Was eine Postkarte durch LWL-Akten offenbarte

Postkarte aus Verschickung nach Sylt von Sabine Müller Jursch Vorderseite
Postkarte aus der Verschickung nach Sylt / Quelle: privat

05. Juni 2025

Sabine Müller-Jursch ist Teil unserer Recherchegruppe zur Aufarbeitung der Kinderverschickungen. Durch einen Aktenfund im LWL-Archiv konnte sie ein lange ungeklärtes Detail ihrer eigenen Geschichte aufdecken: Warum spielten in ihren Originalunterlagen immer wieder sogenannte Krankenscheine eine Rolle?

Sabine wurde in ihrer Kindheit gleich drei Mal verschickt – mit sechs Jahren nach Sylt, mit zehn nach Glücksburg und mit 14 ins baden-württembergische Eberbach am Neckar. Besonders die Archivakten zu den Heimen auf Sylt und in Glücksburg lieferten nun wichtige Hinweise.

Was Sabine entdeckte, wirft nicht nur ein neues Licht auf ihre persönliche Geschichte – sondern auch auf ein ganzes Kapitel der Verschickungspraxis.

 

Ein Bericht von Sabine Müller-Jursch

Bei dem Besuch in dem LWL-Archiv konnte ich leider nicht dabei sein. Deshalb habe ich Carmen Behrendt gebeten, in dem Archiv nach Berichten über Krankenscheine zu gucken und mich zu informieren, wenn sie etwas hierüber findet.

Gruppenfoto Sylt, Sabine mit anderen Verschickungskindern auf Sylt / Quelle: privat
Sabine mit anderen Verschickungskindern auf Sylt / Quelle: privat

 

 

Sylt 1972 – ADS Kinderheim, 2281 Rantum/Sylt

Als Kind hatte ich oft Bronchitis. Bei der Einschulungsuntersuchung empfahl der Schularzt vom Gesundheitsamt für mich eine sogenannte „Kinderkur“ an der Nordsee. Er meinte, dass die frische Seeluft gut für mich wäre gegen meine Bronchitis.

Nach dem Termin im Gesundheitsamt ging meine Mutter mit mir zu der Kinderärztin, bei der ich seit meiner Geburt regelmäßig in Behandlung war. Die Kinderärztin befürwortete die Empfehlung des Schularztes.

So kam es, dass ich im Alter von 6 Jahren in der Zeit vom 26.01. bis zum 08.03.1972 für sechs Wochen nach Rantum/Sylt geschickt wurde.

Postkarte an meine Eltern

Diese Verschickung fand vor meiner Einschulung statt und ich konnte nur meinen Vornamen schreiben. Die Briefe und die Postkarte an meine Familie zu Hause wurden von einer Betreuerin geschrieben und ich unterschrieb jeden Brief und die Postkarte mit meinem Vornamen. Alle Briefe aus dieser Zeit wurden mir von meinen Eltern gegeben.

Am 19.02.1972 wurde von der Betreuerin eine Postkarte mit folgendem Inhalt an meine Familie geschrieben:

„Liebe Mamma, lieber Papa, …!

Heute schick ‘ich Euch eine Ansichtskarte damit Ihr mal sehen könnt wo ich wohne. Das Haus auf der Karte ist Schullandheim u. Erholungsheim. Wir sind ganz rechts im Block. Könnt Ihr mir einen Krankenschein schicken. Als ich krank war, war doch der Arzt da und hat was verschrieben. Jetzt ist der Husten immer weg. Viele liebe Grüße und Küsse Eure Sabine“

 

Postkarte an die Eltern
Postkarte aus Sylt an die Familie, Quelle: Sabine Müller-Jursch
Haus Ansgar Glücksburg
Kinderheim St. Ansgar Glücksburg / Quelle: privat

Glücksburg 1976 – Kindererholungsheim St. Ansgar, Sandwigstraße 8, 2392 Glücksburg/Ostsee

Im Alter von 10 Jahren wurde ich zum 2. Mal auf Empfehlung der Kinderärztin von zu Hause weggeschickt. Das geschah in der Zeit vom 21.01. bis zum 25.02.1976 für fünf Wochen.

Zu dieser Zeit war ich im 4. Schuljahr und im Sommer wechselte ich auf die weiterführende Schule.

Auch von dieser Verschickung liegen mir alle Briefe vor, die ich an meine Eltern geschrieben habe.Am 23.01.1976 habe ich den 1. Brief an meine Familie geschrieben.

Unter meinen Worten haben die für mich zuständigen Betreuerinnen folgendes geschrieben:

„Sehr geehrte Familie …!

Hiermit möchte ich mich als eine der beiden Betreuerinnen von Sabine vorstellen. Sie wird sich sicher bald gut eingelebt haben, auch wenn gelegentlich das Heimweh noch hochkommt.

Freundliche Grüße sendet Ihnen Ihre J. …

Als zweite Betreuerin von Sabine möchte ich Ihnen auch ganz herzliche Grüße senden C. …“

Am 11.02.1976 schrieb ich meiner Familie unter anderem folgendes:

„Mein Husten hat sich etwas verschlimmert. Am Anfang habe ich noch keinen Hustensaft bekommen, aber jetzt bekomme ich welchen! Ich war nicht die einzige, die gebrochen hat!“

Unter meinen Worten hat J. … folgendes geschrieben:

„Sehr geehrte Familie …!

Sabine geht es noch gut. Sie hat nur einen leichten Husten. Bei der Routine-Untersuchung versicherte unser Hausarzt, es sei wirklich nicht schlimm. Sabine solle nur Hustensaft bekommen. Deshalb bitten wir um einen Krankenschein.

Besten Dank im voraus! Freundliche Grüße J. …“

Am 18.02.1976 steht unter meinem Brief an meine Familie folgendes: „Freundliche Grüße und Dank für den Krankenschein J. …“

Quelle: Sabine Müller-Jursch
Brief Schein erhalten
Quelle: Sabine Müller-Jursch

Bei dem Besuch im LWL-Archiv in Münster hat Carmen Behrendt folgende Akten zum Thema Krankenscheine  gefunden:

Aus dem Heimbericht von 1977 geht hervor, dass von Heimen und Heimärzten vermehrt Krankenscheine für zur „Kur“ entsandte Kinder angefordert wurden.

Hierzu wurde festgestellt, „dass die ärztliche Versorgung während eines Kuraufenthaltes erkrankter Kurteilnehmer … nicht als Kassenleistung anzusehen und somit auch nicht über einen Krankenschein abzurechnen ist. Die Behandlung erfolgt durch die heimärztliche Tätigkeit und wird durch den Arztpauschalsatz abgegolten. Eine Sonderabrechnung kann daher nicht vorgenommen werden….

Ein Krankenschein kann grundsätzlich nur bei interkurrenten Erkrankungen angefordert werden, wenn die Behandlung über das übliche Maß der heimärztlichen Tätigkeit hinausgeht. Leichte Anginen, Windpocken, Mumps usw., die sich gerade in Kinderheimen besonders leicht ausbreiten, rechnen im allgemeinen nicht zu den interkurrenten Erkrankungen. Es wird darauf hingewiesen, dass die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (Ärztekammer) sich gegen eine Ausstellung von Krankenscheinen ausgesprochen hat und eine generelle Übersendung von Krankenscheinen ablehnt.“

Archiv Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Online-Findbuch: 620/3454, Seiten 10 und 11

Mit dem Wissen aus dem Archiv frage ich mich, ob mit den angeforderten Krankenscheinen für die Verschickungen, in denen ich 1972 und 1976 war, ärztliche Leistungen doppelt abgerechnet wurden.

LWL Münster Bestand 620_3454_S.1_klein_1:3
Quelle: LWL-Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Best. 620/lfd. Nr. 3454
LWL Münster Bestand 620_3454
Quelle: LWL-Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Best. 620/lfd. Nr. 3454
LWL Münster Bestand 620_3454-S.2
Quelle: LWL-Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Best. 620/lfd. Nr. 3454

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