Birgit Lübben: Ware Kurkind

Was in Bremer Akten steht

Book on Demand, Norderstedt

2023
350 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-7568-8305-9

Die Autorin: Birgit Lübben wurde 1968 geboren und arbeitet in der Meeresforschung an der Universität Bremen. Im Jahre 1971 war sie als Dreijährige acht Wochen lang in einer "Kinderkur". Derzeit ist sie in Bremen für die "Initiative Verschickungskinder" als ehrenamtliche Landeskoordinatorin tätig. Als sie erfahren wollte, weshalb man ihr damals diese "Kur" angetan hatte, erlebte auch sie eine "Wand des Schweigens". Bevor Lübben sich mit dem Thema Kinderverschickung beschäftigte, hatte sie den Eindruck, dass nur sie "eine schlimme Kinderkur erlebt" hatte (S. 10). Nachdem sie sich gründlich in die Akten der Stadt Bremen vertiefte, kam sie dahinter, dass es Millionen von Kindern über Jahrzehnte hinweg so oder ähnlich, wie ihr selber, ergangen war.
Birgit Lübben: Ware Kurkind Was in Bremer Akten steht
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“Verschickungskinder – Worum geht es” (S. 11-39)? Lübben fand neun Einrichtungen, in welchen schon seit 1892 von Bremen aus Kinder verschickt wurden. Auf den Seiten 99-100 steht eine noch längere Liste von Entsendestellen aus dem alten Bundesgebiet. Die Kinder befanden sich meistens im Vorschulalter. Einige waren erst zwei Jahre alt. Es wurde zwischen Kinderheilfüsorge und Ferienerholung unterschieden. Das Jugendamt von Bremen verschickte in den 1960er Jahren durchschnittlich 3.500 Kinder pro Jahr. Der jährliche finanzielle Aufwand betrug knapp eine Million DM. (S. 14). Angeblich litten die Kinder an Infekten, Asthma, Bronchitis, Bewegungsproblemen oder Fehl- bzw. Mangelernährung (S. 16). Heute weiß man, dass längst nicht alle “Verschickungsgründe” rational und medizinisch notwendig gewesen waren. Denn es ging auch um ökonomische Interessen. Schon von Anfang an zeigte sich ein Mangel an qualifiziertem Personal. Hinzu kam, dass viele der “Heime” von den baulichen Gegebenheiten nicht geeignet schienen. Es gab Massentransporte der Deutschen Bahn mit Sonderzügen. “Aus den 50er- und 60er Jahren sind Fälle belegt, in denen auch aus der NS-Zeit belastete Mediziner Verantwortung in Einrichtungen trugen” (S. 22). Es wurden Medikamente und Psychopharmaka zur “Ruhigstellung” verwendet (S. 22). Auch in den Bremer Heimen hatte man Medikamente an Kurkindern getestet (S. 24). Viele der wirtschaftlichen Nutzniesser sind heute nicht bekannt. Lübben erwähnt mehrere Todesfälle in Heimen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Falle von “Stefan” wurden 1969 eingestellt. “Das bedeutet, Stefan war selber veranwortlich für sein Ersticken, niemand hat weiter nachgefragt, wie der Grießbrei in seine Lunge gelangen konnte. Der Tod von Stefan hatte keine Folgen für den Kurbetrieb” (S. 26).

Ein Zeitzeugnis von Birgit: Es folgt eine kurze Schilderung der Stationen der Verschickung der dreijährigen Birgit. “Ich habe von meinen Erlebnissen berichtet, doch meine Eltern wollten davon nichts hören. Es hieß nur, ich bilde mir alles ein” (S. 39).

“Was ist eine Kur”? Auf den Seiten 40 bis 56 wird allgemein beschrieben, wann und wie das Kurwesen im 19. Jahrhundert, zuerst für Adel und Oberschicht, entstand. Vor allem infolge der damals schwer behandelbaren Tuberkulose (TBC) sowie der Choleraepidemie in Hamburg (1892) wurden zunehmend Heilstätten für die ärmere Bevölkerung gegründet. Fortschritte in Medizin und Hygiene, die seit 1883 eingeführte Krankenversicherung als Pflicht für Arbeiter, wie auch der Einfluß der Sozialdemokratie, förderten die Einrichtung von Kurheimen für Kinder und Jugendliche.

“Bremer Heilstätten”: Auf den Seiten 57 bis 133 stellt Lübben Geschichte und Entwicklung der Bremer Heilstätten von den Anfängen bis zur Schließung vor. Dabei werden auch Namen genannt.

Das ökonomische Interesse: Bei den “Kurheimen” stehen die wirtschaftlichen Gesichtspunkte im Vordergrund: Tagessätze, Wechsel der Träger, Suche nach neuen Zielgruppen, Konkurse, Um- oder Neugründungen. Aufgrund der schlechten Personallage sei es schwierig, so junge Kinder zu betreuen. Deshalb sollte 1966 die “Altersgrenze” für einen “besseren Kurerfolg auf 6-13 Jahre festgelegt werden” (S. 97). Oder: “Weiterhin müsste für die Bettnässer-Kinder eine Zulage von 10 % erhoben werden und bei nicht ausreichender Kinderzahl wäre es empfehlenswert, Kurverlängerungen auszusprechen” (S. 98). Dabei wird allerdings verschwiegen, dass viele Kinder durch die Trennung von den Eltern und die schlechte Behandlung erst wieder in den “Kuren” zu “Bettnässern” geworden waren. Auch hier wird das ökonomische Interesse deutlich.  

Auf den Seiten 92-93 stellt die Autorin zwei weitere Todesfälle dar. Bei  den Kurärzten fehlt es nicht an Eigenlob: So schrieb Dr. Fraesdorff 1953: “Viele Kinder aus schwierigen, sozial bedrängten und häufig zerrütteten Familienverhältnissen kommen. Wir müssen stets bemüht bleiben, Erziehungsmängel und Umweltschäden durch liebevolle Behandlung, wenn´s sein muß, auch durch feste Hand, versuchen zu bessern und abzugleichen” (S. 94). (Schreibfehler im Original wurden übernommen). Und ein Jahr später schrieb derselbe Arzt, dass es ein Ziel sei, die zurückgeliebenen Kinder zu kräftigen und nach Möglichkeit so zu ertüchtigen, …”dass sie  nützliche Glieder der Volksgemeinschaft werden und den Lebenskampf erfolgreich bestehen können” (S. 95). Für mich ist das Nazi-Terminologie mit sozialdarwinistischem Kampf ums Dasein.

Kam es zu Beschwerden? Aufgrund des Personalmangels wurde für die Einrichtungen in Bremen auch auf Paktikantinnen der neuen sozialpädagogischen Fachschulen zurückgegriffen. Diese waren in der Regel besser ausgebildet als die alten Helferinnen aus der NS-Zeit oder die keinewegs immer frommen Nonnen und Schwestern. Wie in anderen Berichten von Opfern der Verschickung, gab es auch hier mutige junge Frauen, die Kritik übten. Aus einem Beschwerdebrief von Praktikantinnen an das Diakonissenmutterhaus von Bremen (1972): “Wir hoffen durch diesen Bericht zum Ausdruck gebracht zu haben, daß es für Kinder in diesem Heim keinesfalls eine Erholung geben kann, sondern durch psychischen und physischen Druck ein großer Teil der Kinder Schädigungen davonträgt” (S. 97; vgl. auch S. 302ff.). Weiterhin schrieben die Praktikantinnen: “Uns erscheint es einer Untersuchung wert, was mit den Geldern, die das Heim von Eltern, Entsendestellen und möglicherweise aus öffentlichen Mitteln erhält, geschieht und ob es richtig eingesetzt wird” (S. 107). Auf einer Vorstandssitzung des Heimträgers wurde diese Kritik als “unqualifiziert” bezeichnet. Denn nach zwei Wochen Praktikum habe man nicht die Fähigkeit, “die Arbeit im Heim zu diskreditieren” (S. 107). Weiterhin schützte ein Anwalt das Heim mit der Unterstellung, dass die Praktikantinnen von ihrer Schule her in diese Richtung hin “beraten” worden seien (S. 108). Das fand 1973 statt; also mehrere Jahre nach der berechtigten Kritik an der Öffentlichen Erziehung (“Heimkampagne”). Diese wiederum führte erst Jahrzehnte später zum “Runden Tisch Heimerziehung” sowie zur Zahlung von mageren Entschädigungen. Ich halte es für wichtig, sich diese lange Zeitverzögerung zwischen Taten und öffentlicher Entschuldigung mit Entschädigungen zu merken. In der Regel passiert das nämlich erst dann, wenn die Täter alt oder nicht mehr am Leben sind. Schon damals lief das wie folgt ab: Eine Beschwerde beim Bundesministerium für Gesundheit wurde wegen Nicht-Zuständigkeit an das Niedersächsische Kultusministerium weitergeleitet und von dort an das Sozialministerium des gleichen Bundeslandes durchgereicht. Den Rest kann man sich denken.

“Zeitzeugnis von Silke” 1979 (S. 110-133): Dieses ehemalige Verschickungskind sah am 10. September 2019 eine ZDF-Sendung von Report Mainz über die Verschickungskinder. Danach hatte sich ihr Leben “verändert”. Sie erlebte unangenehme Rückerinnerungen (“Flashbacks”), Schlafstörungen sowie depressive Episoden. Als Zehnjährige wurde sie zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester von der Stadt Bremen in das Adolfinenheim nach Borkum verschickt. Während des Aufenthaltes hatte man die Schwestern getrennt. Silke wurde von den Nonnen misshandelt.

Es folgt ein Blick auf die Organisationen, welche in der Weimarer Republik Kinder aus Bremen verschickten, versehen mit der Anzahl der Kinder sowie der Versorgungstage (S. 114f.).

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es 1949 zum Neustart. Lübben erwähnt das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1923.

Aber weshalb übernimmt die Autorin kritiklos folgende Bemerkungen eines hohen Beamten von Bremen bzw. aus dem Gästebuch: “Tatsächlich wurde durch die Stadt Bremen 1949 schon das Wohl der Kinder an erste Stelle gestellt” sowie “Die Kinder wurden durch pädagogisch geschultes Personal betreut” (S. 118). Lübben hatte doch mehrfach an anderen Stellen zu Recht hervorgehoben, dass das nicht der Fall war.

“Die Bremer Gesundheitsverwaltung im Nationalsozialismus” (S. 134-187): Dieses wichtige Kapitel ist unsystematisch. Es werden verschiedene Akteure der Gesundheitsverwaltung von Bremen erwähnt sowie erläutert, was mit diesen nach 1945 geschah: Fanatische Nazis, Mitläufer und heimliche Gegner. Es wurden die tausendfachen Morde der verschiedenen “Euthanasie-Aktionen” benannt. Auf den Seiten 170ff. wird die Aktion “Lebensborn” beschrieben.

Auch in der NS-Zeit kam es zu Beschwerden von Eltern gegen die Praktiken in der Verschickung. Eine Mutter wurde von den Behörden in ähnlicher Weise abgefertigt, wie das nach 1945 vorkam (S. 175-177).

“Bremen in der Nachkriegszeit” (S. 188-234): Mit Mintje Bostedt wurde eine ehemals NS-Verfolgte zur neuen Leiterin des Jugendamtes von Bremen ernannt. Wie erging es den Akteuren von früher? Der NS-Verfolgte Prof. Hesse kämpfte 13 Jahre lang vergeblich für eine Entschädigung. Demgegenüber wurde ein bekannter NS-Kinderarzt, der auch für Heime zuständig gewesen war, nach 1947 als “Mitläufer” eingestuft.

“Der Nutzen von Kinderkuren” (S. 235-260): Krankenkassen, Wohlfahrtsverbände, Kommunen, Länder, der Bund und Eltern zahlten über Jahrzehnte “enorme Summen in Form von Tagessätzen für die Unterbringung, die Ernährung, die Heilbehandlung der Kinder”. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob Kinder “nicht einfach an ihren Heimatorten behandelt werden” konnten? (S. 235). Das betraf vor allem die jüngeren Kinder im Vorschulalter. Denn schon damals waren die schädlichen Folgen einer längeren Trennung von den Bezugspersonen bekannt. Prof. Ulrich Kanzow veröffentlichte 1987 einen kritischen Artikel  über die Kinderkuren im “Ärzteblatt”. Er fragte, weshalb das “in Kurorte ausgelagerte medizinische Leistungsangebot nicht auch in den Akutkrankenhäusern wohnsitznah angeboten werden” könne.

Vielleicht habe sich bei den Rentenversicherungsträgern ein “Betätigungsehrgeiz und Expansionsdrang auf fremde Aufgabengebiete und in den Kurorten die Suche nach Marktlücken” entwickelt?

“Hat hier ein jeder stets die besten Absichten”? (S. 236).

Schwere Erkrankungen wie Asthma, Arthrose u.v.a. könnten gar nicht vollständig in einer sechswöchigen “Kur” behandelt werden.

Teile des Kurwesens sollten in die “wohnortnahe Krankenhaus- und Hausarzt-Behandlung reintegriert werden”. In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff “Sozialfilz” verwendet (S. 237).

Diesen wichtigen Gedanken folgen kurze Untersuchungen über Praktiken, die in den “Kuren” angewendet wurden. Leider ist auf den zwanzig Seiten (S. 238-260) die Darstellung nicht klar gegliedert. “Liegekuren” (S. 238): Lübben hält mit anderen Autoren den medizinischen Nutzen von Liegekuren, vor allem für Kinder, für “umstritten”. Weshalb soll der natürliche Bewegungsdrang unterbunden werden? Ähnliches gilt für die “Kriechmethode” (S. 239). Auch  die Behandlung der “Fettsucht” (S. 240) in den Kinderkuren sei ebenfalls “fragwürdig”. Das gelte auch für “Trinkkurbehandlungen” (S. 241). Dabei beleuchtet Lübben die Angebote eines Unternehmens, welches neben salzhaltigen Heilgetränken aus der Tiefsee auch Hautcremes und Ähnliches anbietet (S. 243).

“Einkünfte der Badeärzte” (S. 248ff.): In diesem Abschnitt präsentiert Lübben die damaligen Einkünfte von Badeärzten. Verdient wurde an der Eingangsuntersuchung, bei Kurverlängerung sowie beim Abschlussbericht. Beispielsweise erhielt ein Badearzt im Adolfinenheim auf Borkum bei einer Vollbelegung von etwa 200 Kindern für jede sechswöchige Kur (ohne Sonderleistungen) etwa 12.000 DM. (S. 249).

Der Interpretation von Lübben stimme ich zu: “Hier zeigt sich, Geld ist als Steuerungsmedium prinzpiell blind gegenüber Fragen der medizinischen Relevanz und Angemessenheit oder der Menschenwürdigkeit (sic!) von Massnahmen oder Unterlassungen” (S. 249). Ich ergänze, dass auch die vielen pseudowissenschaftlichen Untersuchungen, welche den Sinn von diesen “Kuren” beweisen sollten, vom Erwerbssinn gesteuert wurden. Dazu gehört das nächste Thema. Leider wird das auch übergangslos im Text dargestellt:

“Gesundheit als Ware” (S. 249ff.): Dabei geht es um den Einsatz von Medikamenten zur Beruhigung von Kindern aber auch zu Testzwecken. In der Regel passierte das ohne Wissen und Einwilligung der Erziehungsberechtigten. Lübben nannte unter anderem: Hoffmann La Roche, Hoechst, Bayer; aber auch die Firma Grünenthal, welche das für Schwangere sehr schädliche Contgergan herstellte. Die Folgen sind bekannt. Es wurden viele Kinder mit Fehlbildungen geboren. Es kam zu  einer unbekannten Zahl von Todesfällen.

Eine Forschung an der Universität Kiel über die Verschickungskinder von 2023 zeigte, dass schon damals Gesetze verletzt wurden. “Wünschenswert wäre es, würden die Länder und Krankenkassen ihre Archive durchforsten und damit ihre historische Verantwortung übernehmen, wie es die DAK mit einer Studie durch den Historiker Prof. Walter Schmuhl 2023 getan hat” (S. 260).

“Erziehungsmethoden” (S. 261-283): Ausgehend von einer Erläuterung der “Schwarzen Pädagogik” (vgl. meine Rezension des Buches von Sigrid Chamberlain) wird zu Recht gefragt, was die damalige Pädagogik zum Unwesen der “Kinderkuren” zu sagen hatte oder umgekehrt: “Wie konnte im Jahre 1971 in Kinderkurheimen immer noch überwiegend, trotz Kenntnis der neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse in der Erziehung, durch PädagogInnen ein Handeln der ´Schwarzen Pädagogik` praktiziert und toleriert werden”? (S. 264).

Auf der  Seite 272 beginnt übergangslos ein neues Thema. Dabei stellt die Autorin Werdegang und Wirken der späteren Leiterin des Jugendamtes von Bremen, Frau Mintje Bostedt, vor. Das gehörte meiner Meinung nach in des nächste Kapitel:

“Bremen als Vorbild”? (S. 283-319): Denn ab der Seite 287 wird noch mehr zum Wirken von Mintje Bostedt, sowie anderen, geschrieben. Zwischendurch fand ich auf der Seite 290 einen Vergleich von drei Kinderkurheimen, in welche Kinder aus Bremen verschickt worden waren: Wangerooge, Borkum (Adolfinenheim) und Holdheim im Sauerland. Hier hätte mir eine Zwischenüberschrift geholfen, um zu verstehen, dass ein neues Thema beginnt.

Es folgen Auszüge von Protokollen aus Vorstandssitzungen. Diese beschäftigen sich meistens mit den baulichen Zuständen in den Heimen und kaum mit pädagogogischen Themen.

Auf der Seite 302ff. kommt Lübben nochmals auf den Beschwerdebrief der Praktikantinnen an das Diakonissenmutterhaus von Bremen zurück. So erklären sich die längeren Textwiederholungen von den Seiten 107-109.

Entsprechend knapp und fehlerhaft (vgl. S. 321 oben) ist die Zusammenfassung des Buches (S. 320-324):

Meine Bewertung: Bei dem Buch von Birgit Lübben über die “Ware Kurkind” handelt es sich einerseits um eine Fleißarbeit. Es ist vorwiegend eine Dokumentenanalyse (Archive, Presse) über die von Bremen ausgehenden Aktivitäten in diesem Bereich. Ihre Untersuchung startet im 19. Jahrhundert. So wunderte ich mich nicht, dass Lübben viele Kontinuitäten entdeckte, die schon lange vor 1933 praktiziert wurden; wie beispielsweise die “Schwarze Pädagogik”. Ähnlich wie andere Autorinnen fand sie heraus, dass für die Kinderverschickung nach 1945 nicht alles vorbei war. Sondern es kam zu einem neuen Aufschwung: Vorwiegend mit altem Personal und ohne Pädagogik. Im Vordergrund stand das wirtschaftliche Interesse. Das war gepaart mit gesundheitlichem, religiösem, nationalistischem und pseudopädagogischem Beiwerk.

Seit den 1980er Jahren wollte eine neue Generation von Eltern ihre Kinder   nicht mehr in diese dubiosen Einrichtungen abgeben. Diese Eltern zogen es vor, mit ihren Kindern gemeinsam in die Ferien zu fahren und mochten Nachteile, etwa durch entgangenen Schulunterricht, nicht mehr hinnehmen.

Lübbens Buchtitel stellt das ökonomische Interesse in den Vordergrund. Hier habe ich mehr erwartet. Wer waren die finanziellen Nutznießer? Wem gehören die Einrichtungen heute? Wieviele öffentliche Mittel und  Elternbeiträge sind in diesen Werten vorzufinden?

Wie aus anderen Berichten wird auch in der Untersuchung von Lübben deutlich, dass nicht nur die “Heime”, sondern ebenso Gesundheits- und Jugendämter sowie die Politik versagt hatten.

Andererseits: Das Manuskript hätte lektoriert oder mindestens zur Korrektur gelesen werden müssen. Wiederholungen und Schreibfehler erschwerten mir die Lesbarkeit. Die Texte sind unsystematisch. Einige Kapitel umfassen wenige Seiten. Andere sind knapp einhundert Seiten lang. Teilweise wusste ich beim Lesen nicht mehr, bei welchem Thema ich mich befand. Langes Lesen aus den vielen Protokollen ermüdet. 

Ein weiterer Mangel ist das Fehlen eines Literaturverzeichnisses.

Welches Buch von Hurrelmann (S. 348) bzw. Giesecke (S. 349) wurde benutzt?

Für eine Überarbeitung dieses vermutlich in Eigenregie entstandenen Buches könnte eine Straffung sowie theoretische Einordnung hilfreich sein: Vorurteilsforschung, Labeling-Prozesse, bürokratisches Machtgehabe, Institutionenkritik, Nachwirken des NS in Heimen, Behörden und Politik, Versagen der damaligen akademischen Pädagogik.

Welchen Nutzen hat das Buch? Hilfreich mag es für die vielen tausend Opfer aus Bremen sein herauszufinden, in welchem “Heim” ihnen damals Gewalt angetan wurde. Wichtig ist es auch zu wissen, dass man in den Archiven von Bremen eventuell etwas über sich finden kann. Auch trotz der formalen Mängel liefert das Buch von Lübben weitere Beweise, wie unmenschlich es im Bereich der “Kinderkuren” zuging. Dabei steht der Stadtstaat Bremen im Mittelpunkt. Vor allem die vielen Protokolle geben Einblick darüber, wie das Unrecht von oben her gewinnbringend und bürokratisch abgehandelt wurde. Kaum eine Spur von zeitgemässer Pädagogik, dem Stand der damaligen Kinderpsychologie oder gar Selbstkritik. 

Ich stimme der Schlussbewertung von Lübben zu: “Auch die Stadt Bremen hat über lange Jahre weggeschaut und billigend in Kauf genommen, wie Kindern Unrecht und Leid widerfahren ist” (S. 305).

 

Dr. Nando Belardi

Univ.-Professor (i. R.) für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik/Sozialarbeit

Supervisor (DGSv), Psychotherapie (HPG)

Bergisch Gladbach bei Köln

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