Am 10. September 2025 stellte die Landesregierung NRW im Düsseldorfer Landtag eine wissenschaftliche Studie zum missbräuchlichen Einsatz von Medikamenten an Kindern und Jugendlichen bis 1980 vor.
Die Ergebnisse sind erschütternd – und sie berühren unmittelbar auch die Geschichte der Kinderverschickungen: Viele Verschickungskinder kamen in Heime, in denen nicht Erholung, sondern Gewalt, Entwürdigung und Medikamentenmissbrauch an der Tagesordnung waren.
Als Vertreter der Verschickungskinder war Detlef Lichtrauter bei der Landespressekonferenz eingeladen. Der Vorstandsvorsitzende des AKV-NRW e.V. war als 12-jähriger Junge in das Kindersanatorium Haus Bernward verschickt. Das Heim in Bonn-Oberkassel findet in der Studie ebenfalls Erwähnung. Dort sollen Kinder „bis zum Umfallen“ sediert worden sein.
Medikamente zur Kontrolle statt zur Heilung
Die Studie zeigt:
- Medikamente wurden systematisch eingesetzt, um Kinder ruhigzustellen und den Heimbetrieb zu erleichtern.
- Psychopharmaka und andere Mittel wurden gegeben, ohne medizinische Notwendigkeit.
- Kinder wurden zu Versuchsobjekten gemacht – ohne Aufklärung, ohne Einverständnis.
- Medikamentenmissbrauch war eng verflochten mit physischer Gewalt, Demütigungen und entwürdigenden Praktiken.
Nach Schätzungen waren rund 20 % aller untergebrachten Kinder betroffen.
Konkrete Kinderverschickungsheime: Aprath, Godeshöhe und Oberkassel
Besonders eindrücklich dokumentiert die Studie die Zustände in den folgenden Kinderverschickungsheimen, zu denen das CSP-KV-NRW (Projekt des AKV-NRW e.V.) bereits umfangreiche Recherchen vorgelegt hat (s. Verlinkungen):
- der Kinderheilstätte Aprath (Kreis Mettmann), wo Kinder unter anderem mit noch nicht zugelassenen Tuberkulose-Mitteln und fragwürdigen Medikamententests konfrontiert waren,
- der Kinderheilstätte Godeshöhe bei Bonn, wo ebenfalls Medikamente offenbar ohne ausreichende Aufklärung verabreicht wurden,
- dem Heim Haus Bernward in Oberkassel, wo Betroffene von massiver Medikamentengabe berichten.
Viele Verschickungskinder erinnern sich an regelmäßige Spritzen und Tabletten – ohne zu wissen, was ihnen da verabreicht wurde.
Verbindung zur Kinderverschickung
Für die Verschickungskinder ist die Studie ein weiterer Beleg, dass ihre Erlebnisse Teil eines größeren Systems waren: Über zwei Millionen Kinder aus NRW wurden zwischen 1950 und 1990 verschickt – oft in Heime, die nicht Erholung boten, sondern faktisch rechtsfreie Räume für Gewalt, Zwang und Medikamentenmissbrauch.
Dass die Studie diese Zusammenhänge nun bestätigt, ist für viele Betroffene schmerzhaft – aber auch wichtig: Sie macht sichtbar, was lange verdrängt wurde.
Zitat von Prof. Fangerau
„Lange Zeit wurde den Betroffenen nicht zugehört und nicht geglaubt. Verantwortliche schauten weg oder ermöglichten den Missbrauch, obwohl ihnen bewusst war, dass sie gegen die Medizinethik ihrer Zeit verstießen.“
Ein Schritt zur Anerkennung – aber kein Schlussstrich
Sozialminister Karl-Josef Laumann bat im Namen der Landesregierung um Verzeihung:
„Es tut mir von Herzen leid, dass Einrichtungen, die ein Zuhause hätten sein sollen, zu Orten der Qual wurden – mit Folgen, die bis heute nachwirken.“

Für die Betroffenen bleibt entscheidend: Die Aufarbeitung muss weitergehen.
Die Studie ist ein wichtiger Schritt – doch viele Fragen sind noch offen, besonders zur Rolle der Träger und Verantwortlichen. Was wussten und duldeten sie in den Verschickungsheimen?
Die Studie ist hier abrufbar.