Von: K.H.
Dauer der Verschickung: ca. 4 Wochen
Bericht: Kurz vor der Einschulung meinten meine Eltern, wir, mein ein Jahr jüngerer Bruder und ich, müssten körperlich fit gemacht werden für die Schule. Daher wurden wir zur Kur ins “Kindergenesungsheim” nach Mittelberg Oy “verfrachtet”. Da meine Eltern uns streng katholisch erzogen hatten und sie auch in der heimischen Kirchengemeinde fest verankert waren, war wohl von der öörtlichen Pfarrei die Empfehlung für das Heim von Mittelberg gegeben worden. Schlaglichtartig kann ich mich noch an viele Szenen genau erinnern.
Zu den harmloseren zählte für mich die abendliche Ankunft nach einer ganztägigen Zugfahrt auf einen in der Nähe gelegenen Bahnhof. Dann wurden wir Kinder mit mehreren Kleinbussen nach Mittelberg befördert. Mein Bruder und ich nahmen Platz in einem Ford Transit der ersten Generation, braun. Schon als damals 7-Jähriger war ich erstaunt, warum es nicht ein VW Bus war. Der VW-Bus war damals der Platzhirsch unter den Kleinbussen, und das wusste ich schon als Kind.
Im Heim angekommen, wurden wir sehr schnell mit den Regeln bekannt gemacht. Es galt absoluter Gehorsam, nachts durfte das Bett nicht verlassen werden, die Nachtruhe war sehr lang, ca. von 18.30 bis 8.00 Uhr. Tagsüber galt nach dem Mittagsessen eine zweistündige Mittagsruhe auf Liegen in einem großen Liegeraum. Wer sich nur bewegte oder einen Laut von sich gab, musste mit Bestrafung rechnen.
Mein jüngerer Bruder fiel eines nachts auf, weil er auf dem Flur herumlief. Er wurde von den Nonnen für die Nacht in einen dunklen Kellerraum gesperrt und ich als älterer Bruder machte mir Vorwürfe, dass ich nicht besser auf ihn aufgepasst hatte.
Eine weitere Regel bestand darin, dass das Essen bis auf den letzten Rest auf dem Teller aufgegessen werden musste. Wer es nicht schaffte, musste so lange am Tisch sitzen bleiben, bis er seinen Teller geleert hatte, ob es ihm schmeckte oder nicht, ob es zu viel war, spielte keine Rolle. Häufiger kam es vor, dass Kinder erbrachen: Wenn sie in den Teller erbrachen, mussten sie das Erbrochene essen. Erbrachen sie auf den Boden, wurden noch rabiatere Methoden angewandt: Zwei oder drei Nonnen fielen über das unglückliche Kind her und zwangen es unter Gewaltanwendung, einen Schlauch zu schlucken und sich gänzlich zu erbrechen.
Diese Prozedur vor der gesamten im Speiseraum versammelten Kindergruppe war so verstörend für die anderen, dass man alles daransetzte, nicht selbst Opfer solcher Torturen zu werden. (Wenn ich das jetzt so aufschreibe, ist es kaum zu glauben, aber ich könnte heute noch genau bestimmen, an welchem Tisch ich saß und an welchem eine dieser entsetzlichen Übergriffe stattgefunden haben).
Im Rückblick und mit einem analytischen Blick auf damals kann ich sagen, dass mein Bruder und ich noch einigermaßen unbeschadet aus dieser Hölle von Mittelberg Oy zurück nach Haus gefahren sind. Den Eltern haben wir nur ansatzweise von den Übergriffen berichtet; sie taten es als Übertreibungen ab. Gottesfürchtige Nonnen konnten sich so etwas nicht herausnehmen. Schlimmer hat es die Kinder aus Verhältnissen gehabt, die keinen so stabilen familiären Background wie wir hatten. Es gab so einige Waisenkinder in der Gruppe (damals war mir der Begriff “Waisenkind” so recht klar). Besonders sie mussten unter den Demütigungen und Quälereien besonders leiden.
Aufgrund der engen Anbindung meiner Eltern an die katholische Kirche hatten sie ein Heim gewählt, dass von Ordensschwestern geleitet wurden. Diese Mixtur aus körperlicher Gewalt mit sadistischen Elementen, schwarzer Pädagogik, verordneter Unterwürfigkeit, und das ständige herbeireden eines schlechten Gewissens haben mich schon sehr früh zu der Überzeugung kommen lassen, dass die Kirche und ihre Lehre deformierte Charaktere erzeugt, was letztendlich auch die Diskussion um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche belegt.
Ich fühle mich zwar durch die Erfahrungen, die ich meiner Kindheit mit Nonnen, Vikaren, Pfarrern und anderen kirchlichen Funktionsträgern gemacht habe, nicht traumatisiert, verspüre aber eine große Wut auf die Amtskirche.
Ich kann noch Äähnliches aus zwei anderen Heimen berichten, in die ich als 5-jähriger und mit 10 Jahren für 3 Wochen verbracht wurde. Auch diese wurden von Nonnen geleitet und auch hier kann ich im Nachhinein sagen, dass es sich um deformierte Persönlichkeiten handelte bezüglich ihrer Erziehungsmethoden. Ich spreche hier von dem katholischen Kinderheim in Sandebeck bei Detmold.
Ich habe diesen Bericht geschrieben, weil ich großes Interesse daran habe, diese Kindheitserfahrungen mit anderen, die auch in diesen Heimen “kuren” durften, aufzuarbeiten oder zu teilen. Vielleicht gibt es noch jemanden, der die gleichen Erfahrungen in Mittelberg Oy oder in Saandebeck gemacht haben.
Anonymisierungs-ID: aji