München: Heyne Verlag 2023, 400 Seiten, 22 Euro
Die Autorin
Luise Diekhoff ist das Pseudonym der 1971 geborenen Journalistin und freien Autorin Simone Veenstra. Ihre Mutter arbeitete während der Sechzigerjahre als Kinderpflegerin in einem “Kindererholungsheim” auf Norderney.
Historischer Hintergrund
Die Autorin beschreibt Vorgänge um ein fiktives “Heim” namens Strandhafer auf der Insel Norderney. Für ihren Roman betrieb sie Nachforschungen über die “Verschickungskinder”. Damit sind etwa zehn Millionen Kinder in der damaligen BRD gemeint. Diese hatte man zwischen 1950 bis 1990 aus “gesundheitlichen Gründen” mit Massentransporten in Heime verschickt, um “gesünder” zu werden.
In Wirklichkeit wurden Millionen dieser Kinder durch diese “Behandlungen” für ihr Leben geschädigt. Denn in den Nachkriegsjahren waren viele Betreiber und ihr Personal untergetauchte Nazis. Es kam zu finanziellen Bereicherungen, die bis heute nicht geklärt sind. Alle Personen im Roman sind fiktiv. Aber es hatte sie tausendfach gegeben.
Rahmen
Das Buch gliedert sich in 77 Kapitel. Ich würde diese eher Szenen nennen.
Für mich wäre es beim Lesen hilfreich gewesen, wenn die Autorin dafür Überschriften gefunden hätte.
Die in diesen Kapiteln enthaltenen kurzen Handlungen beschreiben die Erlebnisse von verschiedenen Kindern und Erwachsenen. Was mir das Lesen anfangs erschwerte war die Tatsache, dass zusätzlich noch weitere Ebenen collagenartig eingeführt wurden. Diese häufen und verdichten sich, je mehr sich die Handlung den Höhepunkten des Romanes nähern: Kurze Schlagertexte aus Filmen der Vor- und Nachkriegszeit, Szenen aus dem Krieg, die Bombardierungen sowie die Zwangsarbeiter aus den Lagern von Norderney. Dabei handelte es sich auch um Flashbacks, also plötzlich auftretende Erinnerungen an traumatische Erlebnisse von früher.
Handlung
Das Buch beginnt im Jahre 1962 mit der Überfahrt auf die Insel Norderney. Auf der Fähre befinden sich Hanna und ihre Cousine Evi. Beide sind angehende Kinderpflegerinnen und wollen im “Heim” Strandhafer ein Praktikum absolvieren. Sie beobachten einen Transport von Kindern, der für diese Einrichtung bestimmt ist. Darunter befindet sich auch Rita, die zweite Hauptfigur des Romans.
Später gerät Wilko Janssen, der Hausmeister des Heims, in die Rolle der dritten Hauptfigur. Heimleiterin ist Frau Dr. Waldeck (Schwester des “Nazi-Helden” Horst Wessels) sowie Ärzte, teilweise mit NS-Vergangenheit. Wie damals in diesen “Heimen” üblich, wurde den 60 Kindern vom pädagogisch nicht ausgebildeten Personal Gewalt angetan.
Die vierundzwanzigjährige Hanna gerät immer mehr in die Rolle der Kritikerin dieser unmenschlichen Behandlungen. Ihre Hinweise an das “Jugendamt” bleiben ohne Resonanz.
Evi, die Cousine von Hanna, wendet sich dem neuen Heimarzt zu.
Der entpuppt sich als jemand, der illegal Medizin-Experimente an Heimkindern vornimmt. Dadurch gelangt auch das Thema Medikamentenversuche in den Roman. Mehr möchte ich nicht verraten.
An wen richtet sich das Buch?
Auf den ersten 50 Seiten erwähnt die Autorin viele Personen oft nur mit Namen. Erst im späteren Verlauf verstand ich, ob es sich um Heimkinder, Heimpersonal oder Inselbewohner handelte. Einige dieser Personen werden nie erläutert. Andere tauchen im späteren Verlauf des Romans nicht mehr auf. Um zu verstehen, wer wer sein sollte, hatte ich mir auf einem großen Blatt alle Namen aufgeschrieben.
Das Buch eignet sich nicht für eilige Leserinnen oder Leser, die schnelle und einfache Ergebnisse haben möchten. Man sollte das Werk in Einem durchlesen.
Für welche Altersgruppe ist dieser Roman geschrieben? Er könnte sich für interessierte Kinder im Alter etwa ab 10 oder mehr Jahren zum Vorlesen eignen. Die vorlesenden Erwachsenen müssten dann einiges erklären: Etwa: Was ist ein Bunker oder wer waren die Nazis?
Für ältere Jugendliche und Erwachsene mag das Buch auch interessant sein, wenn man die Durststrecke der ersten Seiten überwunden hat.
Offene Fragen können mit Hilfe von Wikipedia geklärt werden.
Meine Empfehlung: Für die nächste Auflage ein Register mit den vorkommenden Personen anfertigen.
Im Anhang könnten einige Literaturangaben (etwa die Bücher von Sigrid Chamberlain, Lena Gilhaus, Hilke Lorenz und vor allem Anja Röhl) sowie Hinweise auf Internetquellen hilfreich sein. Besonders interessant ist der Roman natürlich für heute noch lebende Opfer der Kinderverschickung. Kleine Randbemerkung: Auf der Seite 262 muss es in der achtletzten Zeile von unten statt “Jugendheim” natürlich “Jugendamt” heißen.
Fiktion und Realität
Die Autorin hat gut recherchiert. Es handelt sich bei diesem Roman um einen anderen Ansatz als bei den autobiographischen Berichten von ehemaligen “Verschickungskindern”. In einem Roman muss nicht ständig mit Opferzahlen argumentiert oder die Moralkeule geschwungen werden.
Für mit dem Thema unbedarfte Leserinnen und Leser mag das langsame Heranführen an das Grauen die Spannung erhöhen. Es bleiben auch hier noch viele Fragen offen – bis heute.
Im Gegensatz zum Anfang des Buches hat die Autorin für mich das Ende gut gestaltet. Denn es gibt kein verlogenes Happy End. Die Millionen von unschuldigen Opfern von Politik- und Behördenversagen erleben keine Gerechtigkeit. Ein einzelner protestierender Vater wird abgekanzelt. Die Heimleiterin verschwindet unbekannt. Der Heimarzt hatte gut für sich vorgesorgt. Wie die Beschwerde beim “Jugendamt” ausging, wird nicht erläutert. In der Wirklichkeit hatten die Jugendbehörden bundesweit versagt. Nur wenige Heime wurden durch die Behörden geschlossen. Die Straftaten sind längst verjährt. Schadenersatz wurde nie geleistet. Die Realität war viel schlimmer als der Roman. Trotzdem und deswegen halte ich den Roman für lesenswert.
Autor
Nando Belardi