Von: K.B.
Ich bin 63 Jahre alt.
Im Alter von sechzig Jahren wurde mir bewusst, dass ich ‚Verschickungskind‘ war.
Vorher lautete die Erzählung:
ich war im Alter von fünf Jahren für sechs Wochen zur ‚Kinderkur‘ in Obermaiselstein nahe Oberstdorf.
Ich litt als Kind an chronischer Bronchitis. Meine Eltern wollten, dass ich gesund werde. Es würde
schön werden mit so vielen anderen Kindern.
Ich erinnerte mich jedoch kaum.
Mit sechzig sah ich zufälligerweise einen Bericht im Fernsehen über die sog. Verschickungskinder. Und
ich begriff fassungslos: mein Gott, das war ja ich!
Ich wurde überfallartig bestürmt von Erinnerungsfragmenten. Es waren nur wenige, aber sie kamen
mit Macht.
Obwohl meine Kindheitserinnerungen im Alter von zweieinhalb Jahren beginnen und sehr detailreich
sind, habe ich an die sechs Wochen in dem Kurheim kaum Bilder in mir.
Ich erinnere mich an eine einzige Mahlzeit: es gab eine Suppe. Diese war dunkelbraun und gallertartig,
und bildete obenauf eine Haut. Ihr Aussehen und Geruch ekelten mich derart, dass ich trotz
Drohungen nicht fertigbrachte, sie zu essen.
Zur Strafe musste ich noch vor den anderen Kindern in’s Bett. Der Suppenteller wurde neben mein
Bett gestellt.
Wir wurden von Nonnen beaufsichtigt.
Nach der Bestrafung wegen der Suppe, die ich als Demütigung vor allen anderen Kindern empfunden
hatte, fürchtete ich mich sehr davor, nochmals bloßgestellt zu werden. Ich hatte Angst, man könne mir
meine Furcht ansehen und mich deswegen erst recht zwecks Bestrafung aus den Reihen ziehen.
Eine andere Erinnerung ist eine Schneewanderung mit einer großen Gruppe von Kindern. Die meisten
waren größer als ich. Wir müssen Stunden unterwegs gewesen sein:
ich erinnere mich an eiskalte, nasse Füße, an vollkommen erschöpfte Beine, und an zwei Nonnen, die
uns zuriefen, wir sollen laufen. Wir sollen nicht langsamer werden.
Mittags mussten wir schlafen. Wenn die Vorhänge zugezogen wurden und es still wurde, lag ich da mit
dieser erdrückenden Einsamkeit, und einem Heimweh, so groß, dass es mich kaum atmen ließ, und ich
weinte, schluchzte, so leise es ging in’s Kissen, um nicht gehört zu werden.
Ich machte dabei in’s Bett.
Einmal bekam ich Post von meiner Mutter. Der Brief war bereits geöffnet und ohne Kuvert. Wir Kinder
sollten den Eltern antworten, und bekamen den Antworttext diktiert.
Ich konnte mit fünf Jahren bereits einigermaßen schreiben, und erinnere mich an das merkwürdige
Gefühl, in Ich-Form etwas zu schreiben, was nicht von mir kam.
Die meiste Zeit jedoch liegt für mich in ein schweres dichtes Dunkel gehüllt. Anders kann ich das
Gefühl nicht beschreiben. Ich erinnere mich weder an andere Aktivitäten als diese eine Wanderung
noch an Körperpflege, Toilettengänge, das An- und Auskleiden, nicht an den Tagesablauf, nicht an die
Heimreise. Da ist gar nichts.
Ich bekam heute Morgen Fotos des Heims zugeschickt und erkannte darauf einiges wieder: die Betten,
den Speisesaal. Ich hatte dabei starkes Herzklopfen.
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