„Verschickung“ war ein in den 1950er bis 1990er Jahren gängiger Begriff im Gesundheitswesen und der Kinderheilkunde. Dabei sollten angeblich kranke oder bedürftige Kinder für etwa sechs Wochen mit Massentransporten zur „Gesundung“ in unterschiedliche „Kurheime“ verbracht werden. Es wurde vorsätzlich ein radikaler Bruch mit dem Elternhaus vorgenommen. Denn das Elternhaus galt in dieser Pädagogik nicht besonders viel. Dieser Bruch war von den „Heimen“ gewollt. Das war allerdings nach dem damaligen Stand der Wissenschaften sowie den Gesetzen unnötig, kindeswohlgefährdend und kriminell.
Hintergrund dieser Maßnahmen waren menschen- und kinderfeindliche Strategien der letzten Jahrhunderte, vor allem aus der NS-Zeit, aber auch Gewinnsucht der beteiligten Einrichtungen, Berufe und Personen. Bezahlt wurde das Ganze vor allem von den jeweiligen Krankenkassen oder sonstigen Trägern der Sozialversicherung. Es entstand eine riesige Kinderverschickungsindustrie, bei welcher viele gut mitverdienten: Wohlfahrtsverbände, öffentliche, freie und private Heimträger, Ärzte, Heimleiter, unqualifiziertes Personal („Tanten“), aber auch einweisende Ärzte in den Orten, wo die Kinder herkamen. Manche erhielten für ihre „Dienste“ finanzielle Zuwendungen. Man erfand eine Fülle von „Kuren“, welche den Kindern helfen könnten. Viele Kinder verließen das Elternhaus kerngesund und kamen körperlich krank und/oder für den Rest ihres Lebens als psychische Gestörte oder Traumatisierte zurück. Die finanziellen und sozialen Folgekosten musste die Gesellschaft übernehmen. Das Ganze fand statt unter Aufsicht, Mithilfe und Verschleierung von Jugendämtern, Gesundheitsämtern sowie Schulbehörden.
Einige Zahlen für die 1960er Jahre (S. 32ff.): Nach dem Ersten Jugendbericht der Bundesregierung von 1965 gab es über 800 Einrichtungen dieser Art; möglicherweise waren es auch über 1.000. Denn es gab viel Wildwuchs. Über die Hälfte dieser Heime befanden sich in privater Trägerschaft.
Aus Sicht einer humanen Pädagogik (Reformpädagogik) der 1920er Jahre hätte man stabile Gruppen von Kindern, die sich kannten, bilden müssen. Doch das Gegenteil war der Fall.
Kinder, die sich kannten, wurden mit Absicht in verschiedene Gruppen gesteckt. Das war sogar bei Kindern der Fall, wo ein älteres Geschwister einen kranken jüngeren Bruder bzw. die Schwester oder ein Nachbarskind zur Sicherheit begleiten sollte.
Auch in der NS-Pädagogik war es, wie dargestellt, das Ziel, gewachsene Bindungen und Beziehungen zu zerstören, um die jungen Menschen an neue Autoritäten zu gewöhnen.
Es wurden schon Kinder im Alter von zwei Jahren verschickt. Später wird noch dargestellt werden, dass das schon damals dem Stand des Wissens über Bindungsforschung widersprach.
Nach diesem Auftakt kommt es im Buch von Anja Röhl zwischen den Seiten 41 und 188, also auf etwa 150 Seiten zu vielen schlimmen Berichten über die Grausamkeiten, welche Kindern in den Heimen angetan wurden. Dabei wird nach geografischer Lage und Einrichtungen gegliedert. Auch mit Hilfe der unten vorgestellten Publikationen können die Opfer die Orte „ihrer“ Verschickung wiederfinden, sich informieren und hingehen.
Dieses Hingehen in der Gruppe, möglichst unter Begleitung von Fachkräften ist ganz wichtig. Dazu unten mehr bei der Begehung von Aprath in NRW.
Anja Röhl nennt auch Namen: Mehrere Heimbetreiber oder Kurärzte waren mit dem Nazi-System verstrickt. Einige wurden später gerichtlich verurteilt, weil sie an Morden beteiligt gewesen waren. (Über diese Leute fand ich auch etwas in den anderen Büchern sowie im Internet).
Es gab Todesfälle bei den Kindern. Man fand Nahrungsmittel in den Lungen. Es kam auch zu Knochenbrüchen. Ursachen war wohl die Zwangsernährung. Sehr häufig wurde berichtet, dass man das Erbrochene wieder aufessen musste. Für Viele die Ursache einer lebenslange Essstörung. Die Todesursachen von Kindern wurden verschleiert. Niemand wurde bestraft.
Umgang mit Beschwerden
Wenn Kinder krank aus der Kur zurückkamen wurde auf die Gewichtszunahme verwiesen (Röhl, S. 264). Vereinzelt kam es auch nach Beschwerden der Eltern zu Heimschließungen (Röhl, S. 268). Junge Praktikantinnen berichteten an die Aufsichtsbehörden – ohne Erfolg. Kaum eine Behörde kritisiert eine andere Behörde oder einen Heimbetreiber. Man kennt sich halt und hält zusammen. Auf der Seite 116 wird gezeigt, wie mit einer anderen Beschwerde umgegangen wurde. Nämlich gar nicht: Denn eine Praktikantin könne sich „kein Urteil erlauben“ (S. 116).
Nach der großen Resonanz auf ihre Öffentlichkeitsarbeit startete Röhl 2019 eine Online-Befragung. Von der Seite 189 an werden erste empirische Zahlen genannt:
Es kamen über 6.000 vollständig und mehr als 10.000 unvollständig ausgefüllte Fragebogen zurück. Die meisten Antworten waren von Menschen, die zwischen 1949 und 1969 geboren wurden. „Gehen wir von der genannten Kapazität von 56.000 Betten in 839 Heimen aus, die alle 7 bis 8 Wochen wechselten, so haben wir es hier auf jeden Fall mit einer Zahl von 8 bis 12 Millionen Kinderverschickungen zu tun“ (S. 189). Einige Kinder wurden mehrmals verschickt. In jedem Fall gibt es Millionen von Opfern, Beobachtern, Zuschauern und Zeugen – bis heute.
An traumatischen Erlebnissen wurden genannt:
- Trennung von den Eltern, Heimweh
- Essen und erzwungenes Essen
- Verhalten des Personals (Lieblosigkeit, Gewalt)
- Bestrafungen (oft willkürlich)
- Gruppenbestrafungen sowie Erniedrigung vor der Gruppe
- Abends nichts Trinken, danach Toilettenverbot
Neunzig Prozent der Kinder sprachen nach dem Heimaufenthalt von veränderten Beziehungen zu den Eltern bzw. Veränderungen in der eigenen Persönlichkeit (S. 192). Entsprechend wurden die Kuren von 94 Prozent der Befragten negativ bewertet (S. 198). Allerdings hatten aufgrund der vielen negativen Erlebnisse auch Feinfühligkeit, Einfühlungsvermögen und Empfindlichkeit gegenüber Ungerechtigkeiten zugenommen (S. 194). Aber um welchen Preis?
Wie kam es zu diesem mehr oder weniger einheitlichen menschenfeindlichem Verhalten vieler Tausend von Betreuerinnen quer über das Land und bei fast allen Trägern (Caritas, Diakonie, Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt, DAK, Eisenbahner-Versicherung, Kommunen sowie sonstige Träger)?
„Es kann doch nicht sein, dass sich einzelne sadistische Schwestern über Hunderte von Kilometern abgesprochen haben. Es kann auch nicht sein, dass sie alle aus einer einzigen Ausbildungsstätte gekommen sind. Das Ganze kann also kein reiner Zufall sein“ (S. 198).
Anja Röhl gibt die Antworten im letzten und stärksten Teil ihres Buches (S. 203-292). Bei ihrer „Ursachensuche“ präsentiert sie auf knapp einhundert Seiten insgesamt neun „Ursachenstränge“. Diese sollen hier kurz vorgestellt werden:
„Biografische Prägung während des Nationalsozialismus“
Die Jahrgänge von etwa 1920 an wurden vor allem in der späten Kindheit und Jugend von der Nazi-Pädagogik geprägt. (Dazu passt das oben besprochene Buch von Chamberlain). Demgegenüber waren frühere menschenfreundliche Ansätze, wie die Reformpädagogik, verboten. Deren Anhänger wurden unterdrückt, waren ins Ausland geflohen oder wurden ermordet. „Die älteren `Tanten´ in den Verschickungsheimen sind in der NS-Zeit ausgebildet worden und haben in ihr den wichtigsten ersten Teil ihrer Berufstätigkeit erlebt“ (S. 216). Teilweise waren sie auch in anderer Weise in die Eroberungs- und Vernichtungsmaschinerie der Diktatur verstrickt. Sie kannten nichts anderes und waren froh von den 1950er Jahren an wieder in Einrichtungen so oder ähnlich arbeiten zu können, wie sie es gelernt hatten. Viele waren auch durch den Krieg traumatisiert und konnten sich nicht eingestehen, dass sie um ihre Ideale betrogen wurden. Das gilt auch für die nächste Gruppe der Ursachenerklärung.
„Prägung durch NS-Schwesternschaft und Pflegeberuf“
Die meisten „Tanten“ kamen aus den Pflegeberufen und waren durch die NS-Ideologie von der Ungleichwertigkeit des menschlichen Lebens, sowie der Höherwertigkeit der „arischen Rasse“ (also der „Bio-Deutschen“) überzeugt. Vielleicht sind einige von ihnen auch direkt in Ausmerze-Aktionen verstrickt gewesen. (Andere Quellen weisen darauf hin). Das kann ihre emotionale Abgestumpftheit, die Mitleidlosigkeit und den Sadismus erklären. Der dritte Erklärungsstrang heißt:
„Strafende Pädagogik“
Weiter oben wurde beim Thema „Schwarze Pädagogik“ schon etwas zu diesem Thema geschrieben. Dazu kommt weiter unten in der Rezension des Buches von Schmuhl noch mehr.
Vom Kinderarzt und Leiter der Kinderheilstätte Bad Dürrheim, Hans Kleinschmidt, zitiert Röhl mehrere Seiten lang „Handlungsanweisungen“ (S. 232ff.) Interessant ist, dass Zwangsfütterungen und das Erbrochene aufessen müssen, zwar nicht schriftlich erwähnt, aber fast überall praktiziert wurde. Ziel war ja die Gewichtszunahme.
Nebenbei: Kleinschmidt erhielt zweimal das Bundesverdienstkreuz (1955 und 1967). Welche politischen und verbandlichen Gruppierungen mögen das gefördert haben?
Das ganze Verschickungssystem fand in Einrichtungen statt, bei welchen das Leben der Kinder vollständig kontrolliert und von der Außenwelt abgeschlossen wurde. Deshalb nennt Röhl als vierte Ursachenerklärung:
„Totale Institutionen“
Dazu gehören noch: Aufnahmerituale, Identitätsveränderungen durch Entzug persönlicher Gegenstände, Überwachung, Isolation gegenüber der Herkunfts- und Außenwelt (Postkontrolle, keine Elternbesuche) sowie positive Außendarstellung durch manipulierte Bilder und Erfolgsberichte. Das führt zur
„NS-Geschichte der Kinderheilkunde“
Die Kinderheilkunde, die spät als medizinische Fachdisziplin Anerkennung fand, geriet in der Diktatur in eine neue und wichtige Rolle. Sie sollte den Volkskörper „reinigen“ und die deutsche Rasse „veredeln“. Dazu gehörte die Sterilisierung und Ermordung von Menschen, die nicht ins rassistische Schema passten.
Prof. Werner Catel war einer der höchsten NS-Ärztefunktionäre. Er wurde nach 1945 Heimleiter in Königstein (Taunus) und hatte, wie Röhl schreibt, „nie auch nur das geringste Schuldgefühl oder Bewusstsein darüber, das er ein Massenmörder war“. 1954 ernannte man ihn zum Professor an der Kieler Universität.
„Viele der führenden Verantwortlichen haben weiter im Sinne ihrer Ideologie gewirkt“. So lehnten diese später nach 1945 als Gutachter Entschädigungen für die Opfer ab (S. 258). Es handelte sich um ein fast geschlossenes Kreislaufsystem einer ehemaligen Diktatur in einer beginnenden formalen Demokratie. Vielen ist die nächste Ursachenerklärung unbekannt.
„Balneologie sowie Klimaheilkunde und -therapie“
Spätestens seit der Turnerbewegung im 19. Jahrhundert glaubte man, dass Abhärtung die Gesundheit fördere. Stadtkinder, vor allem aus ärmeren Familien, galten als ungesund. Schon zu Ende des 19. Jahrhunderts gründeten sich Kurorte und Heilbäder, die Mineralwasser, gesunde See- oder Bergluft sowie Anderes als für die Gesundheit förderlich anpriesen. Auch hier scheint es wirtschaftliche Interessen gegeben zu haben.
„Medizinische Forschung“
Hier wird in erschreckender Weise deutlich, wie auch nach 1945 die ehemaligen NS-Ärzte in den Kinder-Kuranstalten einfach weitermachten – oft etwas vorsichtiger. Bei der Ankunft wurden die Kinder kurz beobachtet und in drei Gruppen eingeteilt (Selektion?). Die scheinbar „Zappeligen“ erhielten dann für die nächsten Wochen eine höhere Dosis Beruhigungsmittel in den Tee. Schon wenige Wochen nach Arbeitsbeginn in der Kinderheilstätte Mammolshöhe testete Dr. Werner Catel ein neues Präparat. Vier der Kinder starben. Es kam zu einem Verfahren gegen den Arzt; aber es erging kein Urteil (S. 285). „Bei all diesen Forschungen findet sich nirgends auch nur ein Wort zu den vegetativen Auswirkungen von plötzliche Trennung von Säuglingen und Kleinkindern von ihren Bezugspersonen oder zur Wirkung von Angst“(S. 280). Der vorletzte Ursachenstrang lautet:
„Ökonomie und Rendite“
Röhl errechnete anhand der Bettenkapazität einen jährlichen Umsatz von über 225 Millionen DM für die gesamte Kinderkurindustrie. Es gab viele Beanstandungen, auch einiger der an den Verschickungen beteiligten Jugendämter: Überbelegung, zu wenig und fachunkundiges Personal, Beschwerden der Eltern. So kam Röhl auf einen jährlichen Gewinn der Branche von etwa 100 Millionen DM. Eine Heimbetreiberin wollte in ihrer Geldgier sogar von der Bahnversicherung 12.000 DM Schadenersatz haben. Weshalb? Die Nordsee war zugefroren und eine Schiffsladung von 80 Kindern kam zu spät ins Heim. Es gab einen rechnerischen „Verlust“, weil die Kinder zu spät ankamen. Auch die Deutsche Bahn war als Monopolist am Geschäft beteiligt. Sie transportierte noch im Jahre 1977 über eine halbe Million Kinder (S. 288ff.). Mindestens zwei Kinder sollen bei den Massentransporten ums Leben gekommen sein.
Schlussbemerkung zum Buch von Anja Röhl:
Dieses Buch ist nicht nur eine Pionierleistung, sondern auch eine enorme Fleißarbeit. Es wurden mit Hilfe von Christiane Dienel Tausende von Fragebogen ausgewertet sowie viele Personen und Orte aufgesucht. Vor allem die Quellenstudien über die Nazi-Ärzte, die auch nach 1945 noch in krimineller Weise tätig gewesen waren, halte ich für sehr wichtig.