Von: S.B.
Dauer der Verschickung: 6 Wochen
Bericht: Meine Eltern hatten 1968 in Italien beruflich zu tun. Wir sind Deutsche, hatten aber einen Zweit-Wohnsitz an der Riviera, Ligurien.
Nun mussten meine Eltern erstmalig ohne mich dorthin. So kam ich notgedrungen in das Kinderheim in Alf an der Mosel. „Betreut“ wurden wir von einer gewissen „Tante M.“; die ursprünglich wohl auch angeblich aus Viersen am Niederrhein, NRW, kam. In Viersen wohnten / wohnen wir / ich bis heute.
Es war und ist für mich bis heute ein Horror-Szenario, genauso, wie es R. in der Sendung „Hier und heute“ am 14.04.2023 in der Sendung mit Sven Kroll beschrieb.
Morgens gab es Schokoladensuppe + Schokoladenbrötchen. Getränk: Kakao. Alles nur Schokolade. Wer das nicht aß, musste Marmeladenbrötchen essen. Wer es nicht tat, bekam mittags kein Mittagessen. Nun konnte ich schon nie frühstücken, schon gar nichts Süßes. Ich bekam Magen- und Darmkrämpfe. So wurde ich vom Mittagessen ausgeschlossen.
mittags der obligatorische Mittagsschlaf. Manchmal durften wir etwas lesen. Wer jedoch zu viel las, dann auch noch jeden Tag dasselbe Buch weiterlesen, wurden Bücher generell entzogen. So erging es mir. Abends, ab 22 Uhr, wurden wir alle geweckt und aufs Klo gehetzt. Wer nicht wollte oder gar nicht erst Pippi musste, wurde bestraft: hier wieder kein Buch am nächsten Tag beim Mittagsschlaf. Außerdem mussten diese Kinder in den sog. SCHLAUCH: Das war ein Speicher mit Schrägen, somit ein kleines schräges Dachfenster, in dem sich die Hitze dermaßen staute, dass man kaum Luft bekam. Wer dort als „Strafe“ landete, kam meist auf „Armen von Tante M. getragen“ nach über 4 Stunden wieder heraus.
„Daran nehmt ihr euch ein Beispiel“, tönte Tante M. und ihre junge Helferin. An deren Namen erinnere ich mich nicht mehr. Kinder, die im SCHLAUCH landeten, durften auch nicht an Ausflügen teilnehmen. Einmal schlief ich schlaf trunken auf dem Klo ein – hier nach 22 Uhr das Wecken von uns damaligen Kindern. Ich wurde ermahnt und somit bestraft, dass man mir mein heiß geliebter Teddybär wegnahm, den ich im Übrigen bis heute noch habe.
Auch trug ich damals zwei Kieferspangen, oben und unten. Diese mussten jeden 4. Tag verstellt werden, mit einem dazu passenden „Schlüsselchen.“ Dieser „Schlüssel“ wurde mir weggenommen, mit dem Argument, ich sei schön genug. Das waren Zahnspangen, die man herausnehmen konnte. Ich musste diese vom Kieferorthopäden Tag und Nacht tragen, außer natürlich beim Essen.
Ich war als 8-Jährige schon schlau genug, nicht zu weinen, nicht zu „rebellieren.“
Auch durften wir nicht mit den Spielzeugen spielen, worauf wir Lust gehabt hätten. Im Gegenteil. Wer als Beispiel meinerseits, gerne malte oder sich mit Perlen beschäftigte, musste etwas ganz anderes machen. Des Weiteren mussten wir täglich vor den anderen Kindern irgendetwas frei vortragen: Ein Gedicht, eine kleine Geschichte, warum wir so „gerne“ in diesem Kinderheim sind.
Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich Magen-Darm Probleme, die bis heute anhalten. Auch weil ich später noch in ein Nonnenkloster Internat kam. Das half mir später mit der eigenen Selbsthilfe, die ich im Kinderheim für mich „lernte.“ Und somit später sehr gut anwenden konnte. Aber das ist ein anderes Thema.
Als wir irgendwann einen Ausflug zur Burg Arras machten oder zu einer anderen Burg, kaufte ich dort von meinem Kinder-Taschengeld Ansichtskarten. Dies wollte Tante M. unterbinden. „Wir schreiben den Eltern nur auf unserem eigenen Kinderheim-Briefpapier.“ Ich erklärte, dass ich mir diese als Erinnerung kaufen wolle. Glück gehabt, funktionierte. Und so schrieb ich heimlich meiner Tante (die Schwester meiner Mutter), mit der Bitte mich ganz schnell abzuholen. Irgendwo in meinem Keller müsste es diese Ansichtskarte noch geben. Auf jeden Fall sandte ich diese beim nächsten Ausflug heimlich ab. Ich warf diese Ansichtskarte OHNE Briefmarke in einen Briefkasten. Ich schriebe noch dazu, dass der Postbote diese bitte, bitte versendet.
Und so kam es, dass mich meine Tante einige Tage später abholte. Ich lag mittlerweile mit hohem Fieber in irgendeinem Speicherraum = ganz alleine. Nur morgens und abends kam diese jüngere „Tante“, für Essen und Trinken. Meine Tante durfte das, da sie nicht nur meine Patentante war, sondern auch schon Adoptivpapiere unterschrieb, sollten meinen leiblichen Eltern irgendwann, vor Ende der damaligen Volljährigkeit mit 21 Jahren, versterben. Das war meine RETTUNG nach nunmehr 4 Wochen. Ganz schnell wurde ich wieder gesund bis Eintritt ins Internat. Nicht umsonst ließ sich meine Mutter 1974 scheiden. Von ihrem Mann, von meinem Vater….ich war ein Wunschkind. Egal. Mit Magen und Darm habe ich bis heute ziemlich extrem zu tun: tägliche Übelkeit, Magengeschwüre, Darmgeschwüre. Ja, von „nix kütt nix“, wie man so salopp hier im Rheinland sagt.
Bis heute leide ich auch unter extremen Lampenfieber. Ich kann – trotz meines Berufes – keine freien Reden halten. Ich wäre gerne zum Fernsehen gegangen, aber kaum muss ich frei sprechen, versagen Stimme, Kreislauf, Magen und Darm. Und das war damals nur der Anfang.
2015 versuchte ich einmal herauszubekommen, was aus diesem Kinderheim in Alf an der Mosel geworden ist. Das war ein schönes Haus, große Garten- und Parkanlage, also rein optisch. Ich bekam Kontakt mit einer Dame, die ein Jahr vorher dort war, aber nicht mehr darüber sprechen wollte. Irgendwann habe ich meine eigenen Recherchen dann auch gelöscht. Mir fehlte einerseits die Zeit dafür, weiter zu recherchieren, auch tat mir das nicht gut. Es gab nur Albträume. Ergo verdrängt der Mensch in irgendeine Ecke schlimme Erlebnisse, tief, tief im Süden des eigenen Herzens, der eigenen Seele.
Die sog. Tanten sind natürlich längst tot. Ich werde am 08. Mai selbst schon 63 Jahre.
Als ich dann heute Nachmittag die Sendung HIER und HEUTE sah, musste ich mich ad hock erbrechen. Da kam wieder alles hoch. Die Seele vergisst nicht.
Ich will kein Geld (ginge eh nicht), und wenn, dann für einen guten Zweck.
Es ginge auch noch detaillierter, aber vielleicht reicht das schon hier, diese Zeilen, die ich NICHT als Journalistin schreibe / schrieb, sondern als das Kind, das kleine Mädchen, das ich einmal war. Meinen Teddy erhielt ich zurück, sagte ich ja. Die sog. „Verstellschlüsselchen“ für meine beiden Kieferspangen nicht. Egal. Tante H. holte mich ab. Alles andere egal.
Ich suchte das Heim auch noch einmal im Internet. Das Haus scheint es anscheinend nicht mehr zu geben oder / bzw. wurde zu einem anderen Gebäude umgebaut. Wir waren auch nicht direkt im Ortskern ALF. Das Kinderheim lag höher, über eine sog. Privatstraße damals zu erreichen. Wir „wohnten“ somit über der kleinen Ortschaft ALF.
Es gibt noch einige Fotos, zwei oder drei. Ich schaue sie mir nicht an, da ich somit mich selber sehen würde, wie schlecht es mir ging. Da kommt dann immer alles wieder hoch, im wahrsten Sinne des Wortes.
Leider kann man diese Menschen nicht mehr belangen. Damals verdiente „Tante M.“ und Co. viel Geld an viel Kindernot.
Und noch etwas kann ich bis heute nicht: Zu zweit, gar noch mehr Personen, in einem Raum zu schlafen. Auch in Partnerschaft benötige ich ein EINZELZIMMER, egal ob privat, im Hotel, im Krankenhaus. Und Schokolade, das kann ja niemand immer wissen, da wird es mir so übel. ALLES, was mit Schokolade zu tun hat.
Arbeite ich auf Terrasse oder im Garten mit einem Schlauch, denke ich SOFORT an den überhitzten Mini Raum, da auf dem Speicher, den man SCHLAUCH nannte. Das geht nicht weg.
Okay. Das hier war ein Versuch wert. Ändern kann man nichts mehr. Eine Kinderseele trägt alles bis in den Tod, ob positiv oder negativ.
Anonymisierungs-ID: ahr
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