26757 Borkum, 1964

Da stand er nackt, versuchte hilflos seinen Unterleib mit seinen kleinen Händchen zu bedecken

Von: Ch.H.

Name des Trägers: Caritas

Dauer der Verschickung: 6 Wochen
Bericht: Ich war 7 Jahre alt und wurde mit meinem Bruder (6 Jahre) für 6 Wochen nach Borkum, Kinderheim Santa Maria verschickt. Beide hatten wir bis dahin noch nicht eine Nacht anderswo geschlafen, nicht einmal bei den Großeltern, die in fußläufiger Nähe wohnten.
Wir wurden nach Bielefeld zum Zug gebracht und wurden dort am Bahnhof von einer sehr fröhlichen Dame mit dem so gar nicht zutreffenden Namen „Fräulein L“ in Empfang genommen. Von ihr bekamen wir eine orangefarbene Karte mit unseren Namen an einem Bindfaden um den Hals gehängt und wurden in einer immer größer werdenden Gruppe bis zum Bahnhof Emden(??) begleitet. Eine der nächsten Stationen war Wuppertal. Dort stieg eine freche kleine St. zu, etwas später noch ein kleiner F. („Ich bin schon 4 Jahre!“, „Ich muß gleich nach Hause fahren“ wiederholte er täglich immer wieder während unserer gemeinsamen sechs Wochen. – Vielleicht lest Ihr das hier, wo immer Ihr seid?) 

Vom Zug aufs Schiff. Wir sahen zum ersten Mal das Meer, saßen im „Bauch des Schiffs“, während es heftig schaukelte und der Regen an die Fenster prasselte. Später marschierten wir in Reih´ und Glied durch den Hofgarten zum Portal von Santa Maria. Eine alte Ordensschwester mit bösem Gesicht – ganz anders als das Fräulein L. – wies uns unsere Plätze im Speisesaal an, danach Treppe hoch, die Betten im Schlafsaal. Geschwister mussten getrennt werden. Mein schluchzender kleiner Bruder durfte nicht in meiner Nähe sein. Das galt übrigens nicht nur für nachts, auch tagsüber wurden wir stets streng getrennt. Manchmal gelang es uns in einem unbeobachteten Moment, uns zu einander durchzumogeln und uns kurz bei den Händen zu halten. Aber wehe, wenn es auffiel!! 

Bereits an diesem ersten Abend brachen mein Stolz und mein Freude darüber, dass wir ans Meer fahren durften, das nicht einmal unsere Eltern gesehen hatten, zusammen und ich igelte mich verzweifelt in meinem Bett ein. Ich erinnere mich genau an den Gedanken, der mich während der ganzen Zeit auf Borkum immer begleitete, ob ich vielleicht mal einen ganzen Morgen oder einen Nachmittag mit dem Weinen würde aufhören können. Ich weinte unaufhörlich. 

Mein Bruder war Bettnässer – der Grund, warum er zur Kinderkur sollte. Aber es gab gar keine Behandlung für ihn, und wenn er ins Bett gemacht hatte, wurde er angeschrien und seine nasse Hose dem ganzen Saal wie ein Banner vorgeführt. Da stand er dann mit nacktem Unterleib, den er mit seinen kleinen Händchen hilflos zu bedecken versuchte, schluchzend neben seinem Bett, und mir wurde verboten, zu ihm zu gehen und ihn zu trösten. Ein A. (liest Du das hier vielleicht??), knapp so alt wie er, teilte dasselbe Schicksal. Ein Schlafplatz in der Badewanne war dann keine Seltenheit.
Jeweils nach den Mahlzeiten wurden wir alle gemeinsam zur Toilette geführt, wobei der Toilettengang nach dem Abendessen der letzte des Tages war, denn der Schlafsaal lag im Obergeschoß, wo es keine (zumindest keine für uns zugänglichen) Toiletten gab. Wenn alle im Bett waren, wurde der Schlafsaal geschlossen. Nachts konnte niemand hinaus. Kinder mit schwacher Blase wie mein Bruder hatten dann die morgendliche Strafzeremonie zu ertragen. 
In zwei langen Reihen standen wir also jeweils nach dem Essen vor zwei Toiletten. Wer „dran“ war, wurde von der Schwester grob gefragt: „Groß oder Klein?“. Danach wurde das Toilettenpapier eingeteilt, zwei Blättchen für „Klein“, sechs Blättchen für „Groß“. Ich hatte immer Panik, daß „Groß“ mitkam, wenn ich „Klein“ gesagt hatte und das Papier nicht reichen würde, also sagte ich beim Abfragen lieber vorsichtshalber „Groß“. Aber auch Stuhlgang wurde dokumentiert, und wenn es zu oft war, mußte man zum Arzt. Also lieber die Panik, zu wenig Papier zu haben als die Panik, zum Arzt zu müssen. Außerdem die entsetzliche Scham, daß ja alle, die vor der Tür standen und warteten – mucksmäuschenstill, es durfte nicht gesprochen werden – jedes Geräusch mit anhören mußten.

Diese Scham wurde nur noch übertroffen von der Scham, die mich quälte, wenn wir dem Arzt vorgeführt wurden. In zeitlichen(??) Abständen wurden wir in einem langen Gang hintereinander aufgereiht, splitternackt, bis wir, eins nach dem anderen – einige zitternd, wie auch ich – vorn beim „Onkel Doktor“ angekommen waren, zwischen seine Knie geklemmt und „abgehorcht“ wurden. Der Bauch wurde befühlt und gedrückt, Brust und Rücken, Arme und Beine, dann Ohren und Nasenabsprich, Mund auf, würgen, Ahh sagen, zum Schluß einmal tief bücken(!) – dann durfte man die Hölle verlassen, bis zum nächsten Mal!! 
Vielleicht muß ich hier kurz anführen, daß es noch weit vor ´68 war und zumindest mein Bruder und ich in katholischer Prüderie erzogen wurden. Wir waren – außer kurz am Samstag in der Badewanne – nie nackt gewesen. Und zum Arzt wurden wir nur wenige Male gebracht, als wir „besorgnis-erregend“ krank waren. Und natürlich war immer unsere Mutter bei uns. Trotzdem war es damals üblich, daß Kinder (alle Kinder, die ich kannte) Angst vor dem Doktor hatten… und hier also ganz und gar schutzlos, eine Stunde, zwei Stunden, ich weiß es nicht, in der Reihe stehen und warten, bis man dran ist…

Es gab Spiele am Tisch. Es gab Spaziermärsche (keiner tanzt aus der Reihe) in die Dünen, einmal zum Flugplatz. Keiner durfte rennen, alle mußten zunehmen. Wir haben das Meer von der Promenade aus gesehen, aber ich erinnere mich an kein einziges Mal am Strand. Es war Frühjahr und bestimmt zu kalt zum Baden, aber mit den Füßen im Wasser – das wäre ein Traum gewesen. Einmal mit den Füßen im Meer. Das Wasser unten, nicht nur immer im Gesicht. 

Der Erfolg einer Kur wurde damals an der Gewichtszunahme gemessen. Also wurden wir ständig zum Essen gezwungen. Der Teller mußte leer gegessen werden, wie scheußlich das, was sich darauf befand, auch immer war. (Ich war zur Kur geschickt worden, weil ich ein „schlechter Esser“ war!!) Das Schlimmste für mich war ein widerlicher, dicker Grießbrei, den es oft als Abendessen gab. Man ließ uns (da war ich nicht allein) stundenlang vor dem Teller sitzen, bis wir alles verzehrt hatten. Daß man einen Teller mit Erbrochenem wieder vorgesetzt bekam, habe ich gehört, aber selbst dort nicht erlebt. Allerdings hatte ich fast immer einen Würgereiz, konnte diese Pampe nicht schlucken und mußte sie ausspucken. Dann wurde der Teller abgeräumt und die doppelte Portion wieder vorgesetzt, auch mehrmals – bis zur bitteren Neige. 
Mein Leben lang konnte ich danach nichts mehr mit Grieß essen und habe das sogar in meiner sehr strengen Familie, in der es ebenfalls „keine Albernheiten beim Essen“ gab, seit der Kur durchsetzen können. 

In dieses unfaßbare Verlassensein, diese unvorstellbar lange Zeit in einer Welt, in der alles Angst und Hilflosigkeit war, in der ich – und schlimmer noch mein Bruder – der ständigen Willkür verrohter, herzloser Ordensschwestern ausgesetzt waren, fiel ein Lichtblick, als es hieß: „Heute schreiben wir nach Hause.“ 
Ich konnte schon schreiben und sah nach diesen ersten Tagen, vielleicht einer Woche (?), die Möglichkeit, meinen Eltern zu schreiben „Hier ist es ganz entsetzlich. Bitte holt uns schnell ab. Und wenn Ihr nicht kommen könnt, dann schickt uns die Fahrkarten. Wir sind schon groß und können allein mit dem Schiff und mit dem Zug fahren. Ihr könnt dann am Bahnhof auf uns warten.“ Das war der Plan, und den erzählte ich auch rasch im Vorbeihuschen meinem Bruder, der nachts verzweifelt zu mir geschlichen war: „Krinna, komm, wir hauen ab. Mein Bett ist wieder naß.“

Aber die Hoffnung, all dem hier zu entkommen, erlosch so rasch, wie sie aufgeblitzt war. Wir bekamen kleine Postkärtchen ausgeteilt, auf die wir den Text a b s c h r e i b e n durften, der an der Tafel im Speisesaal stand. Sinngemäß: „Liebe Eltern! Hier auf Borkum ist es sehr schön. Es gefällt mir hier sehr gut. Die Sonne scheint. Wir haben einen Spaziergang am Meer gemacht. Viele Grüße…“ 

Ich wollte das nicht schreiben. Vielleicht würden sich die Eltern wundern, wenn sie gar nichts hörten – und dann kommen und nachsehen. Ich wurde gezwungen. Mein Bruder, der noch nicht schreiben konnte, mußte ein Bild mit Sonne malen. Der gleiche Text wurde dann für ihn geschrieben. Darüber würden sie sich wundern zu Hause, und dann würden sie kommen. 
Aber es kam niemand. In den Tagen darauf nicht und überhaupt nicht. Nach einiger Zeit gab ich das Warten auf. Sehr viel später erfuhr ich, daß ich in dieser Zeit alle Hoffnung auf Hilfe in einer Notlage aufgegeben haben muß; alles Vertrauen, mich an einen Menschen wenden zu können, der mir beistehen, mir zumindest zuhören und mich trösten würde. 
Erinnern kann ich mich nur daran, daß ich zum Einen über lange Zeit chronische Bauchschmerzen, heftige kolikartige Anfälle bekam, für die es keine organisch nachweisbare Ursache gab. Andererseits entwickelte ich nach dieser Zeit einen übersteigerten Gerechtigkeitssinn und ein ausgeprägtes Helfersyndrom. Ich sehnte mich nach vertrauensvollen Beziehungen (zunächst Kinderfreund-schaften), und konnte doch nicht wirklich vertrauen. Ich entwickelte destruktive Kontrollzwänge.
Das alles erfuhr und verstand ich erst, als ich nach der Geburt meines einzigen Kindes (mit 26 Jahren) einen Nervenzusammenbruch mit schwersten psychischen und organischen Langzeitfolgen erlitt, der eine langfristige medizinische und psychotherapeutische Begleitung notwendig machte. In sieben endlosen Jahren einer analytischen Psychotherapie konnten u. a. die Traumatisierungen durch mein eigenes hilfloses Ausgeliefertsein während dieser „Kur“, das Heimweh, die Sehnsucht nach Geborgenheit und einem „rettenden Ort“, sowie das Martyrium meines kleinen Bruders, das ich hilflos mit ansehen mußte, zunächst erinnert werden, und in diesem großen Prozess des Wieder-Erlebens und Akzeptierens des eigenen Lebens dann auch zu innerer Heilung und Frieden führen. Um jedoch ganz von meinen vielfältigen Ängsten und Panik-Attacken geheilt zu werden, brauchte ich noch weitere zwanzig Jahre. 

Vielleicht sollte ich einen einzigen Lichtblick nicht vergessen: Fräulein B. Eine sehr junge „Kindertante“ mit roten Locken und fröhlichem Gesicht, die freundlich und liebevoll ein Taschentuch nahm und sanft Tränen abwischte und ein Stück Haribo-Lakritz gegen den Kummer aus der Kitteltasche zog; die beim abendlichen Grießbrei-Drama laut schimpfte, daß es die Schwestern hörten – und dann den Teller heimlich in der Küche leerte. 
Wenn es Sie noch gibt, Fräulein B. ich danke Ihnen tausendmal für Ihre (in diesem System auch hilflose) Güte. 

Im Sommer 2023 habe ich zum ersten Mal nach fast 60 Jahren die Insel Borkum und das Heim Santa Maria (heute ein „Mutter-Kind-Kurhaus“) besucht. Ich habe Vieles erkannt und bin inzwischen versöhnt. 
Ich bin froh, daß Kinder heute auf vielfältige Weise besser geschützt sind.

Anonymisierungs-ID: atg

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