Bewegender Fund: Verschickungskind findet in Workshop die Kurbögen ihrer Geschwister

Carmen Behrendt

Am 6. November 2024 bot das Historische Archiv der Stadt Köln mit einem Workshop für ehemalige Verschickungskinder einen besonderen Einblick in seine Bestände. Im 2021 eröffneten Neubau finden sich nämlich auch Kinderkurakten. Eine Teilnehmerin wurde dabei von einem Zufallsfund überrascht.
 
Hanna Kannengießer (zweite von links) mit Teilnehmer:innen des CSP-Workshops (alle Fotos: Bastian Tebarth)

Die Leiterin des Workshops, die Kölner Archivarin Hanna Kannengießer, unterstützt schon seit Jahren tatkräftig die Recherchegruppe des Citizen-Science-Projekts CSP-KV-NRW. Ihr Engagement hat Vorbildcharakter und wurde entsprechend von den Teilnehmer:innen und dem CSP-Projektleiter Bastian Tebarth gewürdigt. Derzeit arbeitet Frau Kannengießer an der Veröffentlichung eines Recherche-Leitfadens. 

Der zweieinhalbstündige Workshop bot neben einer Führung durch das neue Archivgebäude am Eifelwall mit einem Blick in die Restaurierungswerkstätten auch die Chance, Unterlagen einzusehen.

Doch bevor die Teilnehmer:innen selbst an die Akten durften, lernten sie erst einmal die Abläufe eines Archivs kennen. So konnten sie Schritt für Schritt erfahren, wie Archivar:innen arbeiten und wie eine Recherche am besten vorbereitet wird. 

Dabei ist das Historische Archiv in Köln ein Sonderfall, da der Archiveinsturz aus dem Jahr 2009 noch immer nachwirkt: In Kleinstarbeit müssen die Unterlagen in professionell ausgestatteten Werkstätten restauriert werden. „Wie in einer Zahnarztpraxis“, staunte eine Teilnehmerin beim Anblick der filigranen Werkzeuge, die neben einem vom Einsturz völlig lädierten Leitzordner ausgestellt waren. Bisher konnten 17 Prozent der Unterlagen seit dem Archiveinsturz restauriert werden; final abgeschlossen sein werden die Arbeiten voraussichtlich erst in 30 Jahren. 

Ein nach dem Einsturz des Kölner Archivs 2009 geborgener Aktenordner. Im Hintergrund sind Restaurierungswerkzeuge zu sehen.
In den Werkstätten des Archivs werden nicht nur die "eingestürzten" Archivalien restauriert. Jedes einzelne Blatt muss gereinigt und entstaubt werden.

 

Die aufwendigen Restaurierungsarbeiten begründen auch die längeren Bearbeitungszeiten, erklärt Frau Kannengießer. Um den Bürgerforscher*innen trotz der schwierigen Ausgangslage zielführende Recherchen zu ermöglichen, biete sie auch Einzelberatungen an. Denn auch in Unterlagen wie den Verwaltungsberichten der Stadt Köln, die mittlerweile online abrufbar sind, finden sich nicht nur Informationen zu den Verschickungsheimen der Stadt Köln „Godeshöhe“ und „Adenau“. Es werden darüber hinaus immer wieder Vertragsheime der Stadt erwähnt, wie zum Beispiel das Kurheim in Mittelberg Oy und weitere Verschickungsheime außerhalb Nordrhein-Westfalens.

Nach diesem spannenden Rundgang erklärte Frau Kannengießer in einem Vortrag, wie Unterlagen überhaupt ins Archiv gelangen und wie sogenannte Archivbestände gebildet werden. Es ist gesetzlich geregelt, dass Ämter den Archiven ihre Unterlagen nach gewissen Aufbewahrungsfristen zur Archivierung anbieten müssen. Die Archive entscheiden dann nach festgelegten Kriterien im Rahmen einer sogenannten Bewertung, welche Unterlagen sie archivieren. Dabei wird in der Regel nach dem sogenannten Provenienzprinzip vorgegangen: Kommen die Unterlagen aus dem Jugendamt, landen sie im Archiv im Bestand „Jugendamt“ oder in einem gegebenenfalls neu gebildeten thematischen Unterbestand. Auch die Bildung dieser Bestände gehört zu den Aufgaben der Archivar*innen. Frau Kannengießer erklärt, ihr Fachschwerpunkt sei der Bereich der Jugendhilfe.

Und dann war es endlich so weit. Nachdem die Teilnehmer:innen die Theorie kennengelernt hatten, konnten sie bestens gerüstet einen Blick in die Unterlagen zu Verschickungsheimen werfen. Für die bessere Orientierung hatte Hanna Kannengießer Leitfragen mitgebracht, die anhand der Akten beantwortet werden konnten. 

Die Unterlagen kamen aus der Provenienz des Sozialamts der Stadt Köln, des Jugendamts, bei dem die Entsendestellen angesiedelt waren, und der Stadtkämmerei. Es waren auch jede Menge Kurbögen dabei, sodass es einen Zufallsfund gab: „Ich wusste gar nicht, dass meine Geschwister auch verschickt waren“, sagt eine Betroffene tief berührt.

Ein sehr bewegender Moment: Eine Teilnehmerin findet zufällig die Kurbögen ihrer ebenfalls verschickten Geschwister.
Die Suche nach persönlichen Kurbögen gleicht oft der nach der Nadel im Heuhaufen. Entsprechend groß war die Überraschung, im Workshop fündig zu werden.

Anhand der Akten können viele Fragestellungen beantwortet werden, die das System beleuchten, das hinter den Verschickungsheimen stand. Es war nicht nur eine Stelle beteiligt, sondern eine ganze Reihe städtischer, privater und konfessioneller Akteure. Die Kurbögen gaben insbesondere Aufschluss über die Eingangsbefunde der Amtsärzte und die Dokumentation des Kurerfolgs. 

Mit Verwunderung wurde festgestellt, für was alles eine Kur angeordnet worden war. Wurden Kinder für die Akten krank geschrieben, obwohl sie gar nicht krank waren? „Wir, meine Geschwister und ich, waren überhaupt nicht unterernährt“, erinnert sich eine Teilnehmerin. Welche Vorstellungen vom „gesunden Kind“ standen hinter den Diagnosen und was hatte es – in die Unterlagen des Sozialamts geblickt – mit dem Begriff des „Milieus“ auf den Kuranträgen auf sich? Hatten die vagen und beliebig austauschbaren Diagnosen möglicherweise auch etwas mit wirtschaftlichen Erwägungen zu tun? Damit, dass das Verschickungssystem sich rechnen musste?

„Welche Einnahmen und Ausgaben ein Verschickungsheim hatte und was steuerlich beachtet wurde, geht aus den Unterlagen des Städtekämmerers hervor“, schlägt ein Teilnehmer nach einem Blick in die Unterlagen weitere Rechercheschritte vor, um der Hypothese nachzugehen.

Tief bewegt von den vielen Eindrücken endete zwar der Workshop gegen 19:15 Uhr, aber nicht die Recherche. Die Teilnehmer:innen planen bereits einen erneuten Besuch im Historischen Archiv der Stadt Köln, um die Forschungen fortzusetzen.

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