Datteln. 12.+13.09.2024
Autorin und Redaktion: Michaela Stricker
Für Dackel Elfie war es ein ganz besonders Wochenende. Zum ersten Mal durfte sie mit Herrchen Detlef vor der Kamera stehen.
Denn Detlef, ehemaliges Verschickungskind und AKV-Vorsitzender, wird für einen Dokumentarfilm begleitet. Zwei Tage lang ist Filmemacherin Katrin Sikora mit ihrem Team Kameramann Janis und Tonexperte Sam und Dackel Elfie auf den Spuren eines sehr düsteren Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte.
„Für viele von uns ist die Verschickung in der Kindheit immer noch ein täglicher Kampf mit Erinnerungen, die man nicht abschütteln kann,“ erklärt Detlef.
Detlef Lichtrauter
Fast jeden Tag rufen bei Detlef Verschickungskinder an, um von ihren grausamen Erfahrungen zu berichten, die sich bis heute auf ihr Leben auswirken.
„Ich habe mich dazu entschlossen, mich nicht meinem Leid hinzugeben, sondern mich für uns Verschickungskinder einzusetzen,“ betont der AKV-Vorsitzende.
Eine wichtige Kraftquelle für Detlefs Alltag ist dabei Dackel Elfie.
„Mein Hund schenkt mir jeden Tag so viele kleine Freudenmomente im Leben. Das gibt mir so viel Halt und lässt mich trotz allem Verschickungsleid positiv in die Zukunft schauen.“
Detlef Lichtrauter
Daher ist für Filmemacherin Katrin Sikora klar: Die kleine Dackeldame muss auf jeden Fall in den Film.
Die Doku, die Katrin Sikora im Auftrag des ZDF produziert, beleuchtet das Thema der Kinderverschickungen in einer Tiefe, die bisher selten zu sehen war. Zwei Tage lang hat das Team Detlef gefilmt – beim Kochen, beim Mountainbiken und beim Gassi-Gehen mit Elfie. Das Herzstück des Drehs: ein intensives, dreistündiges Interview im engen Wohnmobil, das für ihn zu einer emotionalen Zerreißprobe wurde. „Es ist nicht leicht, solange in die Vergangenheit zu blicken“, gesteht er später, sichtlich bewegt.
Das Schicksal der Verschickungskinder ist eines, das in Deutschland oft übersehen wurde. Doch Katrin Sikora, deren eigene Mutter ebenfalls eines dieser Kinder war, hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Geschichten Gehör zu geben. „Es ist uns wichtig, nicht nur die historischen Fakten zu beleuchten, sondern auch zu zeigen, wie diese Erfahrungen bis heute das Leben der Betroffenen und deren Familien prägen“, erklärt sie.
Eine besonders berührende Szene ergab sich ganz zufällig: Während der Dreharbeiten auf einem Campingplatz traf das Team auf ein weiteres ehemaliges Verschickungskind. Der Mann war von Emotionen überwältigt, als er begann, seine Geschichte zu erzählen. Tränen liefen ihm über das Gesicht, und die Worte versagten ihm – so tief sitzt der Schmerz auch nach all den Jahren. Solche Begegnungen sind es, die Detlef immer wieder aufs Neue motivieren, sich für die Verschickungskinder starkzumachen.
Elfie hat während des Drehs die Herzen des Teams im Sturm erobert und in schwierigen Momenten alle aufgemuntert: zum Beispiel als sie das für alle sehr anstrengende dreistündige Interview kurz unterbricht, weil es Zeit war für ihr gewohntes Nachmittags-Leckerchen ist.
So verlässt das Filmteam nach zwei intensiven Tagen den Drehort auf einem Campingplatz in Nordrhein-Westfalen mit vielen Erinnerungen. Detlef: „Es gibt viele Arten, mit den Schatten der Vergangenheit umzugehen. Mit einem Hund an deiner Seite fühlt sich der Weg ein ganzes Stück leichter an.“
Interview mit Filmemacherin Katrin Sikora
Wie lange drehst Du schon an der Dokumentation?
„Die Dokumentation ist ein abendfüllender Dokumentarfilm bzw. Langfilm (ca. 90 Min).
Wir haben seit November 2023 bis September 2024 gedreht. Der Dreh ist abgeschlossen, im Oktober beginnen wir mit dem Schnitt.“
Welche Schwerpunkte setzt Du in dem Film?
„Für den Film begleiteten wir einige wenige Protagonist*innen, darunter Detlef Lichtrauter, über einen längeren Zeitraum, gingen mit ihnen auf eine Reise in ihre Vergangenheit und besuchten dabei auch ehemalige Verschickungsheime und Kurorte. Außerdem beobachtete das Filmteam das Jugendensemble des Deutschen Theaters vom ersten Tag an bei der Entwicklung des Theaterstücks „Am Meer wird es schön sein“ zum Thema Verschickung aus der Perspektive heutiger Jugendlicher. Die Jugendlichen wurden bei der Umsetzung des Stücks, das im Juli 2024 seine Premiere feierte, von betroffenen Zeitzeug*innen unterstützt.
Bei der intensiven Recherche für das Projekt habe ich mit vielen Betroffenen in ganz Deutschland gesprochen, sowohl BRD als auch DDR. Darunter meine Mutter. Auch diese Interviews werden in den Film einfließen.“
Welche Fragestellungen sind Dir bei dem Dreh besonders wichtig?
„Wir gehen mit dem Film insbesondere der Frage nach den individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Traumas Kinderverschickung nach und wählen dafür eine künstlerisch-essayistische Herangehensweise. Es ist der Versuch, die emotionale Tragweite von Angst und Bindungsabbruch zu erspüren und sie für ein heutiges Publikum greifbar zu machen. Dabei stellt sich auch die Frage, wo in unserer Gesellschaft bis heute Parallelen und institutionelle Strukturen existieren, die derartige Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen begünstigen können.“
Welche Rolle hat Detlef in dem Film?
„Als einer der Hauptprotagonisten des Films ist Detlef Lichtrauter gleichermaßen Experte, wenn auch kein unabhängiger, wie Betroffener. Durch seine aktivistische Arbeit und seine Rolle in der Initiative der Verschickungskinder kann er den Stand der Forschung wiedergeben, historische und strukturelle Zusammenhänge einordnen und nachgewiesene Fakten und Zahlen darstellen. Zugleich steht er für den Kampf der Verschickungskinder um Anerkennung und vor allem Aufarbeitung, auch im Sinne von psycho-sozialen Unterstützungsangeboten.
Seine eigene Betroffenheit spielt für seine Glaubwürdigkeit dabei eine zentrale Rolle. Wir erzählen Detlef als Menschen. Dabei stellt sich auch die Frage, ob und inwieweit man seiner Persönlichkeit die Spuren des Erlebten bis heute anmerken kann. Wie sich diese „Spuren“ unter Umständen bemerkbar machen, ist dabei von Betroffener zu Betroffenem sehr verschieden. Auch für diese Unterschiede steht Detlef – denn er ist kein Opfer, wie man es vielleicht erwarten würde. Er ist niemand, den das erlebte Leid täglich lähmt. Er hat, auf vielen Ebenen, die Kontrolle übernommen. Auf diese Weise zieht er aus seiner Geschichte eine enorme Kraft für die Sache – die ihn manchmal auch an seine eigenen persönlichen Grenzen bringt.“
Warum ist Dackel Elfie dabei?
„Seitdem ich Detlef kennengelernt habt, vor inzwischen vier Jahren, sind seine Dackel zentraler Bestandteil unserer Gespräche. Wir hatten zahlreiche Telefonate während der Hundespaziergänge („Moment kurz, die Dackel – HAAAALT, Elfie!“). So habe ich die beiden aus der Ferne auch sehr lieb gewonnen 😉 Und sein Rolle als Dackel-Papa erzählt viel über das, was Detlef neben seiner professionellen Rolle in der Initiative aus meiner Sicht auszeichnet: Über seine Herzlichkeit, seinen Humor, aber auch seine Bescheidenheit. Deshalb wollte ich Elfie gerne dabei haben.“