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Einst verschickt aus Bielefeld, Bocholt, Gelsenkirchen und Hamburg kamen wir im Mai 2024 nach fünf aufwändigen Vorbereitungstreffen, die in den Monaten zuvor online stattgefunden hatten, am Ort unserer „Hölle“ (so ein Betroffener) zusammen: Niendorf an der Ostsee, damals an der Zonengrenze. Dorthin schickte man uns, weil wir zu dünn, zu blass und gefühlt irgendwie nicht richtig waren.
Bei einempersönlichen Kennenlernen in einem Café am Ort wurden wir schnell warm miteinander, fühlten Nähe und Verbundenheit, was Zoom eher nicht ermöglicht.
Im Kurheim, das heute Maria Meeresstern heißt und ein Mutter-Kind-Kurheim ist, empfing uns die Hausleitung Sr. Gratiana Grote, mit Kaffee und kalten Getränken; den angebotenen Kuchen zu essen, hätte sich falsch angefühlt. Zu stark war so manche Erinnerung an Drangsal und Essenszwang …
Kurz vor der Einschulung, erfuhr im November 1962 schon bald nach der Ankunft drohende Ermahnungen und Einschüchterungsversuche. Sie musste mit ansehen, wie ein Junge sein Erbrochenes aufessen musste. Sie hatte ihre Lektion schnell gelernt: Gehorsam um jeden Preis, denn unangepasstes Verhalten wurde rigide bestraft. Mit viel Angst und starkem Heimweh-Schmerz lag sie nachts wach; nach der Rückkehr waren ihr die Eltern fremd.
Susanne
Sie hatte 1970 als Achtjährige „schreckliches Heimweh“ und große Angst vor Bestrafungen. „Ich habe heute noch das schrille Gebrüll nach Nr. 71 (einen Namen hatte ich dort nicht) der schwarzhaarigen „Tante“ im Ohr“, als man ihr unterstellte, ihr Bett kaputt gemacht zu haben. Auch Petra musste zusehen wie ein anderes Kind zum Essen, auch des bereits Erbrochenen, gezwungen wurde.
Petra
1974, mit sechs Jahren dort, konnte sich nach der Rückkehr nach Hause nicht einmal mehr über ein lang ersehntes Geschenk freuen, das Vertrauen zu den Eltern war weg. Zu lange hatte sie sich in der „Kur“ den „ungerechten Nonnen“ ausgeliefert gefühlt, wurde sogar zur Strafe für Flüstern im Schlafsaal in einem Schrank eingesperrt. Man sei insgesamt sehr wenig draußen gewesen, sie sei sehr blass und in körperlich schlechtem Zustand zurückgekehrt.
Susan
Er sollte 1966 zur „Bettnässerkur“ und erfuhr Isolation, wurde allein an einen kleinen Tisch im Speisesaal gesetzt und somit zum Außenseiter gestempelt, war vogelfrei und den Untaten der Gruppe bis hin zu sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Er wollte nicht mehr leben und dachte in der Kur daran, sich das Leben zu nehmen.
Rainer
Er war 1971 vier Jahre alt und erkannte nach der Rückkehr seine Mutter nicht mehr wieder. Ihm hatte man gedroht, wenn er nicht brav wäre, würde er die Eltern nie wiedersehen. Die sechs Wochen seien für ihn die Hölle gewesen. Er wurde zum Essen gezwungen. Von seinem älteren Bruder, der bis heute nicht über die Kur sprechen will, wurde er getrennt.
Andreas
Sie erinnert sich an Eiseskälte im Jan. 1966, täglich lange Wanderungen, extremes Heimweh, von Tränen verwischte Tinte in den Briefen, die die Mutter besorgt bei der Heimleitung anrufen ließ. Marianne wurde von der Nonne in die Zange genommen: eingeklemmt zwischen deren Beinen wurde ihr eingeschärft, dass sie keine tief-traurigen Briefe mehr nach Hause schicken dürfe. Sie(die Nonne) habe der Mutter gesagt, es sei alles in Ordnung.
Marianne
Auf dem linken Foto ist links das Haus ehemalige Antoniushaus zu sehen, in das die Gruppe bei ihrem Besuch nicht mehr herein durfte. Auf dem mittleren und rechten Fotos ist das ehemalige Haus Johann zu sehen. 1966 wurden beide Kurheime zusammengelegt und umbenannt in „Mutter-Kind-Klinik Maria Meeresstern.“
alle Fotos: Marianne Mayland
Unsere Erwartungen an den Besuch waren unterschiedlich – vom Ansehen des Kurheims von innen, der Räumlichkeiten bzw. auch von Fotos aus der Zeit vor Umbau, der Überprüfung von Erinnerungen bis hin zum Wunsch nach einer Gesprächspartnerin des Ordens über das Geschehene.
Im anschließenden Gespräch mit Sr. Gratiana vom Orden der Franziskanerinnen, die auch schon damals das Haus führten, sprachen wir die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit der Häuser, die bisher zu einer Dokumentation bis 1970 führte und eine bislang fehlende Aufarbeitung zu den 50-er bis 70-er Jahren an. Sr. Gratiana erklärte auf unsere Nachfrage, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema aus Sicht des Ordens nicht abgeschlossen sei.
Dies hatte in einem vorherigen Austausch auch die Generaloberin, Sr. Maria Cordis Reiker, bestätigt.
Ergebnisse nachzulesen unter:
„Wir warten noch auf weitere Zuschriften von Betroffenen“, hieß es von Sr. Gratiana. Wie lange dies dauern würde, wollten wir wissen und ob das nicht vielmehr eine Hinhaltetaktik anstelle transparenter Vorgehensweise sei angesichts einer tickenden biologischen Uhr für die Kur-Kinder aus den 50-er und 60-er-Jahren. Denn auch diese hätten es verdient, dass ihr Leid durch eine Dokumentation anerkannt wird. Hierzu sei eine transparente Vorgehensweise angezeigt.
Eine Betroffene wünschte sich ein pro-aktives Vorgehen des Ordens, evtl. auch in Form eines Diskurses in größerem Rahmen – Betroffene und Ordensvertreterinnen an einem Tisch und eine Veröffentlichung des Gespräches durch Medien. „Der Wille und die Bereitschaft, dies voranzutreiben sind vorhanden“; allerdings müsse man diesbezüglich die Rückkehr der Generaloberin abwarten, die jedoch bis zum späten Herbst verreist sei, sagte Sr. Gratiana.
Bei einer Besichtigung eines komplett umgebauten Teiles vom Haus St. Johann kamen nur vereinzelt Erinnerungen hoch, an den Fußballplatz vor dem Haus und das Ausgegrenzt-Sein von Sportaktivitäten, an die finsteren Kellerräume unter dem Schwimmbad, von manchen im Netz als „Folterkammer“ bezeichnet, wo man mit eiskaltem Wasser abgespritzt wurde.
Das Antoniushaus durfte aus „Datenschutzgründen“ enttäuschender Weise nicht betreten werden. Fotos und Postkartenbilder der Häuser wurden uns aus denselben Gründen nicht gezeigt.
Abschließend wünschte Sr. Gratiana allen Betroffenen ihren Frieden mit den Erfahrungen zu finden.
Fazit: „Es war alles kein böser Traum. Ich war tatsächlich hier zur Kur,“ stellte Susan am Ende fest. Vielleicht war es gut und innerlich aufräumend, die einst erlittenen Qualen in den Räumen des Kurheims und vor einer Vertreterin des Ordens auszusprechen.
Wir konnten miteinander lachen … und weinen
Susanne
Hilfreich, vielleicht sogar ein bisschen heilsam waren die Stunden, die wir als Gruppe miteinander verbrachten. Die respektvolle Nähe, die so rasch entstand, die Zusammengehörigkeit, einander herzlich zugewandt untereinander, das alles wirkte auf mich wie ein Gegenpol zu den in Niendorf einst erlittenen Qualen.
Damals schmerzhaft allein und mit Einsamkeitsgefühlen behaftet, durften wir jetzt ein Stück wohltuender Zugehörigkeit erleben.
Dafür bin ich dankbar.
Marianne Mayland, Bonn (Jan. – Febr. 1966 verschickt aus Bocholt)
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