisch erkrankter Kinder“, um nur einige Aktentitel zu zitieren.

Foto: Detlef Lichtrauter

 

Welche Rolle spielte der Landschaftsverband Westfalen-Lippe als Akteur im Verschickungssystem und wie genau sah die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren aus?

Das ist die zentrale Leitfrage der Recherche, die vor allem darauf zielt, Zusammenhänge zu verstehen und Verantwortlichkeiten zu identifizieren. Immer wieder wird das Lesen unterbrochen, um Funde mit den anderen zu teilen und zu diskutieren. Warum – zum Beispiel – war bei der Arbeitsgemeinschaft auf den Ostfriesischen Inseln von „sozialen Heimen“ die Rede, wenn es offiziell doch um das Vorbeugen und das Kurieren von Erkrankungen gehen sollte? Welches Bild von den Kurkindern hatten die Verantwortlichen und wie wirkte sich das möglicherweise auf den Umgang während der Kuren aus? Und welchen Wirtschaftsfaktor bedeuteten die Kurheime? Welcher Druck bestand, die Heime voll zu belegen?

Foto: Detlef Lichtrauter

Eleonore macht gleich zu Beginn einen interessanten Fund. In der Akte mit dem Titel „Vermeidung von Arzneimittelmissbrauch in Kurheimen“ geht es um Röntgenuntersuchungen bei Kuraufenthalten. Zu häufig würden diese vorgenommen, habe das Kreisgesundheitsamt Lippstadt dem LWL nach Auswertung der ärztlichen Befundberichte Anfang der sechziger Jahre geschrieben, erläutert Eleonore die Dokumente. Und sie hat dabei prompt Bilder mit eigenen Kurerfahrungen vor Augen.

Karin und Detlef nehmen sich die umfangreichen Unterlagen über die „Planung von Kindersonderzügen“ vor. Die Akten dokumentieren die Überbelegung der Züge, die katastrophalen Zustände – zum Beispiel wegen ausgefallener Heizungen im Winter – und die  schlechte Versorgung der Kinder während der oft stundenlangen Fahrten zu den Kurorten.

Ich habe sehr viele Berichte der Transportleiter der Kindersonderzüge gelesen. Dabei ist mir das Ausmaß der Verschickung in seinem vollen Umfang erstmals richtig bewusst geworden. Die 'Transportstärke' der einzelnen Züge belief sich sehr häufig auf 700 bis 1.000 Kinder pro Fahrt. Ich war als Lehrerin tätig und diese Zahl entspricht der gesamten Schülerschaft unseres Gymnasiums. Das ist eine unvorstellbar hohe Zahl. Unter solchen Umständen konnten die Kinder nur zu Nummern mutieren.

Auch die Transportbedingungen, wie sie in den Akten der Transportberichte geschildert werden, geben Anlass zu großer Sorge. Die massive Überbelegung der Züge, in denen Kinder über viele Stunden hinweg – teilweise ohne Wasser und mit defekten sanitären Einrichtungen – in Gängen und Einstiegsbereichen, auf dem Boden ausharren mussten, zeigt deutlich: Die Fürsorgepflicht gegenüber den Schwächsten wurde in vielfacher Hinsicht vernachlässigt.

Schockierende Funde von Badeunfällen

In einem anderen Aktenband finden wir Belege für schockierende Badeunfälle in Verschickungsorten an der Ostseeküste. An nur einem einzigen Tag kam es an drei verschiedenen Orten zu insgesamt 8 tödlichen Ertrinkungsunfällen sowie zu 26 dokumentierten Wiederbelebungen. Weitere fünf Mappen über „Todesfälle während Kuraufenthalten“ können wir uns aus Zeitgründen nicht mehr ansehen. Es liegt die Vermutung nahe, dass hier noch viel mehr dramatische Vorfälle dokumentiert sind.

 

Detlef: „Besonders schwerwiegend ist die Tatsache, dass zwischen den verantwortlichen Stellen – insbesondere der Kurverwaltung und der zuständigen Ausgleichsstelle – erst nach mehreren Monaten überhaupt Gespräche über präventive Maßnahmen geführt wurden. Diese zögerliche Reaktion dokumentiert eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen der betroffenen Kinder.“

Quelle: Findbuchauszug zum Bestand 620 über archive.nrw.de

Quelle: LWL-Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Best. 620/lfd. Nr. 3406

Ein weiterer brisanter Fund: Eine Kinderärztin verabreichte im Jahr 1960 versuchsweise das Reisemedikament Nipodal des Pharmaherstellers Bayer an alle Kinder aus ausgewählten Kindersonderzügen, um die Wirkung mit unbehandelten Gruppen zu vergleichen. Sie veröffentlichte ihre Erkenntnisse daraufhin in einem Sonderdruck der Zeitschrift Ärztliche Praxis. Unerlaubt, wie das überlieferte Schreiben des damaligen LWL-Landesrates bestätigt. „Leider müssen wir Ihnen sagen, dass wir keinesfalls damit einverstanden sind, dass ohne unsere Genehmigung an alle Kinder eines Kindersonderzuges zu Versuchszwecken ein Präparat zur Behandlung bzw. zur Verhütung der Reisekrankheit ausgegeben wird. Besonders zu bedauern ist, dass Sie eine Veröffentlichung vorgenommen haben, ohne uns vorher zu informieren, zumal es sich um ein Präparat aus der Reihe der Phenothiazine handelt“, schreibt der politisch Verantwortliche an die medizinische Fachfrau. Die Brisanz war den Verantwortlichen also schon damals bewusst, denn Phenothiazine sind Neuroleptika mit sedierender Wirkung, die unter anderem bei der Behandlung von Psychosen eingesetzt werden. Gab es Konsequenzen? Zumindest keine, die in den Akten dokumentiert wären.

 

„Diese Funde verdeutlichen einmal mehr die Dringlichkeit einer umfassenden und systematischen Aufarbeitung der Kinderkuren in der Bundesrepublik. Sie mahnen nicht nur zur Erinnerung, sondern auch zur Verantwortung.“

Quelle: LWL-Archivamt für Westfalen
 

Trotz der Schwere des Themas tragen die anregenden Gespräche und die gute Gemeinschaft uns durch den Tag. Als wir uns erst gegen 18 Uhr auf den Heimweg machen, sind weitere Recherchen bereits in Planung. Nicht nur sind angesichts des enormen Materialumfangs noch etliche Akten ungelesen geblieben. Für Eleonore steht fest, dass sie wiederkommen möchte, um über die Kinderheilanstalt Bad Sassendorf zu recherchieren. Du möchtest dich anschließen? Melde dich bei uns!

Projekt@akv-nrw.de    Stichwort: Eleonore Archiv

Ich möchte alle Betroffenen dazu ermutigen, in Archive zu gehen, auch wenn keine persönlichen Unterlagen vorhanden sind. Zwar bedarf es bei der Archivrecherche manchmal etwas Geduld, bis man in den Akten Antworten auf seine Fragen findet. Aber der Besuch im LWL-Archivamt zeigt eindrucksvoll, dass sich für die Aufarbeitung die Mühe lohnt.

Da ich aus NRW nach Niedersachsen verschickt wurde, war ich der Meinung, dass ich an diesem Tag vielleicht das Rechercheteam NRW unterstützen kann, für meine persönliche Verschickungszeit aber keine relevanten Informationen erhalten würde. Das stimmt allerdings nicht. Die Beschäftigung mit den Akten durchleuchtet das System der Kinderverschickung von einer anderen Warte als der des Verschickungskindes, unabhängig von dem Bundesland. Das ist sehr spannend und auch bewegend. Mein Interesse für die Recherche in Archiven ist auf jeden Fall geweckt worden und das sowohl in NRW als auch in NDS. Die Berührungsängste mit der Archivarbeit sind nicht weg, aber deutlich kleiner. Geholfen hat mir dabei auch der wissenschaftliche Ansatz und die gut vorbereitete Struktur der Dokumentation von dir, Carmen. Herzlichen Dank!

Profi-Tipp 1:

Es gibt Übersichten, aus denen hervorgeht, welche einzelnen Akten in einem Bestand zu finden sind. Manchmal sind diese sogenannten Findbücher online abrufbar, so auch im Falle des Bestands Nr. 620

Profi-Tipp 2:

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterhielt eigene Kinderkurheime in Westernkotten, Bad Waldliesborn und Laasphe. Wenn du nach Bad Waldliesborn oder Laasphe verschickt wurdest und dazu recherchieren möchtest, frage beim Archiv des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe nach den Beständen 631 (Bad Waldliesborn) und 633 (Westfälisches Kinderkurheim Laasphe). Zudem befinden sich im LWL-Archiv Unterlagen über die Kinderheilanstalt Bad Sassendorf. Erkundige dich nach dem Bestand “Stiftung Kinderfachklinik, Haus Sassendorf”.

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