Im ersten Kapitel wird auf den Stand der Literatur über die Verschickungen verwiesen sowie die Fragestellung erläutert. Aufgrund von Quellen (Protokollen) und vielen Fotos wollen die Verfasser „den Alltag des Adolfinenheims aus unterschiedlichen Perspektiven nachzeichnen“ (S. 7). Im zweiten Kapitel wird einiges über das Seebad Borkum mitgeteilt. Gemäss britischen Vorbildern entwickelte sich die Insel zu einem bekannten Seebad für Wohlhabende. Später errichteten verschiedenen Träger dort auch Heime für Kinder. Die Kinder sollen unter gesundheitlichen Problemen und sozialen Benachteiligungen gelitten haben. Das Adolfinenheim entstand 1921 durch eine Stiftung. Bis zum Konkurs der Einrichtung im Jahre 1996 wurden alleine dort etwa 90.000 Kinder „behandelt“. Schon lange vor der Nazi-Zeit entwickelte sich Borkum zur „Hochburg des Bäderantisemitismus“. Denn „ein 1897 erschienener Inselführer hob als besonderen Vorzug Borkums hervor, ´daß es judenrein ist`“ (S. 12).
Im dritten Kapitel wird die Chronik des Adolfinenheims vorgestellt. Die Kindererholungsstätte verzeichnete schon früh steigende Belegungszahlen. Die NS-Zeit muss ich leider auslassen. Das würde den Rahmen dieser Buchbesprechung sprengen. Nach 1945 nannte man sich Kinderheilstätte. 1973 erfolgte kurzfristig die Aberkennung als Kurkinderkrankenanstalt. Doch durch politischen Druck wurde diese „Verfügung wieder aufgehoben“ (S. 23).
Im vierten Kapitel wird das Adolfinenheim im Sinne von Goffman als eine „totale Institution“ dargestellt: Totale Kontrolle über die Kinder; nicht nur bei den Kontakten mit den Eltern, Essen, Schlafen sondern auch bei den Auscheidungsvorgängen. Trennung von Kindern, die sich vorher schon kannten. Briefzensur und Beschlagnahmung von privaten Gegenständen. Gewalt sowie Missachtung von kindlichen Bedürfnissen. Sollten diese Kinder, wie Generationen vor ihnen, auch ängstliche Untertanen werden?
Die Autoren nennen das fünfte Kapitel „Kulturgeschichte der Kinderkur“: Diese Kuren sollten vor allem benachteiligten Kindern aus den Großstädten helfen, wieder gesünder zu werden. In den Kriegsjahren gingen die Belegungen zurück, weil die Plätze für Kriegsverletzte benötigt wurden. Seit 1946 stiegen die jährlichen Belegungszahlen von etwa 1.000 auf knapp 2.000 im Jahre 1954 wieder an, um dann auf etwa 1.500 jährlich (1967) zu sinken. 1990 kamen nur noch 614 Kinder (S. 21, 25). Entsendestellen waren die Gesundheits- und Jugendämter. Zusammen mit den Wohlfahrtsverbänden wurden diese zu „Drehscheiben zwischen den Familien, Ärzt:innen und den Heimen“ (S. 42). Es wurden Entsendeverträge abgeschlossen. Auch die Eltern waren vertraglich eingebunden und hatten einen Kostenanteil zu zahlen.
Das sechste Kapitel hat die Überschrift „Medizinische Aspekte der Kinderkuren. Der Kampf gegen ´Kinderfehler`“. Darin geht es um möglichen Krankheiten und die vielen angeblichen Heilmethoden. Es gab Mast-, Abnahme- und Trinkuren mit aus heutiger Sicht zweifelhaften Methoden. Auch im Buch von Engelbracht und Tischer wird auf eine Quelle aus dem „Ärzteblatt“ (Nr. 42/1986) verwiesen, wonach viele dieser Methoden einen „sehr geringen medizinischen Wert“ gehabt haben sollen (S. 43). In einem Geschäftsbericht des Adolfinenheims vom 1992 wurde erwähnt, dass man auch Kinder aus sozial schwachen Milieus „belegungsbedingt“ aufgenommen habe (S. 48). Ich verstehe das so, dass bei solchen „Fällen“ die optimale wirtschaftliche Auslastung des Adolfinenheims und nicht die Gesundheit der Kinder an oberster Stelle gestanden hatten. Hier hätte ich mehr kritische Analyse gewünscht. Das gilt auch für den auf der gleichen Seite erwähnten Hinweis aus dem Buch von Anja Röhl über das „Elend der Verschickungskinder“. Danach haben 94 Prozent der befragten Verschickungskinder ihre „Kur“ negativ bewertet und 61 Prozent leiden noch heute unter den Langzeitfolgen (2022, S. 198).
Diese bundesweite gigantische Verschickungsmaschinerie konnte neben den begünstigenden Ämtern nur funktionieren, weil entsprechendes Personal vorhanden war. Das waren gut verdienende Heimärzte, oft mit NS-Vergangenheit (vgl. Birgit Lübben: „Ware Kurkind“ (2023, S. 248ff). Das Modell vom „Arzt als Erzieher“ (S. 45) war allerdings schon vor der Nazi-Zeit entstanden. Zusätzlich wurden billige Arbeitskräfte für die Alltagsarbeit in den Heimen benötigt.
Das siebte Kapitel lautet: „Diakonissen in der Kinderverschickung. Die Macht der Nächstenliebe“. Nach der Satzung des Adolfinenheims sollte die Einrichtung evangelischen Charakter haben. Im Jahre 1836 gründete das Ehepaar Friederike und Theodor Fliedner nach urchristlichem Vorbild nördlich von Düsseldorf die Kaiserswerther Diakonie. Hier wurden unverheiratete fromme Frauen in Krankenpflege oder Kindererziehung ausgebildet. 1867 entstand in Bremen das Diakonissenhaus. Viele Diakonissen stammten aus ärmlichen Verhältnissen. Sie gelobten Armut, Ehelosigkeit sowie Gehorsam gegenüber der Oberin. Die jungen Frauen sollten ihr Leben der Hilfe für Kranke und Schwache widmen. Aus heutiger Sicht halte ich eine solche Lebensführung für problematisch. Hier fehlt der Raum, um auf die oft krankhaften Aspekte dieser Lebensziele hinzuweisen. Die neuere Forschung über die helfenden Berufe gibt viele Hinweise in diese Richtung. Weshalb hatte man frustrierte und schlecht ausgebildete Menschen auf Millionen von wehrlosen Kindern losgelassen?
Erst im Jahre 1980 übernahm ein Mann und Diplom-Sozialpädagoge die Leitung des Adolfinenheims (S. 75). Auf den Seiten 76ff. erwähnen die Verfasser die Kritik von drei Praktikantinnen am Adolfinenheim – und wie damit umgegangen wurde. Auch diese Geschichte wird im Buch von Birgit Lübben erwähnt (dort: S. 107ff., 302ff.).
Das achte Kapitel heisst: „Schwarze Pädagogik im Adolfinenheim. Kinderseelen im Schatten der Angst“. In diesen kurzem Kapitel wird auf die „Schwarze Pädagogik“ hingewiesen. Diese ist an anderen Stellen schon öfters erläutert worden (vgl. meine Sammelrezension). Eine Zwischenüberschrift lautet: „Kur als Strafe“: „Im Adolfinenheim ging das Personal grundsätzlich rücksichtslos mit den Kindern um“…. (S. 85).
Das neunten Kapitel lautet: „Vier Einblicke in eine Welt für sich. Interviews mit Verschickungskindern“. Für Millionen von heute älteren Menschen gilt folgende schmerzliche Erkenntnis: „Wie ein ‚Spuk scheinen die sechs-, manchmal neunwöchigen Kinderkuren über das Land und die Kinder hereingebrochen zu sein“ (S. 89). Es folgen Interviews mit heute älteren Menschen, die als Kinder Opfer des Adolfinenheims in Borkum gewesen waren.
Das zehnte Kapitel lautet: „Resumee. Was bleibt“? Es enthält eine kurze Zusammenfassung dieses Buches. Danach kommen Anmerkungen, Hinweise auf Archive, Bildnachweise, eine Literaturliste, Übersicht der Zeitzeugen-Interviews, sowie ein Anhang Dokumente. Wichtig ist auch der Hinweis für Borkum-Kontakte:
borkum@verschickungsheime.de
Schlussbemerkung: Das Buch ist hervorragend aufgemacht. Es sind viele Bilder und Originalquellen abgedruckt. Die Gliederung ist klar. Alles ist gut lesbar. Manches hätte ich mir kritischer gewünscht. Warum fehlt der Biss? Immerhin fordern viele Opfer von derartigen „Kuren“ heute zu Recht Anerkennung und Entschädigung.
Erstaunlich ist der Preis: 18 Euro! Kaufempfehlung!
Dr. Nando Belardi