Wie ist das Buch von Hilke Lorenz aufgebaut und was steht drin?
In der Einleitung wird von einem 21 Monate alten Mädchen berichtet, welches 1973 für zwei Monate in ein Heim kam und danach ihre Mutter und Schwester nicht mehr wiedererkannte. Sie soll bei der Abholung gesagt haben: „Oh, meine Tante Mama und meine Schwester“ (S. 33).
Im Jahr 1973 kannte man schon die Forschungen über die große Bedeutung von Beziehung und Bindung im frühesten Kindesalter. Diese waren sogar Lehrgegenstand an Universitäten und wurden manchmal schon in der Ausbildung von Erzieherinnen, Sozialpädagogen und Psychologen vermittelt: Das erste Buch von Erik Erikson über „Kindheit und Gesellschaft“ erschien in deutscher Sprache seit 1957. Das waren sieben Jahre, nachdem der Verschickungsterror wieder anfing. Die ersten Schriften von René Spitz über Kontaktentzug („Hospitalismus“) sowie die Folgen mangelhafter Beziehung sowie erschwerter Bindung für das Leben hatte ich in deutscher Sprache schon 1967 während meines Studiums an der Universität Gießen gelesen.
Von Peter Fürstenau kam 1968 in „Soziologie der Kindheit“ eine Zusammenstellung des internationalen Forschungsstandes zu diesen Themen heraus.
Zurück zum Buch von Lorenz. Es gliedert sich in zehn Kapitel und beginnt mit dem „Heimweh-Trauma“ eines Mädchens in einem „Verschickungsheim“ in Bad Rappenau.
Im zweiten Kapitel wird der Frage nachgegangen woher eigentlich diese „Heimpädagogik“ stammt. Wie kam die Idee der „Kinderkur“ in die Welt? Als Antwort werden Ideologien autoritärer Gesellschaftsvorstellungen benannt. Diese gab es vor allem schon im 19. Jahrhundert: Unterordnung, Kräftigung und Abhärtung des Menschen. Seit den 1920er Jahren begannen verschiedene Träger mit der Entwicklung von Spezialheimen für alle möglichen, oft den Kindern angedichteten, Krankheiten.
Im Kapitel Drei wird „das NS-Erbe“ beschrieben. Im Mittelpunkt stehen hier einige NS-Kinderärzte, die auch an „Euthanasie-Projekten“, also der Ermordung von sogenanntem „lebensunwertem Leben“, beteiligt gewesen waren und nach 1945 im Heimbereich weiter arbeiten konnten.
Weiteres zu diesem Thema wurde schon weiter oben geschrieben.
In den Heimen kam es bei Kindern auch zu Fluchtversuchen. Manchmal beschwerten sie sich auf Umwegen bei den Eltern. Selten erfuhren sogar Jugendämter über die Zustände in den Heimen. Doch ein Chefarzt argumentiert mit einer Täter-Opfer-Umkehr und wirft den Eltern und Jugendbehörden vor, dass die Kinder „zu einem großen Teil aus der sozialen Hefe des Volkes stammen und sich auch so aufführen“ (S. 109). Weiterhin wären auch die räumlichen Bedingungen schuld sowie große Speisesäle und mangelndes Personal. Wörtlich: „Kein Wunder, dass es dann heißt, die Kinder müssten bei uns das Gespuckte wieder essen. Was natürlich (hoffentlich) nicht wahr ist“ (S. 112). Also war auch dem Chefarzt bekannt, dass die Kinder ihr Erbrochenes wieder aufessen mussten und er baut einer möglichen Kritik vor, indem er die Schuld auf Anderes lenkte.
Auf den Seiten 117-118 schreibt Lorenz über „Kinderkurärzte mit NS-Vergangenheit“.
Im Kindersanatorium Mövennest auf Borkum war der Arzt Werner Scheu tätig. „Der ehemalige SS-Untergruppenführer war an der Erschießung `arbeitsunfähiger Juden´, so der Nazijargon, im Memelland beteiligt. Bis zu seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft im Jahr 1964 lebte er unbehelligt als Kurarzt auf der Nordseeinsel“ (S. 118). Nach dem Urteil hatte man ihn, wie damals üblich, schon sechs Jahre später aus der Haft entlassen.
In einem Heim der Arbeiterwohlfahrt arbeitete ein Kinderarzt, gegen den wegen des Verdachtes auf Unzucht mit Kindern ermittelt wurde. Doch die Sache verläuft im Sande. Es kommt nicht zu einer Anklage oder Verurteilung (S. 154).
Schockiert war ich von der Geschichte des „Rekordhalters“ bei den Verschickungsheimen, einem Jungen namens „Albert“. Dieses Kind wurde insgesamt 13 Mal in fünf verschiedene Einrichtungen verschickt (S. 221-249). Mehr als zwei seiner 14 Lebensjahre verbrachte der Junge, meistens in (kirchlichen) Einrichtungen.
Sein erster „Kuraufenthalt“ fand im Alter von drei Jahren und zwei Monaten im Jahre 1967 statt.
Im gleichen Jahr wurde „Albert“ zum ersten Mal im Namen der Gesundheit von verschiedenen Behörden Gewalt angetan. Er war immer der „Kränkeste“: Atemnot, Stirn und Nasenhöhlen wurden durchgespült, narkotisiert, Polypen entfernt. Die „Klimatherapie“, deretwegen er an die Nordsee verschickt wurde, konnte aus organisatorischen Gründen, nicht durchgeführt werden. Akten hatte man schlampig geführt und er wurde weiterhin stigmatisiert. Das ist ein Stigmatisierungsprozess, den wir auch aus der „Jugendhilfe“ kennen. Für Albert gab es „kein Entkommen aus der Kurverschickungsmaschinerie“ (S. 230). Später wurde er Religionspädagoge und beschäftigte sich mit der Ausbildung von Erzieherinnen.
„Wie sehr die Geschichte der Verschickungskinder Teil der deutschen Geschichte und Folge der NS-Geschichte ist“, wurde Hilke Lorenz schnell klar (S. 292). Sie spricht auch deutlich die (finanziellen) Nutznießer dieses Systems an: Wohlfahrtsverbände als Träger vieler Heime, Krankenkassen, Rentenversicherungen, Heimpersonal, Kinderärzte. Einige erhielten Gelder oder sonstige Leistungen oder Zuwendungen, wenn sie möglichst viele Kinder entsenden konnten.
„Die Erlebnisse der Verschickungskinder, diesen blinden Fleck der deutschen Geschichte, endlich zu erforschen ist aber nur das eine, was überfällig ist“ (S. 295).
Schlussbemerkung zum Buch von Lorenz:
Das Buch enthält durchgängig eine Mischung von Erlebnissen einzelner Kinder sowie Fakten über Täter und Orte, meistens aus den Dokumenten. Alles ist traurig-spannend und gut lesbar aufbereitet: Ein Erlebnis und dann die Hintergründe. Allerdings hätte ich mir bei einigen Schilderungen einen besseren chronologischen Ablauf gewünscht. Bei Lorenz fand ich ein Literaturverzeichnis. Doch ein Quellenverzeichnis habe ich vermisst.
Für mich als Leser wissenschaftlicher Literatur ist diese Darstellung etwas ungewohnt. Besser hat mir dabei die Darstellungsweise von Anja Röhl gefallen. Kapitel mit Fakten am Anfang dann mit 150 Seiten Berichten, oft nach Einrichtungen gegliedert und dann nochmals Fakten sowie Schlussfolgerungen.
Auch im Buch von Lena Gilhaus wird ähnlich wie bei Röhl verfahren.