von Engelbert Tacke
Es war ein ausdrücklicher Wunsch aus der Community. Über 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren bei dem Zoom-Vortrag mit Übungen der Ärztin, Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Dr. Katharina Drexler am 19. April 2023. Ihr Thema: Verschickt und traumatisiert – Was tun?
Zunächst erklärte die Medizinerin den Begriff Trauma: „Trauma ist nichts anderes als eine „Wunde“, die die Psyche aufgrund einer Traumatisierung, also einer Verletzung, erlitten haben kann. Dieses Trauma führt nicht zwangsläufig zu einer Folgestörung. Es kann aber zu einer Traumafolgestörung kommen. Unmittelbare Folgen in der ersten Phase können sein: emotionale Erschütterung, Schlafstörungen oder Alpträume.“ Neu war für viele der rund 40 Zuhörenden im Online-Meeting, dass nicht nur die selbst erlittenen Bedrohungen der körperlichen Unversehrtheit zu Traumatisierungen führen kann. Auch wenn Menschen Zeuge von belastenden Erlebnissen geworden sind, kann das zu einem Trauma werden. Vor allem, wenn es sich um geliebte Menschen handelt.
Tresor-Übung
Ihre theoretischen Ausführungen unterbrach Drexler mit einer Übung, die alle direkt mitmachen konnten: Eine Art Selbsthypnose, die immer wieder auftauchendes Belastendes gedanklich in einem Speicher ablegen und in einem Tresor verschließen lässt. Die Ärztin gab dazu einen wichtigen Rat: „Binden sie auch das Nichtwissen mit ein. Denn das Nichtwissen kann sehr quälend sein. Los ist man das Belastende damit zwar noch lange nicht“, erklärte die Ärztin, „aber es lässt sich so tatsächlich abgelegen und für eine spätere Bearbeitung aufbewahren, ohne dass es jeden Tag die Gedanken bestimmt.“ Eine Zuhörerin wollte wissen, wie man die Erinnerung wieder herausholt. „Der Tresor lässt sich bei Bedarf wieder öffnen. Man holt das Abgespeicherte einfach wieder in die Vorstellung zurück, um es dann zum Beispiel therapeutisch zu behandeln“, ergänzte Katharina Drexler. Die Tresortechnik ist besonders hilfreich, wenn man längere Zeit auf einen Therapie-Platz warten müsse. „Meist reicht es, die Übung ein Mal zu machen. Die Erinnerungen tun alles dafür, dass sie gesehen werden. Mit der Tresor-Übung gibt man die Rückmeldung nach innen: Ist verstanden und aufgezeichnet! Die Psyche kann sich wieder beruhigen,“ konkretisiert Drexler die Technik. Eine genaue Beschreibung der Tresor-Übung befindet sich in der Präsentation von Katharina Drexler am Ende des Artikels.
Die Audiodatei zu der Tresor-Übung und anderen Übungen können Sie sich auch hier kostenlos herunter laden: https://www.klett-cotta.de/buch/Fachratgeber/Ererbte_Wunden_erkennen/117359
Flashback ist eine Nachhall-Erinnerung. Dann fühlt es sich so an, als wäre es genau jetzt, was mir einst passiert ist
Dr. Katharina Drexler
Warum sind so viele Kinder mit dem Erlebten nicht fertig geworden?
Für viele der ehemaligen Verschickungskinder waren die folgenden Erkenntnisse über posttraumatische Belastungsstörungen besonders spannend. Denn die Chancen, mit belastenden Ereignissen fertig zu werden, sind bei Kindern eingeschränkt. Dazu Katharina Drexler: „Erlebte Trauma sind bei Kindern ganz besonders schlimm. Vor allem bei verschickten Kindern, die oft sogar mehrfach verschickt waren. Durch die autoritäre Führung in den Verschickungsheimen und den damit verbundenen strengen Verboten, fehlten den Kindern ein Ventil, um mit dem Erlebten fertig zu werden: Sie durften keine Briefe nach Hause schicken oder nur vorgegebene Texte an die Familie schreiben. Freundschaft und Zusammenhalt mit anderen Kindern wurde ihnen untersagt.“ Für viele ging es mit der Belastung nach der Verschickung zu Hause weiter. „Nach der Verschickung fehlten vielen der Rückhalt und Trost von der Familie,“ erzählte Drexler, die schon selber viele Verschickungskinder behandelt hat. Langfristige Nachwirkungen sind die Folge. Posttraumatische Belastungsstörung äußern sich häufig in einer Zersplitterung der erlebten Ereignisse, als „Flashback“. „Flashback ist eine Nachhall-Erinnerung. Dann fühlt es sich so an, als wäre es genau jetzt, was mir einst passiert ist,“ erläuterte die Psychiaterin. Diese Erinnerungsfetzen lassen keine Bewältigung zu. Die Betroffenen sind im Laufe ihres Lebens häufig über-aufmerksam oder fühlen umgekehrt eine innere Taubheit oder neigen in ihrem Leben zu einer außerordentlichen Kontrolliertheit. Betroffene versuchen, Trigger zu vermeiden. Trigger sind Dinge, die diese Erinnerungen auslösen können. „Manchmal reicht schon ein Geruch oder ein Geräusch“, weiß Drexler aus ihrer langjährigen Praxis-Erfahrung. Durch diese Vermeidung entstehen weitere eigenständige Probleme wie zum Beispiel Depressionen, Angststörungen oder psychosomatische Erkrankungen, die dann häufig mit Alkohol und Medikamenten „bekämpft“ werden.
Drexler benannte drei Dimensionen der Behandlung einer traumatischen Erfahrung:
- die Trauma-Konfrontation,
- die Trauer, und
- die Aktivierung von positiven Kräften.
Wichtig ist auch die Selbstorganisation, wie zum Beispiel in unserem Verein. Wer Loyalität und Solidarität mit anderen Betroffenen erfährt, wird so auch unterstützt, eine neue Sichtweise auf die belastenden Erinnerungen zu erlangen.
Das innere Kind erkennen und heilen
Die Ärztin hatte einen Ratschlag für die Betroffenen: „Was jeder und jede Betroffene für sich tun könne: Trost für sein „inneres Kind“ zu spenden. Das heißt, dass man sich dem Kind, das man mal war, zuwendet und Verständnis für dessen Not entwickelt. Wichtig ist auch, sich auch Trost für das auszusprechen, was nicht geschehen ist, wie z.B. Verständnis und Zuhören der Eltern nach der Verschickung. Als Übung könnte man sich dafür das innere Kind vorstellen, in einer rundum verlässlichen Umgebung mit verlässlichen Personen oder Fantasiegestalten.
Es könnte sein, dass man es dem Kind verübelt, dass es so etwas während der Verschickung erlebt hat. Dann bleibt nur noch Hass übrig. Eine Trauma-Aufarbeitung könnte dann folgende Erkenntnis bringen: Ich hätte mir so gewünscht, das Kind hätte sich gewehrt. Dann wird deutlich, das Kind konnte sich gar nicht wehren. Diese Art von Trauma-Aufarbeitung führt dazu, dass man sich dem Kind wieder liebevoll zuwenden kann.
Dr. Katharina Drexler
Die 1-2-3-Übung
Mit der 5-4-3-2-1-Übung können quälende Gedanken über Vergangenes oder Zukünftiges gestoppt werden. Es ist eine Selbsthypnosetechnik, die mit dem Hier und Jetzt verbinden soll: „Morgen ist manches schwierig, gestern war auch vieles schwierig, aber jetzt bin ich sicher.“ Diese Achtsamkeitsübung kann auch als Einschlafübung angewandt werden. Im parallel zum Vortrag laufenden Chat gab es auch zu dieser Übung sehr viel positive Rückmeldungen.
Traumatherapie mit EMDR
Zum Abschluss stellte Drechsler die Methode der Traumatherapie vor, die sich in der Praxis am besten bewährt hat: EMDR. Die traumatischen Ereignisse werden dabei unter verschiedenen Aspekten betrachtet, um anschließend die Selbstheilungskräfte des Gehirns zu aktivieren. Die Therapeutin erklärte: „Nachgewiesen ist, dass durch einfache Übungen verschiedene Gehirnareale aktiviert oder beruhigt würden und damit Verarbeitung möglich ist.“ Aus der Gruppe kam die Nachfrage, ob es Ausschlusskriterien für die Anwendung geben würde. Das hat Katharina Drexler verneint und verwies auf über 20 Jahre Erfahrung mit EMDR in ihrer Praxis. Weitere Informationen zu EMDR gibt es in den Unterlagen von Katharina Drexler und unter https://www.emdria.de/therapeuteninnen/
Wann ist der richtige Zeitpunkt, sich Hilfe zu suchen?
Dazu gab es folgende Frage aus der Gruppe:
Es stellt sich mir die Frage, in welcher Tiefe man sich mit den Themen der Kinderverschickung auseinandersetzen sollte, auch wenn nur bruchstückhafte Erinnerungen vorliegen. Macht es mein Leben leichter nach der Beschäftigung oder begebe ich mich in eine emotionale Last, wenn ich schwere Erfahrungen hervorhole?“
Allen Teilnehmenden gab Frau Drexler mit auf den Weg, den eigenen aktuellen Leidensdruck zum entscheidenden Kriterium zu machen, ob man sich mit den Qualen und Belastungen der Verschickung in einer Therapie stellen sollte. „Das Auftauchen von Erinnerungen lässt sich nicht erzwingen. Aber manchmal lohnt es sich, sich dorthin einzuladen: Vielleicht taucht die Erinnerung dann auf,“ gab Katharina Drexler allen mit auf den Weg.
Fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind bis zum Ende bei der Veranstaltung geblieben. Es gab viele positive Rückmeldungen.
Hier ist noch einmal der gesamte Vortrag von Dr. Katharina Drexler:
Lebenslauf Dr. Katharina Drexler
Dr. med. Katharina Drexler ist Fachärztin für Psychiatrie und Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und arbeitet niedergelassen in eigener Praxis. Sie ist stellvertretende Vorsitzende von EMDRIA Deutschland e.V. und EMDR Supervisorin.
Seit 2003 beschäftigt sie sich intensiv mit den Folgen transgenerationaler Traumatisierung und ihrer Behandlung. Sie hat zwei Bücher zu dem Thema „Ererbte Wunden“ veröffentlicht, die bei Klett-Cotta erschienen sind, und hält Vorträge und Seminare im In- und Ausland. An den Kammerspielen München wird derzeit das Stück „Hungry Ghosts“ aufgeführt, das die Themen Epigenetik und transgenerationale Traumatisierung aufgreift und unter ihrer Mitwirkung entstanden ist.
Sie lebt und arbeitet in Köln, begleitet von ihrer Therapiehündin Alyonka.
Veröffentlichungen:
Literaturempfehlung dazu von Dr. Drexler
Gabriele Kahn: Das Innere-Kinder-Retten
eine Methode der imaginativen Traumatherapie in Trauma & Gewalt 2. Jahrgang Heft 1/2008
Manfred Spitzer zu EMDR
Psychotherapie im Mausmodell
Was bei EMDR gegen PTBS im Gehirn passiert
Die Therapeut:innen-Suche dient nur zur lnformation von Patient:innen und Therapeut:innen, die Patient:innen bei der Suche nach einem/einer geeigneten Therapeut:in beraten.
Luise Reedemann
Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren (Leben Lernen 141)
Literaturtipps aus der Gruppe
Jay Earley „Meine innere Welt verstehen“
Meine innere Welt verstehen: Selbsttherapie mit Persönlichkeitsanteilen. Mit einem Vorwort von Richard C. Schwartz, Begründer der IFS-Therapie
Bessel van der Kolk „The Body Keeps the Score”
Mind, Brain and Body in the Transformation of Trauma