Von: G.Z.
Ich war 1974, gemeinsam mit meiner 4 Jahre älteren Schwester, in Bad
Sassendorf, habe aus dieser Zeit noch ein Gruppenfoto.
Die 6 Wochen dort waren eine furchtbare Erfahrung für uns. Ich habe
unseren Eltern lange übel genommen, dass sie uns dahin geschickt haben.
Ich kann das, was im Artikel steht, voll bestätigen!
Essenszwang, sitzen bleiben vor dem Teller, bis er leer war. Wenn
erbrochen wurde, musste das Erbrochene wieder gegessen werden.
Angeblich sei dies eine Kur für unterernährte Arbeiterkinder. Ich war
nie unterernährt. Ein Kind passte am Ende nicht mehr in ihre Kleidung
und musste sich eine Decke umwickeln, um damit nach Hause zu fahren.
Nachts durfte kein Kind die Toilette aufsuchen. Bettnässer wurden mit
einem Handtuch am Bettende kenntlich gemacht, für jeden sichtbar.
Es wurde in Schlafsäälen geschlafen. Waren es am Anfang einzelne Kinder,
die nachts eingenäßt hatten, so waren es am Ende der 6 Wochen fast alle
Kinder.
Es gab ein Bäderhaus, das recht heruntergekommen war mit kaputten
Fenstern, Löchern in den Außenwänden. Dort sollten wir Sohlebäder in
Holzwannen nehmen. Das Wasser war extrem heiß. Wir wurden gezwungen in
das heiße Wasser einzusteigen, woraufhin reihenweise Kinder kollabiert
sind, ich selbst auch.
Jedes Kind hatte neben dem Bett einen Stuhl, auf dem die Kleidung
verwahrt wurde. Meine Brille (ich war damals schon sehr kurzsichtig)
hatte ich oben draufgelegt und unbeabsichtigt im Schlaf
heruntergeschubst. Daraufhin war die Brille kaputtgegangen. Ich durfte
meine Eltern darüber nicht informieren, musste zur Strafe die restliche
Kur ohne Brille verbringen. Mir wurde böse Absicht unterstellt, weil ich
die Brille angeblich ablehnen würde. Ich trug die Brille seit meinem 4.
Lebensjahr täglich und fühlte mich völlig verunsichert ohne sie, weil
ich schon damals nur 20 cm vor den Augen scharf sehen konnte.
Ich hatte in der Zeit meinen 10. Geburtstag. Meine Eltern hatten ein
Paket geschickt. Ich bekam den Brief zum Geburtstag ausgehändigt. Den
Inhalt des Paketes habe ich nie gesehen. Briefe, die rausgingen, wurden
vorher gegengelesen und kontrolliert. Es durfte nichts Negatives erwähnt
werden.
usw. ….
Insgesamt kann ich als Erzieherin rückblickend sagen, handelte es sich
um „schwarze Pädagogik“ vom Feinsten. Die Gruppenleiterin war ganz
offensichtlich noch von der Nazizeit geprägt.
Ich denke, es ist schwierig, die damalige Situation mit heutigen
Maßstäben zu messen. Es war damals gesellschaftlicher Konsens, dass
Gewalt noch keinem geschadet haben soll (das war exakt der Inhalt des
einzigen Erziehungsratgebers einer Kinderärztin im 3. Reich). Wie oft
hatte ich als Kind versucht, Erwachsenen mitzuteilen, dass ich Gewalt
erlebte, auch zuhause. Es hat niemanden interessiert. Es wurde darüber
hinweggegangen. Die Erwachsenen hatten immer Recht. Als Kind war ich zu
„empfindlich“, es wurde als „sich anstellen“ dargestellt oder ich wurde
als Lügnerin hingestellt. Irgendwann verstummt man dann als Kind.
Als in den 80er Jahren angehende Heimerzieherin konnte ich die
Konsequenzen der schwarzen Pädagogik noch spüren. Erst in den 80er
Jahren gab es in der Heimerziehung einen Paradigmenwechsel, was die
Kinder und Jugendlichen dort als Machtvakuum wahrnahmen, weil sie die
autoritären Führungsstile gewohnt waren und den neuen, eher
partnerschaftlich-demokratischen Führungsstil nicht wechseln konnten.
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