Meine Verschickungsgeschichte
Erholungsheim und Indikationen
Ich war 4 Jahre alt und wurde im Nov/Dez 1971 für 6 Wochen von Herford (NRW) aus in ein Kindererholungsheim der Inneren Mission nach Rehe/Rennerod in den Westerwald (Rheinland-Pfalz) verschickt. Laut der Heimliste von S. F. (1964) wurden in diesem Kindererholungsheim 40 Kinder im Alter von 5-14 Jahren aufgenommen sowie 105 Jugendliche ab 14 Jahren. Die Jugendlichen wurden in einem nahegelegenen Haus auf demselben Gelände untergebracht. Das Personal bestand überwiegend aus Diakonissen.
Ich entsprach mit meinen 4 Jahren also altersmäßig nicht der Aufnahmeindikation. Ich kann mich nicht daran erinnern, ein anderes Kind in meinem Alter während meines Aufenthaltes dort gesehen zu haben. Von meinem persönlichen Empfinden ausgehend, hatte ich den Eindruck, dass ich mit Abstand das jüngste und körperlich gesehen, auch das schwächste Kind war. Ich sollte zunehmen, war aber nicht bedrohlich untergewichtig. Ich hatte noch kein Zeitgefühl, konnte mich nicht verorten und auch nicht den riesigen und weit abgelegenen Heimgebäudekomplex überblicken. Ich fühlte mich von Anfang an verloren, einsam und heimatlos – von meiner Familie abrupt abgeschnitten, was für mich als Vierjährige nicht nachvollziehbarer war und einen völlig unvorhersehbaren Bindungsabbruch bedeutete.
Ich wurde zusammen mit meinem Nachbarsjungen, der damals „schon“ 5 Jahre alt war, verschickt. Ich sah ihn aber nur einmal in den ganzen 6 Wochen wieder, da wir schon im Zug getrennt wurden und er vor Ort in der in einem anderen Haus bei den Jungen und älteren Jugendlichen untergebracht wurde.
Reise:
An die weitere Hinfahrt im Zug kann ich mich nicht mehr erinnern. Wer uns begleitet hat oder ob es etwas zu essen gab. An die Rückfahrt schon eher, weil mir diese endlos lang vorkam. Ich trug eine karierte Stoffwollhose, die sehr kratzig war und auch nicht sauber. Ich hatte mir Tage zuvor in die Hose uriniert. Gefühlt war es die einzige Hose, die ich dabeihatte. Sie scheuerte furchtbar zwischen den Beinen, es fühlte sich wund, heiß und beschämend „schmutzig“ an. Während der Rückfahrt hatte ich diffuse Gefühle von Angst, Scham und Schuld. Angst, weil ich nicht wusste, ob es wirklich nach Hause ging und Scham, weil ich meine Unbedarftheit und irgendwie auch meine Unschuld als Kind verloren hatte. Und Schuld, weil ich das Gefühl hatte, „falsch“ und schmutzig zu sein und deshalb Strafe erwartete. Ich erinnere mich auch daran, dass mein Koffer im Abteil stand und dass das wohl ein Zeichen dafür war, dass ich den Ort wechselte. Eine Vorstellung von – nach Hause fahren – stellte sich definitiv nicht ein, ich war total entfremdet
Erinnerungen: Institutionalisierte Übergriffe, Erstickungstrauma und sexuelle Gewalt:
Ich habe einige traumatische Erlebnisse während meiner Verschickung im Erholungsheim erlitten: zahlreiche Demütigungen durch die „Tanten“, die überwiegend Diakonissinnen waren, wie Wegsperren, Ausgrenzen, Sachen/Kleidung/Pakete wegnehmen, Essenszwang, körperliche Übergriffe und Grobheiten beim Waschen und bei kontrollierten Toilettengängen. Es gab zu bestimmten Tageszeiten regelhaft ein Toilettenverbot. Auch eine Postzensur- ich konnte noch nicht schreiben, deshalb schrieb eine „Tante“ für mich und ich wurde angehalten kleine Zeichnungen für die Blanko-Postkarten (siehe Abb. 4-7) zu malen. Der Inhalt war positiv und geschönt, was aber überhaupt nicht meinem damaligen Gefühlserleben entsprach. Ich erinnere mich an nichts Schönes. Auch die älteren Mädchen, mit denen ich in einem Schlafraum untergebracht war, haben mich ständig geärgert, mir mein einziges Kuscheltier weggenommen und dieses zerstört, mich verhöhnt und mir ständig angedroht, dass ich nie wieder nach Hause komme! Das führte in der gesamten Zeit zu massiven Schlafstörungen, sprich, ich hielt mich nachts wach, weil ich Angst vor Übergriffen meiner Zimmergenossinnen hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich die Wand anstarrte und aus den kleinen Löchern darin den Kalk pulte und ihn aß. Das wurde eine Art stimulierendes Ritual, um mich selbst zu spüren und mich irgendwie zu verorten. Eine Art Überlebensstrategie. Heute würde ich sagen, dass ich hospitalisiert habe.
(Abb.1: „Kalk macht nicht satt“, 2014 bei einem 2jährigen Klinikaufenthalt (PTBS) entstanden)
Mein schlimmstes Trauma war jedoch eine „Zuführung“.
Auf diesen Begriff bin beim Hören eines Radioberichts gestoßen, in dem davon berichtet wurde, dass eine „Zuführung“ eine häufig eingesetzte, institutionelle Sanktionierung in den (Verschickungs-)Heimen war. So auch in meinem Fall:
Ich hatte mir auf einer langen und kalten Schneewanderung in die Hose uriniert. Ich vermute, dass das der Grund war, um bestraft zu werden, womöglich bringe ich aber auch einzelne Szenen in der Erinnerung durcheinander! Eine Diakonisse und 2 ältere Mädchen aus meinem Schlafraum brachten mich in einen Schlafraum des Jungentrakts im Haus der Jugendlichen. Dort wurde ich mit mehreren älteren Jungen (ca. 14- 16 Jahre alt) zurückgelassen. Auch mein Nachbarsjunge befand sich in diesem Schlafraum. In meiner Erinnerung wirkte er verängstigt und wir konnten auch nicht miteinander sprechen. Er saß mit überkreuzten Armen, die seinen Intimbereich schützen, auf einem Bett. Ob er auch dort schlief oder so wie ich den älteren Jungs „zugeführt“ wurde, weiß ich nicht genau.
Ich wurde Opfer eines gewalttätigen und sexualisierten Übergriffs in diesem Raum. Es war kein Erwachsener anwesend oder irgendwer, der mir hätte helfen können. 3, 4 geschlechtsreife Jugendliche sind scheinbar zuvor veranlasst worden, uns Kleinen mächtig Angst einzujagen. Ob jemand etwas davon etwas mitgekriegt hat, was sich abspielte, weiß ich auch nicht. Aber ich vermute, dass es nicht der einzige Vorfall und auch nicht die einzige „Zuführung“ der Art war.
So haben mich mehrere weitaus ältere Jungs festgehalten, mir ein Kissen auf den Kopf gedrückt und mich sexuell missbraucht. Ich kann mich noch an einzelne Details erinnern, wie, das Kissen, was mir fest auf den Kopf gedrückt wurde und die Beine und Arme der Jungen, die meinen Bauch, sowie meine Beine niederdrückten und auch auf meinen Intimbereich schmerzhaften Druck ausübten und sich an meinem Körper zu schaffen machten. Da war kein Entkommen möglich. Ich hatte Todesangst, irgendwann blieb mir durch das Kissen, was meine Atemwege fest verschloss und durch den heftigen Druck auf meinem Körper, die Schmerzen sowie das Gezerre an mir die Luft weg.
Ich dachte, ich müsse jetzt sterben und bin dann ohnmächtig geworden! Ich habe ein schweres Erstickungstrauma erlitten, aber eben auch einen Übergriff von sexualisierter, sadistischer Gewalt von Mitverschickungskindern im Jugendalter. In meinem Gedächtnis blieb mir auch der „Spaß“, den die Jungen hatten, als sie mich quälten. Der Übergriff „artete wohl aus“, ich wurde im Alter von 4 Jahren vergewaltigt und entwürdigt. Ich war schutzlos, ausgeliefert, hatte Schmerzen und fühlte mich schmutzig. Als kleines Kind konnte ich das natürlich noch gar nicht verbalisieren, verstehen oder gar verarbeiten, was da gerade mit mir passierte, aber in meinem Körpergedächtnis hat sich diese tiefe Verletzung nachhaltig „gespeichert“.
(Abb.1: „Todesangst“, Zeichnung, 2014 bei einem zweijährigen Klinikaufenthalt aufgrund von PTBS entstanden)
Seelisch habe ich das Erlebte viele Jahre abgespalten, ich konnte es einfach nicht zusammenbringen das körperlich Erlebte und das seelisch Erinnerte, die Alpträume, aus denen ich heute noch schreiend und nach Luft ringend erwache.
An den Rest dieses Übergriffes habe ich keine Erinnerung mehr, also auch, wie ich wieder in meinen Schlafraum zurückgekommen bin, ob mir jemand geholfen hat, ob ich gewaschen wurde oder ärztlich versorgt wurde.
Arztkonsultation-Dissoziation
Die nächste übergriffige Erinnerung, die ich habe, war eine mit Angst und Scham besetzte Arztkonsultation. Ich musste allein, gefühlt stundelang in der Ecke eines sehr großen und dunklen Raumes mit heruntergelassener Hose und nacktem Po, dem Arzt und der mitanwesenden Diakonisse den Rücken zugewandt, stehen. Es war am Nikolaustag 1971 daran erinnere ich mich deshalb, weil die anderen Kinder nebenan Weihnachtslieder sangen und der Weihnachtbaum aufgebaut war!
Wenn ich daran denke, überkommt mich auch heute noch ein Gefühl von Scham, Schande, ausgeliefert und gebrochen zu sein!
(Abb.3: „Des Schames Unsicherheit“, Zeichnung, 2014, ebenda)
Ich wurde zum Objekt, wie ein Gegenstand der begutachtet, der „ausgepackt“, „beglotzt“ und „begrabscht“ werden konnte, wann immer und wer anderes es wollte. Ich hatte keine „Hülle“, keinen Schutz, aber auch keinen Willen mehr mich zu wehren oder gar aus dem Raum zu laufen. Die Anwesenheit der Erwachsenen war übermächtig und im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend. Ich habe mich in eine Art „Blase“, in einen „Zwischenraum“ zurückgezogen. Um mich herum begehrten die Täter und sadistisch agierende Erwachsene, die mich scheinbar brechen wollten, darauf, in diesen Raum vorzudringen. Das war wohl meine erste Dissoziation!
Seit meiner Verschickung löst alles was hinter meinem Rücken körperlich, wie auch emotional-atmosphärisch passiert, ein großes Unbehagen sowie Angst vor Kontrollverlust bei mir aus. Ebenso ist ein großes Misstrauen vor medizinischen Einrichtungen, wie Krankenhäusern und Kurheimen geblieben. Ebenso prägen Kontrollverlust, Klaustrophobie und Ängste vorm Ausgeliefert sein mein bisheriges Leben.
Kindheit: Ambivalente Erziehungsmuster – gewalttätige Übergriffe, Scham u. Schuld
Die Traumata meiner Verschickung haben mich in meiner persönlichen und gesundheitlichen Entwicklung zeitlebens geprägt und auch in einigen Phasen sehr stark beeinträchtigt. Daneben war meine Kindheit geprägt von einem groben und ambivalenten Erziehungsverhalten meiner Eltern. Vor allem meine Mutter erzog mich mit ähnlichen Mustern, wie ich sie im Kindererholungsheim erleben musste. Mein Kindheitserleben und unsere Beziehung war geprägt durch ihre unberechenbaren Gefühlsausbrüche, verbale und körperliche Demütigung, zwanghafter u. auch sexuell aversierter Reinlichkeitserziehung, sadistische Wut- u. Gewaltausbrüche sowie emotionaler Missbrauch. Der Bindungsabbruch, den ich als Vierjährige durch die Verschickung erlebt habe, wurde durch die ambivalente und gewalttätige Erziehung im Elternhaus nochmal mehr verstärkt. Was die traumatischen Erlebnisse in der Verschickung angeht, so habe ich sehr lange an meiner eigenen Glaubwürdigkeit und dem Ausmaß und schwerwiegenden Folgen der Geschehnisse dort gezweifelt, auch aufgrund des fehlenden Vertrauens vor allem zu meiner Mutter. Auf spätere Gesprächsversuche hin reagierte sie verschlossen, schambesetzt, so als wollte sie etwas verbergen. Ich denke, ihr war es sehr wohl bewusst, dass dort etwas Schlimmes mit mir passiert sein musste. Dies betätigte sich auch darin, dass sie in ihren Erzählungen betonte, dass mein Vater so erschrocken über meinen Zustand gewesen sei, als ich nach 6 Wochen Kinderkur nach Hause kam. Sie selbst neigte eher zu einer verdrängenden und verharmlosenden Erzählung: „Naja, so schlimm kann es ja nicht gewesen sein, du hast es ja überlebt“, auch um aufkommende Schuldgefühle von sich zu weisen. „Wir wollten doch nur das Beste“ damit wurde zu meist das Gespräch beendet.
Therapie und Aufarbeitung
Ich bin seit vielen Jahren in therapeutischer Behandlung, habe 2 Klinikaufenthalte hinter mir und versuche über das Mit-Teilhaben der Aufarbeitungsbemühungen der „Initiative Verschickungskinder“ und durch meine persönliche Recherche sowie einer langjährigen Traumatherapie, eine erneute Konfrontation mit meinen „Verschickungstraumata“ zu wagen.
Ich möchte verstehen, welche Auswirkungen die schwerwiegenden und traumatischen Erlebnisse im Verschickungsheim, vor allem auch die sexualisierten Gewalterlebnisse auf mein Leben hatten.
Meine beiden aktuellen therapeutischen Begleiter bestätigten mir schon lange, dass sie keinen Zweifel an meinen Schilderungen, dem Erinnerten und an meiner Glaubwürdigkeit haben. Sie haben mich auch ermutigt, das Erlebte hier zu berichten. Ich erhoffe mir auch durch das Niederlegen „meiner Geschichte“ den verlorenen Anteil an Glaubwürdigkeit und Würde wieder zurück zu erlangen. Einen Zugang zu dem Kind, was ich vor der Verschickung war, wiederzufinden. Heute bin ich zuversichtlich, weil immer mehr Licht ins Dunkel kommt! So langsam setzt sich ein immer vollständiger werdendes Lebens-Puzzle zusammen, auch deshalb, weil es die „Initiative Verschickungskinder“ gibt. Das Gefühl, mich in dem vielen Berichteten wieder zu finden, bestätigt mich als Opfer eines schlimmen Verbrechens, aber auch als individueller Mensch, der sich verbinden möchte.
Hamburg, 13.05.2021
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