Jens Höfig war vor 50 Jahren als 6-jähriger in Niendorf. Mit nach Hause nahm er als Geschenk für seine Mutter einen Seestern aus Keramik. Heute erinnert ihn dieses Souvenir an den Vertrauensverlust, den seine Kinderkur in ihm ausgelöst hat und der sein Leben geprägt hat. Hier schildert Jens seine Erinnerungen an die Verschickung und seine Rückkehr als Erwachsener an den Ort seiner Traumatisierung.
Niendorf, 4. Dezember 2025
Vor über 50 Jahren, im Sommer, saß ich im Bus mit meinem Plüsch-Affen in meiner Hand. Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich meine in Tränen aufgelöste Mutter in der Menge zuwinkte, bis sie nach der nächsten Biegung aus meinem Blickwinkel verschwand.
Dass ich mit 6 Jahren keinen Zeitbegriff von 6 Wochen hatte, spürte ich an meinem heftigen Heimweh. Und an dem Gefühl des Verlassenseins und der Unendlichkeit, die vor mir lag. Abgestellt in einer Menge von Kindern und dem Personal, das keine Notiz von mir nahm, in diesem so christlichen Haus.
Vor Angst und Heimweh konnte ich nicht schlafen, Bett an Bett in dem großen Zimmer mit über 14 Schlafplätzen, wo die Jungs sich prügelten, während ich versuchte, mich klein und unsichtbar zu machen.
Auf dem Spielplatz war ich immer allein und ließ Autoreifen neben mir her rollen. Lediglich in dem Holzpavillon mit den Büchern lasen mir manchmal ältere Mädchen etwas vor.
Ich erinnere mich an den Zwang zum Essen, dann wenn die Teller nicht leer waren, durchgesetzt durch die Aufsicht. Ich sah wie Kinder erbrachen und das Erbrochene auslöffeln mussten – ich fühlte mich beschämt, weil ich nicht helfen konnte.
Ich wollte nur noch weg, nach Hause, aber die 6 Wochen wollten kein Ende nehmen. Ich fühlte mich von meinen Eltern verlassen, Anrufen oder anderer Kontakt waren verboten.
Obwohl ich eigentlich „trocken“ war, waren Bett und Hose immer wieder mal nass – heute sprechen Psychologen davon, dass die Kinder auf diese Weise ins Bett weinen. Ich wurde dafür ausgeschimpft und gedemütigt – ich habe mich so geschämt, hatte niemanden, der mir beistand, niemanden, der mich tröstete. Jeder einzelne Tag musste überstanden werden, die Zeit zog sich endlos dahin.
Als ich eines Nachts verbotener Weise aufs Klo musste und mich aus dem Schlafsaal stahl, erwischte mich die „Oberin“: Ich musste die Nacht auf der Toilette ohne Decke verbringen, endlose Stunden bis zum Morgen.
Ich kann mich erinnern, daß wir nur ein einziges Mal am Strand waren: Wir mussten uns festhalten, durften nur bis zum Knie ins Wasser, danach zurück zum Haus – mir wurde wurde ein toller Ferienaufenthalt am Meer versprochen, alles gelogen. Und dennoch kaufte ich meiner Mutter von meinem Taschengeld für 2 DM einen Seestern aus Keramik. Den habe ich heute noch, mein Name steht hinten drauf: „Jens. H.“.
Bis zum 6. Lebensjahr hatte ich einen Autounfall, eine Blinddarmentfernung, Polypen und Verdauungsprobleme – all das wurde im Krankenhaus behandelt, immer wieder getrennt von meinen Eltern. Und kurz vor der Einschulung die Kinderverschickung, das war offenbar zu viel. Meine ganze Jugend hatte ich immer extreme Verlustängste und extreme Angst vorm Alleinsein, das dauerte bis weit in die Pubertät. Heute arbeite ich aufgrund psychosomatischer Erkrankungen in einer Behindertenwerkstatt, ich habe einen Schwerbehindertenausweis.
Ich frage mich, wie mein Leben ohne all die schrecklichen Erlebnisse verlaufen wäre – wäre ich jetzt gesund und glücklich? Ich weiß, dass meine Erlebnisse nur ein winziger Bruchteil dessen sind, was andere Kinder in der Kur erleiden mussten. Ich kann nur gegen das Vergessen schreiben, und versuchen, mit dem Erlebten abzuschließen.
Als ich am 4. Dezember 2025 mit meinem besten Freund wieder vor der großen Treppe stand, spürte ich nur ein Unbehagen. Alles war verändert, nur das Haus erinnerte an damals. Leider wurde uns der Eintritt verwehrt. Ich hatte mir erhofft, dort anzuknüpfen, wo meine Erinnerungen aufhörten, aber das war aufgrund all der Veränderungen nicht möglich. Geblieben ist, dass ich diese Kinderverschickung als eine sehr traumatisierende Erfahrung in meine Biografie einordnen kann.