Lange Schatten einer vergessenen Zeit
von Jutta Asendorf

Jutta war mit gerade 7 Jahren von Ende April bis Anfang Juni 1959 in Bad Nauheim in der „Kinderheilanstalt Elisabethhaus“. Das ist baulich sehr verändert und ist heute ein Seniorenheim. Einige Jahre später war sie in Timmendorf. Dort ist das Foto entstanden. Jutta sitzt in der zweiten Reihe rechts. Sie geht davon aus, dass das Foto bei einem Ausflug nach Bad Segeberg entstanden sein muss.

War dieser schmuddelige Stoffhase mit seinen dunkelbraunen, verkratzten Glasaugen so etwas wie ein Sinnbild für die verletzte Kinderseele tief in mir? Im Park hatte wohl ein Kind den kleinen Hasen verloren. Es hatte niemand nach ihm gefragt – Wochen, Monate hatte das braune Stofftier mit den langen Hasenohren in einem kleinen Ablagekorb in der Verwaltung des Parks gelegen. Ich war gelegentlich noch ehrenamtlich tätig in dem Büro, in dem ich die letzten Jahre meines Berufslebens angestellt gewesen war. Jedes Mal, wenn ich kam, war mein erster Gang zu dem kleinen Hasen, dem ich liebevoll über den Kopf strich.

Dieser kleine Hase löste in mir das gleiche Gefühl aus, das ich jedes Mal tief in mir spürte, wenn ich ein Stofftier oder eine Puppe alleingelassen am Straßenrand oder auf einem Trödelmarkt liegen sah. Ein Gefühl, das mir das Herz zerriss und mir so nah war, wie ich das in anderen Situationen meines Lebens kaum kannte. Immer wieder hatte ich mich gefragt, woher dieses Gefühl kam.

Jetzt hatte ich den kleinen Hasen mit nach Hause genommen. Ich kuschelte ihn abends in eine Decke ein und las ihm vor, bis er eingeschlafen war – so, wie ich es mir als Kind gewünscht hätte. Was konnte ich noch für ihn tun. Was hatte ich vermisst. Was verband mich mit diesem Hasen? Er war verloren gegangen, hatte Tage, Wochen allein draußen gelegen, hatte nicht verstanden, warum er zurückgelassen wurde – bis ihn ein Parkmitarbeiter mitgenommen hatte. Er war jetzt nicht mehr allein draußen, aber wieder fremd.  

Manchmal war mir als würden dem kleinen Hasen die gleichen Tränen aus seinen dunkelbraunen Glasaugen kullern wie sie mir über die Wangen liefen.

„Die Angst habe ich mitgenommen“ – dieser eine Satz, den ich beiläufig in einer Reportage gehört hatte, war der Beginn einer Suche, der Beginn einer Ahnung. Es war die Suche nach einer Zeit, an die ich mich kaum erinnern konnte und dennoch mein Leben bis heute beeinträchtigte. Es war eine Ahnung, dass die Gefühle, für die ich bis heute auf der Suche nach Worten und einer Erklärung war, einen realen, bitteren Ursprung hatten.

Die kurze Reportage, in der dieser Satz fiel, handelte von jenen Verschickungskindern, die in den 40iger bis 80iger Jahren zu Millionen allein in Kinderheime gebrachte wurden, weil sie vermeintlich krank oder nicht kräftig genug waren – ich war weder das eine noch das andere. Aber ich war so ein Verschickungskind. Diese kurze Reportage hatte mir gezeigt, dass es einen Namen für diese Zeit gab, dass es unzähligen Kindern gegangen war wie mir.

Ich gehörte zu denen, die sich nicht erinnern konnten an diese Zeit. Meine Eltern lebten nicht mehr. Sie konnte ich nicht mehr fragen. Und Fragen gab es genug. Warum wurde ich verschickt? Wer hatte mich zum Zug gebracht? Wer hatte mich abgeholt, in die Arme geschlossen? War ich froh gewesen, wieder zuhause zu sein? Was hatte ich erzählt? Hatte ich überhaupt etwas erzählt? Oder war ich nur verstört, verletzt, eingeschüchtert und allein gelassen?

Immer wieder hielt ich die kleinen professionellen Fotos mit gezacktem Rand, die ich mit nach Hause gebracht hatte, in der Hand und versuchte, eine Erinnerung an das Haus, die Räume, die Vorkommnisse, die Menschen wachzurufen. Aber nichts wollte zurückkommen aus dieser Zeit, die doch so viele Spuren hinterlassen hatte. Ein Kind von gerade sieben Jahren, allein in einen Zug gesetzt, fortgeschickt in eine fremde Umgebung, in die Obhut gegeben von fremden Menschen, die ihre eigenen Erziehungsmethoden hatten, denen sich niemand zu widersetzen hatte. 6 Wochen und wenige Jahre später noch einmal 4 Wochen. Eine dunkle, sprachlose Zeit, an die ich keine Erinnerung hatte und die dennoch nicht vergessen war.

Einzig der kahle Schlafsaal mit vielleicht 16 Gitterbetten – ohne Schränkchen, ohne Nachttischchen, wo man eine Erinnerung an zuhause, ein vertrautes Spielzeug, ein Bild hätte hinstellen können – nichts. Nur 16 Gitterbetten in einem Raum mit nackten weißen Wänden und Fenstern, durch die nicht allzu viel Licht gefallen war. In der Erinnerung war da noch die ältere Bettnachbarin, die mich immer wieder ins Bett geschubst hatte, das krampfartige Schließen der Augen, wenn kontrolliert wurde, ob die Kinder schliefen – abends und mittags. Die Wagen, auf denen Becher und große weiße Kannen mit Getränken standen wie Hagebuttentee, den ich hinunterwürgte und bis heute nicht trinken kann. Nichts weiter als diese wenigen gekauften schwarz-weiß Bildchen des Hauses und drei kleinen Briefchen, in denen von Solebädern, von blühendem Flieder, von einem Spielraum mit Puppen, von Essen, das geschmeckt hatte, stand. Hatte es wirklich geschmeckt?  „Ich werde immer artig sein“ – ein Satz aus einem der kleinen Briefchen. Fehlerfrei – diktiert oder vorgeschrieben. Die Eltern wird der Satz gefreut haben. Hatte sich niemand gewundert über diese Briefe? Fehlerfreie Aussagen, die ein Kind von gerade 7 Jahren so wohl kaum gemacht hätte – „hier blüht schon der Flieder“? Am Schluss dann ein, zwei kurze Sätze überhäuft mit Fehlern – fast kein Wort richtig geschrieben? Ist das wirklich niemandem aufgefallen? Hatte man sich daheim über die Briefe gefreut, sie stolz den Freunden oder Bekannten gezeigt?

Im letzten Brief am Ende dann das einzige Gefühl „Ich bekome Heimwe“. Kurz vor Ende der Verschickungszeit mochte das bei der Zensur durchgegangen sein. Dieser Satz wurde in meiner Kindheit gern zitiert, wenn Besuch im Hause war. Gerade durch diesen winzigen Schreibfehler, das fehlende „h“ – so rührend, so niedlich. Was sich für ein Unglück hinter diesem kleinen Satz verbarg, darüber hatte niemand nachgedacht. Dass ich viel zur warm angezogen bei der Rückreise aus dem Zug gestiegen war – das hatte meine Mutter berichtet. Es war Anfang Juni im Jahre 1959. Weiter wurde über diese Zeit nicht gesprochen.

Zig Jahre später taucht im Rahmen einer Therapie ein Bild auf, wie ich es mir gewünscht hätte für das Kind. Es wäre damals so nicht möglich gewesen. Es gab ja keine Möglichkeit zu sagen: “Ich fühle mich so einsam. Es geht mir schlecht. Holt mich nach Hause – bitte“.

Jetzt in der Therapie tun wir es! Jetzt holen wir das Kind, die kleine Jutta da raus, raus aus diesem Haus, raus aus dieser Verlassenheit und ihrem Heimweh.

Ich schließe die Augen: Die Therapeutin und ich gehen den Weg entlang, durch eine parkähnliche Anlage auf das Haus zu, das ich vom Bild her kenne. Gehen die breite Treppe hinauf durch die große Eingangstür. Wir gehen nach links in den Schlafsaal. Warum begegnet uns niemand? Das Haus scheint verwaist. Das Kind kauert allein in dem großen Saal neben dem Gitterbett, fast darunter. Es kommt nicht auf uns zu. Es weiß ja nicht, dass wir es da rausholen werden, dass wir ihm helfen wollen. So verstört, so eingeschüchtert, so misstrauisch. Wir werfen alle Sachen des Kindes in den Koffer und nehmen das Kind zwischen uns. Wir nehmen es an die Hand und verlassen den Raum, den Gang entlang, durch den Eingangsbereich, öffnen die Tür nach draußen. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss. Niemand ist uns begegnet. Niemand hält uns auf. Das Kind sagt nichts. Es hüpft nicht vor Freude – es geht stumm zwischen uns. Einmal schaut es zurück. Das Haus ist schon weit weg. Immer noch ist niemand zu sehen. Am Ende des Weges erwartet uns eine dunkle Limousine. Der Fahrer steigt aus, legt den Koffer in den Kofferraum und öffnet die Tür zum Rücksitz. Wir steigen ein, nehmen das Kind in unsere Mitte. Es sagt immer noch nichts, lässt das alles mit sich geschehen. Immer noch eingeschüchtert und in Angst, wieder irgendwo hingebracht zu werden?

Wir fragen das Kind: “Wo sollen wir hinfahren? Nach Hause?“ Kaum merklich schüttelt das Kind den Kopf.  Nicht zu den Eltern? Wieder ein Warum? „Zu Tante Hilde“ – es sind die ersten Worte, die das Kind gesprochen hat. Die Limousine fährt einen Waldweg entlang. Am Ende des Weges öffnet sich der Blick über Weinberge hinweg ins Tal. Weit, friedlich, licht – es gibt dort einen Platz mit Bänken und einer Schaukel. Das Kind steigt aus dem Auto, setzt sich auf die Schaukel, wiegt sich ganz langsam hin und her ohne an Höhe zu gewinnen. Es blickt über die Weinberge – wie im Traum. Noch nicht angekommen, noch nicht frei. Die Schaukel gehorcht den ruhigen Bewegungen des Kindes. Es kann sich Zeit lassen. Niemand wird es drängen. Niemandem muss es jetzt gehorchen – das muss es lernen, vielleicht ein Leben lang. Das Kind blickt einen Moment zurück und sieht, wie Tante Hilde den Waldweg entlang auf sie zukommt. Das Kind springt von der Schaukel und läuft, läuft in die offenen Arme, die es warm, weich und schützend umschließen.

Ein bestmögliches Ende – aber so ist es ja nicht gewesen.

Nach 6 langen Wochen wurde ich wieder in den Zug gesetzt, zu warm angezogen – und wohin ging es jetzt? Ging es wirklich nach Hause. 6 Wochen hatte ich die Stimme der Eltern nicht gehört. Hatte ich verstehen können, warum die Eltern nicht angerufen hatten? Warum hatten sie mich allein gelassen? Sogar als ich mit Windpocken im Krankenzimmer hatte liegen müssen? Kein Wort? Kein Trost? Dennoch – abgeschirmt im Krankenzimmer, in Ruhe gelassen, war ich nicht unglücklich gewesen. Daran kann ich mich erinnern. Endlich raus aus dem Verschickungsalltag?

Wie verlassen, ausgeliefert, hilflos musste ich mich gefühlt haben in diesem strengen Reglement ohne Trost, ohne Zuwendung, allein gelassen – für wie lange, für immer? Hatte mir jemand gesagt: „Du bist bald wieder bei uns. Wir freuen uns, wenn Du wieder da bist“? Und konnte ein Kind das wirklich einschätzen? Wie lang waren sechs Wochen? Was bedeutete bald?

Das Gefühl des ausgeliefert und verlassen Seins begleitet mich bis heute. Es ist einfach da, wenn ich wegfahre und meine Wohnung über Nacht verlassen muss, wenn ich einen unangenehmen Termin vor mir habe, vor allem dann, wenn es mit Krankheit, Arzt, Krankenhaus, REHA zu tun hat. Es fühlt sich an wieeine unsichtbare Bedrohung. Dann kostet es Kraft, zuweilen auch mehrere Anläufe, eine Praxis überhaupt zu betreten oder dort anzurufen. Wie oft habe ich während meiner Berufszeit gehört: „Fahr doch mal zu Kur. Das steht Dir doch zu.“  Sofort war das Gefühl da. „Nein, niemals mache ich das freiwillig. Das kommt gleich nach dem Krankenhaus!“ war meine meist heftige Reaktion.  Ärzte und entsprechende Institutionen bedeuteten für mich nicht Hilfe sondern Obrigkeit, Anordnung und Verletzung.

Das Gefühl ist heute immer noch da. Die Therapie hat mir einen Weg gezeigt, dieses Gefühl einzuordnen. Ich weiß und kann nachempfinden, woher dieses Gefühl kommt, wo der Ursprung ist. Es hat nichts damit zu tun, dass ich mich anstelle oder hypersensibel bin. Genauso habe ich mich in diesem Heim gefühlt. Dieser Gedanke tut weh, tut so weh. Ich hatte keine Chance mich zu wehren, war einfach nur ausgeliefert. Ich musste das tun, was angeordnet wurde und das erdulden, was mit mir gemacht wurde.

Heute kann und muss ich mir immer wieder sagen: Das ist vorbei. Ich kann entscheiden, ob ich wegfahren möchte. Ich kann entscheiden, was der Arzt oder die Ärztin machen soll und was nicht. Ich muss niemandem gehorchen, ich kann mich widersetzen, ich kann einfach aufstehen und gehen. Immer wieder muss ich mir das sagen. Aber noch ist es nur ein Satz, den ich nicht mit mir verknüpfen kann. Das Gefühl des Ausgeliefertseins ist zu tief verankert.

Wenn ich mich heute frage, was meine Angst im Zusammenhang mit Ärzten auslöst, dann muss ich vermutlich gar nicht nach einem bestimmten Ereignis suchen. Die Zeit der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und allein gelassen worden zu sein ist Grund genug.

Durch die Fotos und die Brieflein weiß ich, in welchem Heim ich war. Die damalige Kinderheilanstalt ist heute ein Seniorenheim. Ich habe Kontakt aufgenommen und noch einige Fotos erhalten. Weitere Unterlagen aus der damaligen Zeit sind wohl bei einer Renovierung vernichtet worden. Vielleicht möchte ich eines Tages an den Ort zurückkehren.

Der kleine Hase wird mich dorthin begleiten. Er sitzt jetzt auf meinem Schoß, schaut über die Schreibtischplatte auf den Bildschirm. Ich halte ihn ganz fest. Er ist mein Verbündeter. Unsere Lebenswege ähneln sich. Beide aus einem behüteten Haus herausgerissen fanden wir uns plötzlich wieder in einer fremden, feindlichen Umgebung. Diese Zeit liegt hinter uns. Wir wärmen uns gegenseitig. Die Schatten aber werden bleiben.

Jutta Asendorf

 

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