Verwaltungsdesaster und Nazi-Pädagogik nach 1945?
Als eine Ursache nimmt man das Versagen in Politik, bei Behörden sowie Organisationen des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe an.
Daraus ergeben sich mehrere Zugänge zum Thema Verschickungskinder:
Erstens: Politik- und Behördenversagen.
Ein Buch von Seibel, Klamann und Treis trägt den Titel „Verwaltungsdesaster“ (2017). Darin wird die Loveparade-Katastrophe von 2010, der Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall 2006, das Versagen des Hamburger Jugendamtes beim Tod eines Kindes 2013 sowie das Chaos bei den polizeilichen Ermittlungen um die NSU-Morde 2000-2017 beschrieben. Auch heute dauert es noch Jahre, bis Behördenversagen aufgeklärt werden kann.
Als ein weiteres Beispiel nenne ich den „Fall Lügde“, also den sexuellen Missbrauch an mindestens 41 Kindern. Diese Gewalthandlungen an den Kindern fanden während der Jahre 2008 bis 2018 statt. Die meisten der Opfer waren damals 4 bis 13 Jahre alt. Der Untersuchungsausschuss des Landtages von NRW ist auch zu Anfang 2024 immer noch nicht zu einem endgültigen Abschlussbericht gelangt. Im Mittelpunkt steht das Versagen mehrerer Jugendämter. Es gab aber auch Probleme in der Kommunikation innerhalb der Polizeibehörden bzw. mit den Ämtern. Vor dem Ausschuß des Landtages verweigerten Mitarbeiterinnen der Jugendämter die Aussage. Bürgermeister und Landräte scheinen ihre Untergebenen zu schützen.
Demgegenüber hatten einige Kinder bis Anfang 2024 immer noch keine Entschädigungen erhalten. Später werde ich darstellen, dass auch bei den Verschickungskindern die Opfer nachrangig behandelt worden sind.
Natürlich können in einem sozialen Rechtsstaat keine hundertprozentigen Vorkehrungen zum Schutze von Minderjährigen getroffen werden. Erst recht nicht in einem diktatorischen Überwachungsstaat. Denn dort wird verschleiert und Überbringer schlechter Nachrichten werden zum Schweigen gebracht.
Allerdings gab es faktisch keine externe Kontrolle dieser rund tausend „Heime“. Trägerorganisationen und Behörden, an welche man Beschwerden richtete, hatten versagt.
Bis heute sind die Ursachen, Vorgänge und lebenslangen Folgen der Verschickung von mindestens zehn Millionen Kindern in „Kurheime“ noch nicht flächendeckend untersucht.
Zweitens: Träger der „Heime“ und wirtschaftliche Interessen
Inzwischen kennen wir Berichte von damaligen Verschickungskindern (siehe unten). Allerdings sind die Zusammenhänge zwischen Trägern und Leitungspersonal der „Heime“ sowie den verbundenen wirtschaftlichen Interessen noch nicht gründlich untersucht. Um zu verstehen, weshalb man damals kleine Kinder so schlecht behandelte, ist es notwendig auch in die Pädagogik der letzten 200 Jahre zu schauen.
Drittens: „Schwarze Pädagogik“
Bei der Schwarzen Pädagogik handelt sich kurz gesagt um einen Sammelbegriff für kinder- und menschenfeindliche Sichtweisen, Ziele, Methoden und Handlungen, die es schon seit Jahrhunderten gibt. Es ist wichtig zu wissen, dass die Schwarze Pädagogik kein offizieller Begriff der universitären Disziplin Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft ist. Im Gegenteil: Die Wissenschaft hatte sich sehr wenig um diese dunklen Kapitel der Geschichte ihrer eigenen Zunft gekümmert. Manche werfen Katharina Rutschky (1941-2010), der Begründerin dieses Begriffes und Herausgeberin eines umfangreichen Quellenbandes über Schwarze Pädagogik (1977) sowie anderen vor, die „Klassiker“ der Pädagogik nicht richtig wiedergegeben zu haben. Schon jetzt sei darauf hingewiesen, dass sich bei der Aufdeckung der Schwarzen Pädagogik wie auch dem Elend der Kinder, die zur „Erholung“ in „Kurheime“ kamen, weniger die Fachwissenschaftler sondern vor allem Journalistinnen sehr verdient gemacht hatten.
In der Schwarzen Pädagogik wird von systematischen Grausamkeiten an Kindern während der letzten 200 Jahre berichtet. Dazu gehören bedeutende Pädagogen der Vergangenheit. In diese Sammlung gehört auch der „Fall Schreber“ (vgl. Internet: dort weitere Quellen).
Die folgenden Autoren beschäftigten sich ebenfalls mit der Schwarzen Pädagogik: Philippe Ariès: „Geschichte der Kindheit“ (1960); Lloyd deMause: „Hört ihr die Kinder weinen“ (1977) oder Alice Miller: „Am Anfang war Erziehung“ (1983).
Auffällig ist dabei der oft wiederkehrende Sadismus: Damit ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass man Lust am Quälen anderer (hilfloser) Menschen hatte. In den beiden Büchern von Klaus Theweleit: „Männerphantasien“ (1977) wird eindrücklich beschrieben, wie schon vor 1933 Generationen Menschen für Gewalt abgerichtet wurden.
Mehr über die Schwarze Pädagogik findet man in der Buchbesprechung von Schmuhl weiter unten im Text.
Ein weiterer Höhepunkte der Schwarzen Pädagogik sind die Bücher der Ärztin und NS-Pädagogin Johanna Haarer (1900-1988):
- „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (1938)
- „Unsere kleinen Kinder“ (1940) sowie
- „Mutter, erzähl von Adolf Hitler. Ein Buch zum Vorlesen“ (1943)
Vor allem die erste Schrift soll eine Gesamtauflage von 1,2 Millionen Exemplaren erreicht haben. Dieses erste Buch galt für Generationen als praktischer Ratgeber. Nach 1945 wurde es, von einigen Nazi-Begriffen bereinigt, noch bis 1983 neu aufgelegt. Viele Menschen waren als Kinder und Jugendliche in der NS-Zeit geprägt worden. Ich vermute, dass eine Mehrheit der Betreuerinnen („Tanten“) in den „Kurheimen“ auch in diesem Stile erzogen und nach einer kurzen eher medizinisch-pflegerischen und biologischen Ausbildung zwischen 1950 und 1990 in den „Heimen“ eingesetzt worden waren.
Um so wichtiger scheint es mir, vor einer Besprechung der Literatur über Verschickungskinder sich mit dem Wirken von Haarer zu beschäftigen. Dazu eignet sich das Buch von Sigrid Chamberlain: „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ sehr gut.