Neue Forschungsergebnisse zu der ehemaligen Kinderkureinrichtung Godeshöhe werfen brisante Fragen auf
Von Bastian Tebarth
Am 10. September hat die Landesregierung NRW die Studie „Missbräuchlicher Einsatz von Medikamenten an Kindern und Jugendlichen“ vorgestellt. Darin wird auch von der systematischen Medikamentenerprobung an Kindern im Kinderkrankenhaus Godeshöhe der Stadt Köln berichtet. Dort wurden zwischen 1961 und 1964 die Bayer-Medikamente Iridocin (Ethionamid) und Trasylol (Aprotinin) getestet. Iridocin wurde trotz teils schwerwiegender Nebenwirkungen als „wertvolle Ergänzung“ zur Tuberkulosebehandlung angepriesen und ausgiebig an den Kindern getestet. Trasylol wurde 2007 wegen lebensbedrohlicher Komplikationen vom Markt genommen.
Gewaltregime durch Nonnen: Zeitzeugen berichteten von einem einschüchternden Gewaltregime durch die katholische Schwesterngemeinschaft der Cellitinnen von der Severinsstraße in den 1950er und 1960er Jahren.
Medikamententests unter Beteiligung von Bayer
Beim Kinderkrankenhaus Godeshöhe zeigen sich deutliche Parallelen zur Kinderheilstätte Aprath (s. Bericht hier) in ihrer Einbindung in medikamentöse Erprobungen, insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Pharmakonzern Bayer. In beiden Einrichtungen fanden umfangreiche Testreihen neuer Medikamente an Kindern statt, offenbar oft ohne ausreichende medizinische Indikation oder informierte Zustimmung der Eltern.
Die Verflechtung mit der pharmazeutischen Forschung lässt sich in beiden Einrichtungen bis in die 1950er und 1960er Jahre nachvollziehen. Die enge Zusammenarbeit mit Bayer wurde durch den renommierten Pharmakologen und Nobelpreisträger Gerhard Domagk gefördert, der sowohl in Aprath als auch in Godeshöhe eine Rolle bei Medikamententests spielte.
Die parallele Entwicklung in beiden Heilstätten legt nahe, dass diese Einrichtungen systematisch in ein groß angelegtes medizinisches Testprogramm eingebunden waren. Kinder dienten offenbar als Versuchspersonen für Pharmaunternehmen, während die Trägerschaften dies nicht nur duldeten, sondern möglicherweise aktiv unterstützten.
Neben den Medikamententestungen sind auch die Berichte über strukturelle Gewalt, Misshandlungen und psychischen Missbrauch in beiden Einrichtungen frappierend ähnlich.
Körperliche Züchtigung und Fixierungen
Wie in Aprath wurden die Kinder auf der Godeshöhe Opfer von brutalen Strafmaßnahmen. Ein Zeitzeuge berichtet etwa von Strafen für Bettnässer, darunter Schläge und das stundenlange Einsperren in eine Kiste mit nasser Bettwäsche sowie öffentliche Bestrafungen durch das Pflegepersonal. Die Kinder sollen zudem fixiert worden sein.
Die Misshandlungen in beiden Einrichtungen weisen darauf hin, dass diese Heilstätten nicht nur medizinische, sondern auch disziplinierende und repressiv-autoritäre Funktionen hatten, in denen sich überkommene Vorstellungen von Erziehung und Zwangsmaßnahmen manifestierten.
Institutionelle Verantwortlichkeiten
Die Parallelen zwischen den Kinderheilstätten Aprath und Godeshöhe zeigen, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, das über einzelne Einrichtungen hinausweist. Die Verflechtungen von öffentlichen und privaten Trägern mit der Pharmaindustrie ermöglichten offenbar die systematische Ausbeutung von Kindern für Medikamentenversuche. Gleichzeitig sorgten autoritäre Erziehungsmethoden, sexualisierte Gewalt und fehlende Aufsicht für ein repressives Klima, das traumatische Erfahrungen hinterließ.
Beide Fälle werfen dringende Fragen nach der Rolle von Pharmaunternehmen, medizinischer Forschung, staatlicher bzw. kommunaler Aufsicht und kirchlicher Mitverantwortung auf. Sie unterstreichen die Notwendigkeit einer umfassenden Aufarbeitung und eines erinnerungskulturellen Umgangs mit diesen Missständen.
Zeitzeugenbericht Godeshöhe 1954
Mitschrift aus einem Telefonat mit dem Betroffenen G. B. am 16.05.2024, verschickt TB-erkrankt als 4-Jähriger in das Kinderkrankenhaus Godeshöhe, vermutlich um 1954 (Aufenthaltsdauer vermutlich 1,5 Jahre):
»Also ich bin im Moment Mitte 70. Und ich bin im Alter von ungefähr vier Jahren da gewesen, soweit ich mich erinnern kann, sogar eineinhalb Jahre. Ich bin in Köln-Kalk aufgewachsen und zu der damaligen Zeit existierte die Chemische Fabrik Kalk noch. Das können Sie sich vielleicht wie in einem Schwarz-Weiß-Film vorstellen: Es gab keine Farben. Der Kalk, der rieselte durch die Luft. Also es war natürlich gerade für ein erkranktes Kind eine sehr schlimme Umgebung. Und ja, dann bin ich zur Gödeshöhe bekommen. Vermutlich als eines der kleinsten Kinder. Ich weiß, dass es da eine Klasse gab, dass unterrichtet wurde. Aber dazu gehört ich nicht.
Ich habe auch diese Erinnerungen, jetzt seit ungefähr 20 Jahren, vor 20 Jahren habe ich eine Therapie angefangen und bin von daher gesehen auf viele Details gekommen. Die mir bisher verborgen waren. Ich hatte immer das Gefühl, da ist eine Tür, die ich nicht öffnen sollte. Ich wusste aber nicht, was dahinter war.
Ich habe nur bruchstückartige Erinnerungen an das Gebäude. Ich weiß, dass ich, also ständig, häufiger bestraft wurde, weil ich Bettnässer war. Ich weiß aber auch, dass man mich ab einem gewissen Zeitraum da fixiert hat. Ich habe eine schwache Erinnerung, dass ich versucht habe aus dem Fenster zu springen.
Es gab in dieser Einrichtung ein Strafzimmer. Bestrafungen wurden vorgenommen, wenn die gesamten Kinder versammelt waren. Das Haus wurde ja von Nonnen geleitet. Die Bestrafung bestand also in meinem Fall aus der Auswahl, mit Ruten geschlagen (…) oder in eine Kiste eingesperrt zu werden. In eine Kiste. Ich habe ja Kunstgeschichte studiert: Es kam mir vor, wie so eine Truhe, wie sie von fahrenden Heeren mitgenommen wurde, mit einem ziemlich alten Schloss. Ich wurde dann mitsamt der nassen Bettwäsche in diese Truhe gesperrt und bin da verblieben. Ich kann die Dauer nicht benennen, es war aber auf jeden Fall über Stunden. Und das ist mir mehrmals passiert. Bei weiteren Bestrafungen habe ich sie angefleht, sie sollten mich doch schlagen und mich nicht mehr in die Kiste stecke. Aber diese Wahl hatte ich dann nicht mehr.«
Geschichte des Kinderkrankenhauses Godeshöhe
Die Stadt Köln betrieb von 1920 bis 1976 das Kinderkrankenhaus „Godeshöhe“ in Bad Godesberg im Stadtteil Schweinheim (zeitweise firmierte das Haus auch als „Kindererholungsheim“). Heute befindet sich an der Adresse (Waldstraße 2-10) die gleichnamige Reha-Klinik der Johanniter.
In das Kinderkrankenhaus wurden nach jetzigem Wissensstand vorwiegend Kinder aus Köln mit Tuberkulose und anderen Lungenerkrankungen verschickt.
Das Pflegepersonal stellte die katholische Schwesterngemeinschaft der Cellitinnen von der Severinsstraße (auch als Cellitinnen nach der Regel des hl. Augustinus oder als Augustinerinnen bekannt).
Chronik:
1907: Gegründet als „Sanatorium für Nervenleidende Godeshöhe“ von Dr. Bruno Bernard. Gestiftet wird das Sanatorium auf Anregung des Kölner Geschäftsmannes, Fabrikanten und Politikers Heinrich Maus von dem aus Köln stammenden britischen Bankier Sir Ernest Cassel.
1920: Das Sanatorium wird von der Stadt Köln gekauft und als Kindererholungsheim bzw. Kinderkrankenhaus für vorwiegend lungenkranke Kinder (Kapazität: 200 Kinder) eröffnet, die z.T. bis zu 2 Jahren gepflegt wurden (mit Schulunterricht), die Krankenpflege wurde durch bis zu 25 katholischen Schwestern, den Cellitinnen/Augustinerinnen von der Severinsstraße, besorgt.
1944: Bombardierung und vermutlich großflächige Zerstörung (parallel dazu auch Bombardierung der Stadt Bonn und der Universitätsklinik Bonn); warum das Kinderkrankenhaus trotz Rote-Kreuz-Kennzeichnung bombardiert wurde, ist ungeklärt.
1954-1976: Neubau und Wiedereröffnung als Kinderkrankenhaus der Stadt Köln mit Pflegepersonal von 1954 bis zumindest 1969 wieder durch die Cellitinnen/Augustinerinnen von der Severinsstraße (zuletzt noch 9 Schwestern)
Quellen:
- Eigene Recherchen
- CSP-Interview mit Zeitzeugen
- „Missbräuchlicher Einsatz von Medikamenten an Kindern und Jugendlichen“. Die Studie unter der Leitung von Prof. Dr. Heiner Fangerau (HHU Düsseldorf) untersucht erstmals systematisch den Einsatz von Arzneimitteln in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, Behindertenhilfe und Psychiatrie sowie im Rahmen der Kinderverschickung von 1946 bis 1980.