59505 Bad Sassendorf, 1974

Den Inhalt des Paketes habe ich nie gesehen.

Von: G.Z.

Ich war 1974, gemeinsam mit meiner 4 Jahre älteren Schwester, in Bad

Sassendorf, habe aus dieser Zeit noch ein Gruppenfoto.

Die 6 Wochen dort waren eine furchtbare Erfahrung für uns. Ich habe

unseren Eltern lange übel genommen, dass sie uns dahin geschickt haben.

Ich kann das, was im Artikel steht, voll bestätigen!

Essenszwang, sitzen bleiben vor dem Teller, bis er leer war. Wenn

erbrochen wurde, musste das Erbrochene wieder gegessen werden.

Angeblich sei dies eine Kur für unterernährte Arbeiterkinder. Ich war

nie unterernährt. Ein Kind passte am Ende nicht mehr in ihre Kleidung

und musste sich eine Decke umwickeln, um damit nach Hause zu fahren.

Nachts durfte kein Kind die Toilette aufsuchen. Bettnässer wurden mit

einem Handtuch am Bettende kenntlich gemacht, für jeden sichtbar.

Es wurde in Schlafsäälen geschlafen. Waren es am Anfang einzelne Kinder,

die nachts eingenäßt hatten, so waren es am Ende der 6 Wochen fast alle

Kinder.

Es gab ein Bäderhaus, das recht heruntergekommen war mit kaputten

Fenstern, Löchern in den Außenwänden. Dort sollten wir Sohlebäder in

Holzwannen nehmen. Das Wasser war extrem heiß. Wir wurden gezwungen in

das heiße Wasser einzusteigen, woraufhin reihenweise Kinder kollabiert

sind, ich selbst auch.

Jedes Kind hatte neben dem Bett einen Stuhl, auf dem die Kleidung

verwahrt wurde. Meine Brille (ich war damals schon sehr kurzsichtig)

hatte ich oben draufgelegt und unbeabsichtigt im Schlaf

heruntergeschubst. Daraufhin war die Brille kaputtgegangen. Ich durfte

meine Eltern darüber nicht informieren, musste zur Strafe die restliche

Kur ohne Brille verbringen. Mir wurde böse Absicht unterstellt, weil ich

die Brille angeblich ablehnen würde. Ich trug die Brille seit meinem 4.

Lebensjahr täglich und fühlte mich völlig verunsichert ohne sie, weil

ich schon damals nur 20 cm vor den Augen scharf sehen konnte.

Ich hatte in der Zeit meinen 10. Geburtstag. Meine Eltern hatten ein

Paket geschickt. Ich bekam den Brief zum Geburtstag ausgehändigt. Den

Inhalt des Paketes habe ich nie gesehen. Briefe, die rausgingen, wurden

vorher gegengelesen und kontrolliert. Es durfte nichts Negatives erwähnt

werden.

usw. ….

Insgesamt kann ich als Erzieherin rückblickend sagen, handelte es sich

um „schwarze Pädagogik“ vom Feinsten. Die Gruppenleiterin war ganz

offensichtlich noch von der Nazizeit geprägt.

Ich denke, es ist schwierig, die damalige Situation mit heutigen

Maßstäben zu messen. Es war damals gesellschaftlicher Konsens, dass

Gewalt noch keinem geschadet haben soll (das war exakt der Inhalt des

einzigen Erziehungsratgebers einer Kinderärztin im 3. Reich). Wie oft

hatte ich als Kind versucht, Erwachsenen mitzuteilen, dass ich Gewalt

erlebte, auch zuhause. Es hat niemanden interessiert. Es wurde darüber

hinweggegangen. Die Erwachsenen hatten immer Recht. Als Kind war ich zu

„empfindlich“, es wurde als „sich anstellen“ dargestellt oder ich wurde

als Lügnerin hingestellt. Irgendwann verstummt man dann als Kind.

Als in den 80er Jahren angehende Heimerzieherin konnte ich die

Konsequenzen der schwarzen Pädagogik noch spüren. Erst in den 80er

Jahren gab es in der Heimerziehung einen Paradigmenwechsel, was die

Kinder und Jugendlichen dort als Machtvakuum wahrnahmen, weil sie die

autoritären Führungsstile gewohnt waren und den neuen, eher

partnerschaftlich-demokratischen Führungsstil nicht wechseln konnten.

Anonymisierungs-ID: abm

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