Von: B.T.
Der Aufenthalt in Glücksburg fand ein Jahr nach meiner Verschickung
nach Oberkassel statt. Der Amtsarzt in Bochum, der die
Einschulungsuntersuchung meiner Schwester durchführte, (der
Selbe, der mich nach Oberkassel, ins Haus Ebton geschickt hatte,
stellte fest, dass ich immer noch viel zu dünn sei.
Er schlug vor, dass ich gemeinsam mit meiner Schwester für 6
Wochen nach Glücksburg verschickt werden sollte. Ich wehrte mich
mit Händen und Füßen, weil ich mich noch lebhaft an das Grauen im
„Haus Ebton “ erinnerte und befürchtete, es würde auch diesmal
wieder länger als 6 Wochen dauern.
Der Arzt sagte, wenn ich nicht aufhörte zu „heulen“, würde er mich
wieder allein nach Ebton schicken, diesmal wäre doch meine
Schwester dabei, und es dauerte ganz sicher nur 6 Wochen.
Meine Schwester wollte auch nicht in ein Kinderheim und gab mir die
Schuld, dass sie mitfahren sollte.
Meine Mutter sollte im gleichen Zeitraum eine vierwöchige Kur vom
Müttergenesungswerk in Bad Salzuflen machen. Also fuhren meine
Schwester und ich in Begleitung vieler anderer Kinder mit dem Zug
nach Glücksburg an die Ostsee.
Zu meiner Überraschung waren die „Fräuleins“ in Glücksburg,
verglichen mit den Schwestern in Haus Ebton, einigermaßen
freundlich.
Das Essen war allerdings sehr eintönig und bestand vorwiegend aus
Grießbrei und Puddingsuppe. Morgens gab es Butterbrote. Zum
Trinken häufig Milch mit einer dicken Haut obendrauf. Auch hier
musste man so lange am Tisch sitzen bleiben, bie der letzte Bissen
aufgegessen war.
Auch hier gab es nur sehr wenig zu trinken. Wir durften aber
gottseidank allein auf die Toilette gehen, und dort konnte man Wasser
aus dem Hahn am Waschbecken trinken. Wenn man allerdings
erwischt wurde, gab es Ohrfeigen.
In angenehmer Erinnerung habe ich einen Ausflug zum Schloss in
Glücksburg und unsere Spaziergänge zum Strand. Dort durften wir
Muscheln suchen.
Nach drei Wochen begann dann für mich der unangenehme Teil dieser
Reise. Ich hatte mich mit Masern angesteckt und musste in ein
Isolierzimmer bei den Ordensschwestern, die das „Haus Ansgar“
leiteten. Die für uns zuständige Schwester war das krasse Gegenteil
der netten Fräuleins.
Gottseidank war ich nicht allein im Zimmer, sondern in Gesellschaft
eines gleichaltrigen Jungen aus Hildesheim. Ich weiß nur noch, dass
sein Name mit J anfing, ich glaube Jochen oder Jürgen. Wir
verstanden uns sehr gut und haben uns immer gegenseitig
Geschichten erzählt. Die Schwester hat auch gern geprügelt, obwohl
wir krank waren und hohes Fieber hatten. Gründe gab es genug: Wir
durften das Zimmer nicht verlassen und mussten an einer
Klingelschnur ziehen, wenn wir Hilfe brauchten. Als Toilettenersatz
stand ein Stuhl mit einem Loch im Zimmer, unter dem ein Eimer
befestigt war. Wer ins Bett machte, wurde mit seinem Pantoffel
verprügelt. Einmal wachte ich morgens auf und musste dringend zur
Toilette. Mein Mitbewohner warnte mich und sagte, dass der Topf
randvoll wäre. Nach der Schwester rufen durften wir nicht, weil sie bis
zum Frühstück gemeinsam mit den anderen Nonnen betete und dabei
auf keinen Fall gestört werden wollte.
Ich benutzte also mich also die „Ersatztoilette“ , die auch sofort
überlief. Ich wusste, dass ich auf jeden Fall Prügel bekommen würde,
aber das wäre auch der Fall gewesen, wenn ich ins Bett gemacht
hätte.
Wenig später kam die Schwester (deren Namen ich vergessen habe,)
und schon an der Tür floss ihr der übergelaufene Inhalt der
Ersatztoilette entgegen. Wutentbrannt fragte sie: „Wer war das?“, und
bevor ich antworten konnte, sagte mein Zimmergenosse, er sei es
gewesen. Ich wollte nicht, das er an meiner Stelle bestraft wurde. Er
hatte außerdem hohes Fieber und fror erbärmlich. Da wir uns zum
Prügeln immer nackt ausziehen mussten, saß er zitternd auf seinem
Bett Deshalb sagte ich, dass ich es war. Die Schwester war der
Meinung, dass wir auf jeden Fall alle beide Prügel verdient hätten, und
so schlug sie erst meinen Mitbewohner und dann mich.
Lieber Jürgen oder Jochen, falls du das liest, danke ich dir heute noch
von Herzen, dass du versucht hast, mich zu retten, wenn auch
vergeblich. Nach drei Wochen in der Quarantäne waren die 6 Wochen
um und wir durften mit den anderen Kindern nach Hause fahren. Bis
zum Schluss hatte die Schwester damit gedroht, dass wir länger
bleiben müssten, wenn wir ihre Befehle nicht sofort befolgten.
Als wir zu Hause ankamen, hörte ich, wie fast alle Kinder stolz
berichteten, wie viel sie zugenommen hatten. Die Mastkur war
erfolgreich.
Anonymisierungs-ID: ara