von Engelbert Tacke
Für Verschickungskinder geht es immer wieder um das Thema „Kindheitstrauma“ und um dessen Bewältigung. Dass die Nachfrage nach Angeboten zum Thema weiterhin hoch ist, zeigte der Zuspruch zum Vortrag „Traumatisierung verstehen, bewältigen und aufarbeiten“ von Silke Brigitta Gahleitner. Gahleitner ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Zum Zoom-Meeting hatten sich auf Einladung des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickung NRW über 100 Menschen angemeldet.
Gahleitners Credo ist ein politisches, auch wenn sie es psychologisch herleitet: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Verschickung sollte nicht nur psychologisch und individuell geschehen, sondern auch im Erinnern, Aufdecken und Beteiligen in der Gesellschaft. Die Betroffenen sollten mit Ansprüchen an die Politik und die Institutionen herantreten, die das Leid der Verschickungskinder zu verantworten hatten.
Denn das, was Verschickungskinder erlebt haben, war wesentlich geprägt von Schwarzer Pädagogik, vom Nationalsozialismus und der Zeit davor. Wichtig ist ihr aber dabei, dass mit dem Zeitgeist-Argument „Das war damals so“ das erfahrene Leid und der Schmerz nicht „wegerklärt“ werden dürfe. Im Gegenteil: Der Umgang mit Kindern war jedoch in den 1950er bis 80er Jahren nicht „traumasensibel“, die Erziehungsideologie nicht hilfreich bei der Bewältigung.
Gute Entwicklungschancen trotz Trauma
Gahleitner geht dabei davon aus, dass eine Traumatisierung grundsätzlich zu bewältigen sei: Auch schwer traumatisierte Kinder hätten noch sehr gute Entwicklungschancen. Mit Blick auf die aktuelle Situation mit kriegstraumatisierten Flüchtlingskindern könne aber genauso „noch vieles kaputt gemacht werden“. Es komme darauf an, wie Betroffene unterstützt werden.
Die Gehirnforschung habe gezeigt, dass der Mensch zu sehr großen Anpassungsleistungen in der Lage sei. Dabei habe Traumatisierung nicht nur negative Auswirkungen: In der Bewältigung entwickele das Gehirn Resilienz, also Widerstandsfähigkeit.
Der größte Schutzfaktor traumatisierter Kinder sei die soziale Unterstützung. Wenn es die nicht gebe, entwickele das Gehirn sogenannte „Furchtstrukturen“.
Traumafolgen von Generation zu Generation
Die aktuelle Forschung zeige, dass es neben den unmittelbaren Folgen, die sich entsprechend der Altersstruktur der Traumatisierten als verschiedene psychische Störungen herausbildeten, noch massive weitere gebe: Dauernde körperliche Anspannung und Erkrankungen wie Diabetes, sogar Krebs, seien genauso mögliche Folgen wie geringere Bildungs- und Aufstiegschancen und massive Störungen in der sozialen Beziehungsfähigkeit. Menschen mit nicht bewältigten Traumata hätten häufig Probleme mit ihrer Emotionsregulation, verspüren große Wut, nehmen andere Menschen als ihnen feindlich gesonnen wahr. Derart schlechte Erfahrungen pflanzten sich fort: Kinder von Traumatisierten ohne soziale Unterstützung gründeten häufig auch Familien, in denen dieselben oder ähnliche Probleme wieder auftauchten. Das wird als transgenerative Weitergabe bezeichnet. Die Gesellschaft müsse hier für die Betroffenen niedrigschwellige Einrichtungen anbieten, um diesen Kreislauf zu durchbrechen. Diese Forderung könne sich auch die Initiative der Verschickungskinder zu eigen machen, die Gahleitner auf einem guten Weg sieht, die richtigen Fragen aufzuwerfen.
Verantwortliche klar benennen
Auch wenn die Bindung, so Gahleitner, „fast noch wichtiger ist als das Trauma“, gibt sie eine wichtige politische Botschaft an die Betroffenen:
„Lassen Sie nicht zu, dass Ergebnisse der Forschung über die Kinderverschickung von Institutionen oder politischen Interessengruppen funktionalisiert werden.“
Denn in der anschließenden Diskussion war auf die Pressearbeit zur Studie über die Kinderverschickung der DAK hingewiesen worden. Aus der Studie hatte die Kasse in ihrer Pressemitteilung die Schlussfolgerung gezogen, dass die Folgen der Verschickung für die Kinder ohne starke emotionale Bindung im Elternhaus besonders starke Auswirkungen gehabt hätten.
Den Schmerz allerdings, den die Verschickung und die Behandlung in den Heimen ausgelöst hatten, hätten die Einrichtungen und deren Träger auch heute noch zu verantworten, war sich die Runde einig. Denn „eine Ohrfeige schmerzte vor 40 Jahren genauso wie eine Ohrfeige heute“, so das Bild einer Teilnehmerin. Keine der Institutionen, die Kinder verschickt haben, dürfe sich aus dieser Verantwortung schleichen.
Traumabewältigung ist schmerzhaft
Aber auch gefragt nach der richtigen Umgehensweise mit der Aufarbeitung der eigenen Verschickung gab Gahleitner wertvolle Hinweise. Bei der häufig mit der Verschickung verbundenen Amnesie, also dem Mangel an Erinnerung an die Zeit im Heim, rät sie zu einem behutsamen, eher beiläufigen Öffnen für die Erinnerungen. Denn die Bewältigung einer Traumatisierung sei ein hochkomplexer Prozess von Annäherung und Vermeidung, schmerzhaft zudem, so dass eine schnelle Offenlegung des Verdrängten im Sinne einer Heilung gar nicht wünschenswert sei. Auch der Konfrontation mit früheren Peinigern stand Gahleitner skeptisch gegenüber, genauso wie dem Versuch, mit dem zu schnellen Verzeihen z.B. der Eltern, Frieden zu finden. Und in Bezug auf die in der Verschickung praktizierte „Weitererziehung“ der Kinder durch das Heimpersonal erläutert sie: „Es geht in missbräuchlichen Beziehungen immer um Macht“. Heute geht es den Verschickungskindern darum, dass ihre Erlebnisse keine Macht mehr über sie ausüben. Dazu müssen die Verantwortlichen endlich ihre Verantwortung übernehmen.