42489 Aprath, 1961

„All das kann man nicht mehr ungeschehen machen.“

Von: G.S.

Dauer der Verschickung: 3 Monate

Bericht: Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt zwecks Heilung der Lungentuberkulose wurde ich nahtlos nach Aprath befördert. Ich kann mich an das Gebäude mit den großen Steinen erinnern und an viele große Bäume drumherum. Erinnern kann ich mich an andere Kinder, mit denen ich aber scheinbar nicht spielen konnte. Ich weiß gar nicht mehr, ob es überhaupt Spielsachen gab, außer, man erhielt ein Paket von zu Hause oder Eltern kamen ab und zu zum Besuchstag. Erinnern kann ich mich an den täglichen Rapport zur Untersuchung bzw. Medikamentengabe. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir der große Speisesaal, das schlechte Essen und das alles aufgegessen werden musste. Ich hatte deshalb oft Ausschlag am Mund, weil ich mich geekelt habe. Aber das war immer noch besser als die Tatsache, dass Kinder, die sich beim Essen übergeben hatten, ihr Erbrochenes selbst wegräumen oder schlimmer noch aufessen mussten. Vieles habe ich erfolgreich verdrängt oder vergessen. Ich meine, ich hätte in einem Schlafsaal mit vielen anderen Kindern geschlafen. Viele Kinder haben geweint und Zeichen von Hospitalismus gezeigt. Es war eine Zeit ohne persönliche Zuwendung, alles war auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet. Die größte Strafe für mich war das ständige Liegen müssen, oft auf der überdachten Veranda. Sprechen war verboten. Mir prägte sich so das Wort „Strafliegen“ ein, weil ich nicht liegen wollte, aber musste. Eigentlich war ich ein fröhliches und lebhaftes Kind, das sich bewegen wollte, das Spielen, turnen, malen und etwas lernen wollte. Aber das alles war für mich – und wahrscheinlich auch für die anderen Kinder – verboten. Dieses Verbot bezog ich ständig auf mein persönliches Verhalten und sah es als Strafe an. Mein Leben lang glaubte ich, dass ich selbst schuld war, wenn ich „strafliegen“ musste. Ich litt unter Heimweh, besonders wenn es mir schlecht ging und es mir kalt war. Meine Gedanken verfingen sich oft in den Satz „Ich will nach Hause“. Dieses tieftraurige Gefühl begleitet mich nun schon mein ganzes Leben. Immer wenn es mir schlecht ging, ich erschöpft oder traurig war, kam als Krönung noch das Heimweh-Gefühl mit dem Satz „Ich will nach Hause“ obendrauf. Das ist jedes Mal so, als fiele ich in ein großes dunkles Loch verbunden mit der tiefen Sehnsucht nach Sicherheit und dem Zuhause sein, obwohl ich zu Hause bin. Dieses tiefsitzende Heimweh-und-Schuld-Gefühl hat mich oft in depressive Phasen gestürzt. Glücklicherweise bin ich durch meine grundsätzlich positiv gestimmte Haltung, durch meine liebevolle Familie und durch Psychotherapie in der Lage gewesen, immer wieder aus den dunklen Löchern herauszufinden. Aus dieser Zeit in Aprath besitze ich noch drei Postkarten, die an meinen Vater geschrieben wurden. Sie ähneln einander sehr, denn die Texte wurden mit der Schreibmaschine geschrieben. Lediglich Adresse und Absender wurden handschriftlich verfasst, alle drei von ein und derselben Person. Den Texten nach zu urteilen, ging es mir immer recht gut und ich war munter und vergnügt. Auch wurde berichtet, dass die Kinder im Wald spazieren, gehen konnten. Ich vermute, dass immer die gleichen Texte an Eltern geschickt wurden, deren Kinder in Aprath waren. Rückblickend war der Aufenthalt in Aprath aufgrund mangelnder Empathie, schlechter bis nicht vorhandener Information den Eltern gegenüber, Missachtung der kindlichen Grundbedürfnisse wie liebevolle Beziehungen, körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Geborgenheit, Vertrauen und Orientierung für die meisten Kinder ein traumatischer Einschnitt. All das kann man nicht mehr ungeschehen machen. Möglicherweise war das Bewusstsein der Klinik-Beschäftigten, aber auch das bedingungslose Akzeptieren der Eltern, zum damaligen Zeitpunkt ein anderes als heute. Dennoch fällt es mir schwer, das frühere Verhalten zu verstehen und zu entschuldigen. Die späte Aufklärung und das Aufdecken der damaligen Verhältnisse sowie die Berichte von Zeitzeugen sind für mich eine Offenbarung und haben für mich Licht ins Dunkle gebracht. Dafür bin ich dankbar.

Anonymisierungs-ID: alv

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