Von: Bastian Tebarth
Münster, 3. Juli 2024 – Vom 2. bis zum 3. Juli tagte in Münster ein Fachkongress zur Verschickungsgeschichte NRWs. Angestoßen hatte die Tagung der Verein AKV-NRW e.V. mit seinem Bürgerforschungsprojekt CSP-KV-NRW.
Mit über 70 Teilnehmer:innen von Archiven, Forschungseinrichtungen und Universitäten aus ganz Deutschland, war die Tagung sehr gut besucht. In einem Grußwort bekannte sich Staatssekretär Matthias Heidmeier zur Verantwortung NRWs bei der Aufarbeitung. Heidmeier betonte die Notwendigkeit der Aufarbeitung von geschehenem Unrecht in einem freiheitlichen Rechtsstaat.
Die Initiator:innen und Veranstalter:innen erhofften sich durch den zweitägigen Kongress eine bessere Vernetzung von Wissenschaft und Bürgerforschung und Impulse für neue Forschungsvorhaben. Im Herbst sollen die Tagungsbeiträge in einem Sammelband veröffentlicht werden.
„Das tun Sie auch für uns“, sagte Staatssekretär Matthias Heidmeier an Detlef Lichtrauter gerichtet, der stellvertretend für NRW-Betroffene an der Tagung teilnahm: „Nur durch das Engagement der Verschickungskinder wissen wir heute von den Schatten der vermeintlichen Erfolgsgeschichte Kinderkuren“. In seinem Grußwort versicherte Heidmeier, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Gesundheit uns Soziales, dass die Aufarbeitung der Kinderverschickungen in NRW weiterhin durch Minister Karl-Josef Laumann unterstützt werde. Wie diese Unterstützung über das CSP-Projektende im Frühjahr 2026 hinaus aussehen soll, darüber sagte Heidmeier nichts.
Erster Impuls für die Tagung kam vom AKV-NRW e.V.
Den Grundstein für die Fachtagung legten im Februar 2023 erste Gespräche zwischen CSP-KV-NRW und Prof. Dr. Malte Thießen vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Als Zweck wurde die Koordination der NRW-weiten wissenschaftlichen Erforschung der Verschickungsgeschichte und die Anregung neuer Forschungsvorhaben vorgegeben. Die Initiative stieß sofort auf großes Interesse beim Leiter des LWL-Instituts für Regionalgeschichte, der die Organisation eines solchen Fachaustauschs begrüßte.
„Die Aufarbeitung der Kinderverschickungen ist so etwas wie ein Seismograf des Sozialen“, erklärte Prof. Dr. Malte Thießen (links; v.l.n.r.: Christian Fritsch, MAGS, Elisabeth Auchter-Mainz, Detlef Lichtrauter, Prof. Dr. Marcus Stumpf, LWL) auf der Tagung. Am Aufarbeitungsstand ließe sich ablesen, wie sensibilisiert die Gesellschaft sei, wie sie erinnerungskulturell mit Betroffenen-Gruppen umgehe. Thießen betonte, dass er selten einen Aufarbeitungsdiskurs „so konstruktiv wie hier“ erlebt habe: „Was wir hier erleben, ist weniger ein Nebeneinander von Perspektiven, sondern ein Ineinandergreifen von Wissenschaft und Bürgerforschung“.
Mit Dr. Jens Gründler, Historiker am LWL-Institut, der bereits zum Themenkomplex „Kinderverschickungen und Landschaftsverband Westfalen-Lippe“ forscht, konnte rasch der ideale Partner für die Konzeption der Fachtagung gewonnen werden.
Dank der finanziellen Unterstützung durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Münster konnte eine zweitägige Fachtagung ausgerichtet werden. Veranstaltet wurde die Tagung durch das LWL-Archivamt und dem LWL-Institut für Regionalgeschichte in Verbindung mit dem Landesarchiv NRW und dem LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum.
Angeregter Austausch und fruchtbare Vernetzung
Die Tagung brachte Expert:innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zusammen, um die bisherigen Forschungsergebnisse zu diskutieren und zukünftige Perspektiven aufzuzeigen. Unter anderem berichtete Dr. Jens Metzdorf vom Stadtarchiv Neuss von der erfolgreichen Befragung kommunaler Archive zur Quellenlage in der Sache Kinderverschickungen.
Dr. Jens Metzdorf stellte die Ergebnisse der Befragung der kommunalen Archive vor. Mit einem Rücklauf von 135 Archiven konnte Metzdorf von einem Erfolg sprechen. Nun müsse man den nächsten Schritt gehen und die Bestände zentral sichten und aufarbeiten.
Ein wichtiges Anliegen der Tagung war es, dass Archivar:innen mit Wissenschaftler:innen und Bürgerforscher:innen besser vernetzt werden. Dr. Diana Ascher und Dr. Astrid Küntzel gaben hierfür Einblicke in Quellen zur Kinderverschickung im Landesarchiv NRW, während Dr. Johannes Kistenich-Zerfaß von den Besonderheiten der Überlieferungsbildung aus Hessen berichtete. PD Dr. Felicitas Söhner betonte in ihrem Keynote-Vortrag die Bedeutung der Oral History für Aufarbeitungsprozesse. Ingrun Osterfinke und Dr. Kathrin Baas erläuterten die Herausforderungen der archivalischen Überlieferung in kirchlichen und wirtschaftlichen Kontexten.
Dr. Kathrin Baas von der Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund, erläuterte die Überlieferungsprobleme in der Privatwirtschaft. Viele Unternehmen unterhielten eigene Erholungsheime oder waren Träger bzw. Stifter von Heilstätten. Im Wirtschaftsarchiv in Dortmund finden sich vornehmlich Geschäftsberichte der Industrie- und Handelskammer, aber auch von Unternehmen und der Deutschen Rentenversicherung.
Forschungsergebnisse und neue Impulse
Am zweiten Tag stellten unter anderem Jonathan Krautter von der Humboldt-Universität Berlin und Prof. Dr. Heiner Fangerau von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ihre aktuellen Forschungsprojekte vor.
Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl gab einen Überblick über den Forschungsstand und stellte Ideen vor, wie die Forschung weitergeführt werden könnte:
So schlug er beispielsweise systematische Vergleiche zwischen unterschiedlichen Trägerschaften und Heimtypen sowie einen deutsch-deutschen Vergleich vor. Außerdem stellte Schmuhl auch die Untersuchung der historischen Wurzeln des Kinderkurwesens als lohnenswert heraus: Der Einfluss von pädagogischen und medizinischen Impulsen sowie deren Verflechtung mit völkischen und nationalsozialistischen Ideen bedarf entsprechend weiterer Untersuchung. Außerdem machte er deutlich, dass ein disziplinenübergreifender Ansatz notwendig ist, um die Auswirkungen auf die gesellschaftliche Ordnung zu verstehen. Unter anderem bezog sich Schmuhl dabei auf die traumatische Scham, die viele Verschickungskinder erlebt hätten, und deren langfristige Auswirkungen auf die Biographien der Betroffenen. Überhaupt sei der Umgang mit dem Erlebtem, die Art und Weise, wie Betroffene ihre Erfahrungen in ihre Biographien einordnen, ein weiteres zentrales Thema. Hierzu berge der lebendige Austausch zwischen Fachwissenschaft und Bürgerforschung (Citizen Science) großes Potenzial.
Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl (rechts; links: Dr. Jens Gründler) warf in seinem Vortrag zum Forschungsstand auch einen Blick auf mögliche Fragestellungen, die Gegenstand zukünftiger Forschung sein könnten.
Wissenschaft ist willens, Finanzierung bleibt ungewiss
Im Zentrum standen die Betroffenen und ihre Erlebnisse in der Kinderverschickungen. Stellvertretend für diese war Detlef Lichtrauter eingeladen. Der Vorstandsvorsitzende vom AKV-NRW e.V. machte vor allem eins deutlich: „Die Betroffenen sind Geschädigte. Und als Geschädigte fordern sie weiter eine umfassende Aufklärung der Kinderverschickungsgeschichte“.
Detlef Lichtrauter machte in der rege geführten Abschlussdiskussion klar, dass die Verschickungskinder eine umfassende und unabhängige Aufarbeitung fordern. Dafür brauche es Geld.
Die Fachtagung macht Hoffnung, dass die Aufarbeitung weiter voran getrieben werden kann. Offen blieb aber, wie es zu der Finanzierung weiterer Forschung, insbesondere der Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs, kommen kann.
Detlef Lichtrauter fasste sein Fazit auf der Tagung so zusammen: „Nur die Einrichtung eines langfristig angelegten Sonderforschungsbereich, der an einer oder mehrere Universitäten angegliedert ist, kann der komplexen Kinderverschickungspraxis gerecht werden. Hierzu muss endlich über mögliche Finanzierungen gesprochen werden. Das kann zum Beispiel ein Fonds sein, in den alle maßgeblich beteiligten Akteure einzahlen“. Hierfür erhielt Lichtrauter viel Zuspruch aus dem Fachpublikum.
„Ziele und Fragestellungen der Aufarbeitung aus Betroffenensicht“
CSP-KV-NRW-Vortrag gehalten von Detlef Lichtrauter am 2. Juli 2024 auf der Fachtagung: Wissenschaftliche Aufarbeitung von Kinderverschickung in NRW – eine Zwischenbilanz, 2. und 3. Juli 2024 Münster
Einleitung
Als ehemaliges Verschickungskind ist es hier heute meine Aufgabe, Ziele und Fragestellungen der Aufarbeitung aus Betroffenensicht zu formulieren.
Aus diesem Grund möchte ich zu Beginn meines Vortrags einer Betroffenen das Wort geben. Ich zitiere aus einem Ende Mai 2024 bei uns eingegangenen Bericht. Die Betroffene war 1969 als 16 jährige zur Tuberkulose-Behandlung in die Kinderheilanstalt Aprath bei Wuppertal verschickt. Sie erlebte dort Gewalt, Zwang und Ohnmacht, nach 10 Monaten wurde sie als „geheilt“ entlassen.
Ich möchte den Schluss ihres Berichts im Wortlaut wiedergeben:
»Der Start in mein „neues Leben“ mit 17 begann mit unendlicher Trauer, Schuldgefühlen, dem Gefühl von Ungerechtigkeit in der Welt, mit dem Gefühl von „Fremdbestimmung“ (auch wenn ich es damals nicht so nannte), die Natur-gegeben ist.
Jede Menge neuer negativer Glaubenssätze, ich muss folgsam sein gegenüber: Ärzten, Vorgesetzten, eigentlich muss ich immer Rücksicht nehmen, auf alles und jedes. Ich bin ein Nichts. (…)
Als meine Mutter im Alter von 58 Jahren verstarb, begann ich, mir mein Leben anzuschauen. Ich begab mich in unterschiedliche Therapien. In den Anfang 80er Jahre war jedoch die Psychotherapie noch lange nicht so weit, als dass sie hätten helfen können. Das was möglich war, nahm ich an. Darüber hinaus habe ich im laufe der nächsten 20 Jahre ca. 20.000,– € eigenständig für Therapie bezahlt.
Heute weiß ich viel über alte Traumata, viel von damals ist geblieben. Es hat zu einem Leben geführt, was ich nie haben wollte. Autoritäten konnte ich nicht leiden. Meine durchschnittliche Zeit in einem Unternehmen lag bei ca. 2-3 Jahren bei 30 angestellten Berufsjahren. Danach ging ich in die Selbstständigkeit. Gut verdient habe ich kaum. Die Glaubenssätze waren einfach zu stark.
Natürlich gab es auch andere Ereignisse, die mich zusätzlich prägten. Aber 10 Monate in Aprath waren die furchtbarsten in meinem Leben.
Einmal war ich zu einer kassenfinanzierten Rehamaßnahme. Im abschließenden Therapiebericht stand so sinngemäß: Frau X ist nicht aufnahmefähig. Sie spricht über sich in der 3. Person ohne Gefühle.
Heute in 2024 brauche ich immer mal wieder therapeutische Hilfe um im Leben zurecht zu kommen. Selbstverständlich gegen Geld. Als Rentnerin ist da aber nicht soviel.
Fazit: Die Erinnerung bleibt – der Kopf hat keinen Knopf zum ausschalten.«
Ich habe diesen Bericht nicht ausgewählt, weil er besonders dramatisch wäre. Vielmehr geben die Schilderungen der Betroffenen die durchschnittlichen Erfahrungen von Verschickungskindern wieder: Zwang zu essen, medizinische Anwendungen teilweise unter Einsatz von Gewalt, rigide und immergleiche Abläufe, ein repressives, menschenverachtendes Regime, das das Funktionieren des Systems über alles stellt.
Übersicht zum heutigen Vortrag
Mein Vortrag ist grob in zwei Teile unterteilt:
- Die Betroffenensicht
- Fokus auf zwei Tätergruppen
Der erste Teil, der die Betroffenensicht fokussiert, behandelt das Recht auf Aufarbeitung von Leid und Unrecht und die Gewalt aus der Sicht und der Erfahrungswelt der Betroffenen.
1. Teil: Die Betroffenensicht
Die prägende Kraft der Verschickungserfahrung
Was an dem eingangs zitierten Bericht deutlich wird, ist die prägende Kraft einer Verschickungserfahrung. Die Betroffene schildert eindrücklich die Folgen auf ihren Lebenslauf: Im Kern geht es um einen Verlust von Vertrauen, der sowohl auf private als auch auf berufliche Beziehungen negative Auswirkungen hatte.
Nicht nur eine mehrmonatige, sondern auch eine mehrwöchige Verschickungserfahrung konnte das Leben eines Kindes oder Jugendlichen maßgeblich prägen und damit auch das des späteren Erwachsenen beeinflussen. Für nicht wenige Betroffene hatten diese Erlebnisse eine traumatisierende Qualität mit schwerwiegenden Folgen.
Recht auf Aufarbeitung von Leid und Unrecht
Da letztlich der Staat für die Kinderverschickungen verantwortlich war, muss dieser nun endlich angemessen reagieren. Staatsrechtler wie Stephan Rixen betonen, dass Grundrechte eine Schutzpflicht des Staates für die Folgen des erlittenen Unrechts im Lebenslauf beinhalten. Auch wenn der Staat die Verhinderung von Unrecht versäumt, bleibt er verantwortlich.
Rixen betont, dass es nicht nur um moralische Anerkennung, sondern um eine erlebbare Achtung geht, die den Selbstwert der Betroffenen stärkt. Er fordert einen Rechtsrahmen für die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Dieser Rahmen soll verbindliche Hilfsangebote wie Rechtsberatung und psychologische Begleitung einschließen und den Betroffenen das Recht auf Aufarbeitung zusichern.
Der Verein AKV-NRW e.V. schließt sich dieser Forderung an und fordert darüberhinaus eine systematische Aufarbeitung nicht nur von Unrecht, sondern auch von anderen Gewalterfahrungen und Verletzungen der Würde und Rechte von Verschickungskindern.
Definition von Leid und Unrecht
Um das in der Kinderverschickung erlittene Leid und Unrecht zu verstehen, stützen wir uns auf die Definition der Stiftung Anerkennung und Hilfe und modifizieren sie im Hinblick auf die spezifische Erfahrungswelt der Kinderverschickung.
Die körperliche, psychische, sexualisierte und medizinische Gewalt und die unzureichende Versorgung haben oft lebenslange Nachwirkungen, darunter körperliche und psychische Beeinträchtigungen wie Folgeerkrankungen, Traumatisierungen, Depressionen und Schlafstörungen bis hin zu Suizidversuchen.
Es ist unseres Erachtens aber wichtig, die Gewaltformen vom Betroffenen her zu denken. Hierzu gibt es bereits erste Ansätze, einen davon möchte ich hier kurz vorstellen.
Gewaltformen unter besonderer Berücksichtigung der Betroffenensicht
Um die in der Kinderverschickung erlebte Gewalt aus Betroffenensicht darzustellen, greife ich eine Typologie auf, die Hans-Walter Schmuhl in seiner Studie zur Verschickungsgeschichte der DAK vorgeschlagen hat. Diese Typologie basiert auf Erving Goffmans Konzept der „Territorien des Selbst“. Sie umfasst acht spezifische Bereiche, die als Elemente eines umfassenden Gewaltverhältnisses betrachtet werden können.
Die Typologie soll verdeutlichen, wie vielfältig und komplex die Formen von Gewalt sein können, denen die Verschickungskinder ausgesetzt waren.
Lassen Sie uns nun jedes dieser Territorien anhand von Beispielen aus den Berichten der Betroffenen näher betrachten.
1. Die körperliche Hülle:
Ein eindrucksvolles Beispiel liefert der Bericht der 16-jährigen Betroffenen. Sie schildert, wie sie jeden Morgen eine Spritze und eine Infusion erhielt, die etwa zweieinhalb Stunden dauerte. Nach einem Monat waren ihre Arme durch die vielen Einstiche stark angeschwollen: »Die Haut war teilweise offenporig. Die Schmerzen (waren) kaum erträglich.« Das medizinische Personal hatte vielleicht wenig Handlungsspielraum, aber das subjektive Erleben der Verletzung der körperlichen Hülle war verheerend.
Ein „Klassiker“ der Verletzung der körperlichen Hülle ist die Züchtigung. Viele Verschickungskinder berichten von Schlägen zur Bestrafung, auch mit Gegenständen. Und es gibt viele Berichte von sexuellen Übergriffen, vom eiskalten Abspritzen der Genitalien bis hin zu penetrierenden Vergewaltigungen.
2. Körperhaltung und Bewegung:
Wieder ein Zitat derselben Betroffenen:
„Die Liege hatte seitlich Schlaufen. Dort kam ein Gurt zum Einsatz. Die Schwester band mich an beiden Händen fest. Ich wehrte mich, wo ich konnte.“
Dies geschah im Zusammenhang mit täglichen behandlungsbedingten Magensaftentnahmen.
Andere Berichte erzählen von standardmäßiger Fixierung. Kinder wurden festgezurrt, um Bewegung während mehrstündiger Ruhe-Prozeduren zu verhindern. Auch Strafen wie stundenlanges „In der Ecke-Stehen“ oder Einsperren in Wäschekisten fallen darunter.
3. Der persönliche Raum:
Die meisten Verschickungskinder berichten von einem nahezu vollständigen Fehlen eines Rückzugsortes und jeder Privatsphäre.
4. Dinge für sich:
Viele Berichte schildern, dass persönliche Gegenstände wie Spielsachen, Kleidung und Süßigkeiten abgegeben werden mussten. Die Bedeutung dieser Objektbeziehungen, besonders im frühkindlichen Alter, liegt auf der Hand, insbesondere in einem sechswöchigen oder gar längeren Aufenthalt.
5. Die soziale Position:
In den meisten Erholungsheimen und Heilstätten wurde eine Vereinzelung systematisch gefördert: die Interaktion unter den Kindern wurde stark reguliert, Solidarität unterbunden und die Unterordnung unter das Heimpersonal rigoros durchgesetzt. Häufig wurde soziale Degradierung zur Disziplinierung und Unterwerfung angewandt.
6. Das Kommunikationsreservat:
Unsere eingangs zitierte Betroffene konnte mit ihrer Oma telefonieren, offensichtlich ohne Kontrolle durch das Pflegepersonal. Den meisten Verschickungskindern war das nicht möglich. Telefonate wurden streng überwacht, das obligatorische Postkartenschreiben zensiert. Innerhalb des Heims bestimmte das Pflegepersonal, wer wann wie kommunizieren durfte. Meist herrschte während Liegekuren, Mittagsruhen und Schlafenszeiten ein absolutes Redeverbot. Verstöße wurden oft mit Schlägen, Flurstehen oder Einsperren bestraft.
7. Die informationelle Selbstbestimmung:
Ein Beispiel sind Kinder, die durch nächtliches Toilettenverbot ins Bett machten: sie wurden als „Bettnässer“ gedemütigt. In konfessionellen Heimen wurden Kinder alleinerziehender Mütter als „vaterlose Bastarde“ stigmatisiert.
8. Das Arkanum der Affekte:
Hier geht es um die Folgen asymmetrischer sozialer und emotionaler Beziehungen und die Verletzung der emotionalen Autonomie. Letztere kann zu einem Gefühl der Selbstentwertung führen. Unsere Betroffene sagte: „Ich bin ein Nichts“. Viele Verschickungskinder berichteten von teils lebenslangen Suizidgedanken, Vernichtungsfantasien und Ohnmachtsgefühlen.
Diese mannigfachen Verletzungen werden erst durch ein Konzept wie das der acht Territorien des Selbst nachvollziehbar. Neben offensichtlicher physischer und sexueller Gewalt werden so auch subtilere Gewaltformen und deren Bedeutung für Verschickungskinder sichtbar.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen verdeutlichen, wie wichtig es ist, die gewaltförmige Verschickungserfahrung in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen.
2. Teil: Fokus auf zwei Tätergruppen
Mit dem zweiten Vortragsteil komme ich mit dem Fokus auf zwei Tätergruppen nun zu Fragen, die aus der Perspektive der Betroffenen von Kinderverschickungen besonders dringlich sind: Warum habe ich Leid und Unrecht erfahren? Und wer übernimmt heute die Verantwortung? Hierfür werde ich mich auf zwei wesentliche Tätergruppen konzentrieren: die Pflegerinnen und die Ärzte.
Die Pflegerinnen
Obwohl es prügelnde Ärzte gab, ging die körperliche Gewalt hauptsächlich vom Betreuungs- und Pflegepersonal aus, das in der Regel weiblich war. In den Kinderverschickungen waren es also vorwiegend Täterinnen, die physische Gewalt ausübten.
Fokus auf konfessionelle Pflegerinnen
Ich möchte hier insbesondere die konfessionellen Pflegerinnen hervorheben, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens: Dominanz der Kirchen in der Wohlfahrt
1. Es waren vor allem geistliche Schwestern, Nonnen und Diakonissen, die sowohl in konfessionellen als auch in kommunalen Heimen arbeiteten. Denn die konfessionellen und kirchlichen Wohlfahrtsverbände dominierten auch in der Kinderverschickung. Diese Pflegerinnen teilten mit ihren säkularen Kolleginnen die schlechten strukturellen Rahmenbedingungen: chronische finanzielle und personelle Unterversorgung der Einrichtungen. Dies weist auf eine mangelhafte Wahrnehmung der Verantwortung durch die öffentlichen und privaten Träger hin. Die Träger und ihre Nachfolge-Organisationen müssen heute dieser Verantwortung endlich gerecht werden.
Zweitens: Weltanschauliche Grundierung der Pflegearbeit
2. Der zweite Grund, sich mit der konfessionellen Pflege zu beschäftigen, liegt in der spezifischen religiös-konservativen Legitimierung von Gewaltformen. Zeitzeugenberichte und Erfahrungen aus anderen Aufarbeitungskontexten zeigen eindeutig in diese Richtung.
Zitat
Historiker Dr. Wilfried Rudloff
»Die Erziehungsleitbilder der 1950er-Jahre in konfessionellen Kontexten waren stark geprägt von Ordnung, Zucht, Gehorsam und Autorität. Diese Tugenden dienten als übergeordnete Lebensideale und passten gut zu den Funktionsbedingungen des Anstaltsregimes.«
Kontinuität und Beharrungskräfte
Bemerkenswert ist, dass sich das Anstaltsregime, insbesondere in konfessionellen Einrichtungen, bis in die 1980er/90er Jahre kaum verändert hat. Die Annahme, dass das religiös-konservative Gewaltregime nur auf die 1950/60er Jahre beschränkt war, wird durch zahlreiche Zeitzeugenberichte widerlegt. Auch im Hinblick auf die bis in die Gegenwart fortgesetzte Missbrauchsgeschichte in kirchlichen Einrichtungen stellt sich die Frage nach einer Kontinuität weltanschaulicher Legitimierung spezifisch religiös-konservativ gefärbter Gewalt.
Verantwortungsübernahme
Für die Betroffenen drängt sich die Frage nach der Verantwortung für das Unrecht und Leid auf, das sie durch geistliche Schwestern, Nonnen und Diakonissen erfahren mussten. Zu oft haben sie von den Kirchen gehört: „Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass zu XY in unserem Archiv keine Akten zu finden sind.“ Auch Hinweise auf komplizierte interne Verantwortungsgefüge zwischen Vatikan und Orden oder zwischen diakonischen Einrichtungen und der evangelischen Kirche hindern die Betroffenen nicht daran, ihre Forderungen zu stellen:
Forderungen der Betroffenen
Die Betroffenen möchten Erklärungen für ihre Erfahrungen durch unabhängige Forschung und eine Verantwortungsübernahme durch die katholische und evangelische Kirche in Form von adäquaten Hilfeleistungen.
Die Ärzte: Tätergruppen und Netzwerke
Nun möchte ich unsere zweite wesentliche Tätergruppe in den Fokus nehmen: die Ärzte, Pharmakologen und Gesundheitspolitiker. Im Folgenden geht es vor allem um diese Akteure und um Medikamententests an Kindern.
Denn: In der Nachkriegszeit wurden Kinder in vielen Einrichtungen als Versuchskaninchen für Arzneimitteltests missbraucht. Ich steige gleich mit einem Zitat ein.
Zitat
Prof. Dr. Volker Roelcke, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Gießen:
»Die historische Forschung zeigt sehr eindeutig, dass die Initiative zu praktisch allen verbrecherischen Taten, unethischem Handeln in der Medizin zwischen 1933 und 1945 von den Ärzten ausgegangen ist. Nicht von politischer Seite. Und auch praktisch nie ein Druck vorlag und ein Zwang, dem man auf keinen Fall entkommen konnte. Die Forschung zeigt auch, dass die beteiligten Ärzte nicht isolierte, perverse Außenseiter waren, sondern dass die fast immer eingebettet waren in einen breiten Arbeitskontext, auf hoch-innovative Forschung auch internationale Resonanz hatten.«
Die hoch-innovative Forschung in der Pharmaindustrie unterlag in der Nachkriegszeit anderen ethischen Regelungen als in der NS-Zeit.
Zitat
Dr. Anne Crumbach:
»Die klinische Erprobung war ein elementarer Bestandteil der Arzneimittelprüfung und unterlag nach Ende des Zweiten Weltkrieges strengen ethischen Grundregeln. So regelte der Nürnberger Kodex aus dem Jahre 1947 die ethischen Vorgaben für die Testung am Menschen. Die klinischen Erprobungen konzentrierten sich nicht auf einen bestimmten Fachbereich, sondern wurden dort eingesetzt, wo die Hersteller Kliniker kannten und für die klinische Testung gewinnen konnten.«
Entsprechend müssen wir die Rolle der Ärzte und Pharmakologen und ihrer Netzwerke untersuchen. Die in Tests geprüften Medikamente, Präparate und Wirkstoffe umfassten beispielsweise Antibiotika, Hustentherapeutika, Asthma-Präparate, Tabletten gegen Masern, Mittel gegen Wurmmaden-Befall und blutstillende Medikamente. In vielen Fällen hatten die getesteten Präparate keinen therapeutischen Nutzen für die Behandlung der Kinder. Bislang wurden zudem keine Hinweise darauf gefunden, dass Eltern aufgeklärt wurden bzw. eine Einwilligung gegeben hätten. In Baden-Württemberg war es beispielsweise das DRK-Kindersolbad in Bad Dürrheim, in Hessen die Landeskinderheilstätte Mammolshöhe und in Nordrhein-Westfalen die Kinderheilstätte Aprath, wo eine intensive Arzneimittelforschung in Zusammenarbeit mit Pharma-Unternehmen nachgewiesen werden konnte.
Netzwerke und Kontinuitäten
Je mehr wir uns mit der klinischen Arzneimittelforschung in Kindereinrichtungen der Nachkriegszeit beschäftigen, desto klarer wird, dass die genannten Heime nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Erste Erkenntnisse und Recherchen legen nahe, dass es viel mehr Orte gab, an denen solche Testungen durchgeführt wurden: Neben Kinderheimen, Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen waren das (Kinder-)Heilstätten, -erholungsheime und -krankenhäuser.
Es waren Netzwerke von Ärzten, Pharmakologen und Behördenakteuren, die diese Tests durchführten bzw. ermöglichten. Ihre persönlichen Verbindungen stammten oft aus der NS-Zeit und waren geprägt von gemeinsamen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Interessen sowie einer gemeinsamen Weltanschauung, die den Wert des Individuums, insbesondere des Kindes, gering schätzte.
Ethisch entgrenzte Forschung: Beispiele und Biografien
Nicht alle rücksichtslos forschenden Ärzte waren ehemalige Nazis, aber viele von ihnen hatten während der NS-Zeit Karriere gemacht und profitierten von einem System, das ihnen nahezu uneingeschränkte Forschungsmöglichkeiten bot.
Zitat
Prof. Dr. Thomas Beddies, stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité Berlin:
»Auch viele Mediziner, die keine in der Wolle gefärbte Nazis waren, schätzten die Rahmenbedingungen, die ihnen die neuen Machthaber boten – vor allem, dass sie nun ohne ethische Einschränkungen forschen konnten.«
Ein prominentes Beispiel ist Gerhard Domagk. Domagk dürfte den meisten hier ein Begriff sein, denn er ist eine Figur, auf die sich neben der Bayer AG auch die Universität Münster prominent bezieht. Lange Zeit konnte vor allem die Geschichte der dreieinhalbtägigen Gestapohaft in Zusammenhang mit seiner Nobelpreisverleihung ihn vom Verdacht einer Nähe zum NS-Regime freisprechen. In den letzten Jahren hat das Image des hiesigen Instituts-Namensgebers indes Risse bekommen. Dass der Pharmakologe dem NS-Regime sehr viel näher stand als behauptet, lässt sich mittlerweile kaum bezweifeln. Eine Mitwisserschaft bei verbrecherischen Menschenversuchen konnte ihm bislang zwar nicht nachgewiesen werden, aber seine Stellung und sein Austausch mit höchsten NS-Funktionären und KZ-Ärzten legen diese mehr als nahe.
Zitat
Dr. Detlev Stummeyer:
»Er (Domagk) gibt sich als ein überzeugter Deutsch-Nationaler zu erkennen, der lange Hitlers Erfolge feiert. Er ist kein Nationalsozialist, aber ein Beispiel dafür, wie es die Machthaber im „Dritten Reich“ verstanden haben, mit Hilfe von Gratifikationen auch dem NS-System ursprünglich nicht nahestehende Personen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, solange es genügend ideologische Übereinstimmungen gibt. Im Falle von Domagk verschränkt sich diese Zusammenarbeit mit der engen Verstrickung seines Arbeitgebers, der IG FARBEN, mit dem Hitler-Regime.«
Domagks für Bayer entwickelte Präparate wurden nicht nur in KZs, sondern nach dem Krieg unter fragwürdigen Bedingungen auch in Kinderheilstätten getestet. Etwa auf der Mammolshöhe in Hessen oder in Aprath bei Wuppertal.
Werner Catel, der ab 1947 die Landeskinderheilstätte Mammolshöhe leitete und dort tödliche Testungen mit dem von Domagk entwickelten Bayer-Präparat Conteben verantwortete, hatte bekanntlich einen klaren Nazi-Hintergrund.
Zitat
Prof. Dr. Hans Walter Schmuhl/Dr. Karsten Wilke:
»In der Geschichte der Landeskinderheilstätte Mammolshöhe bildeten die Jahre von 1947 bis 1954 eine scharfe Zäsur. Es kam zu einem vollständigen personellen Revirement, neue Therapieformen wurden eingeführt, ein klinischer Betrieb aufgezogen, verbunden mit intensiver Forschung. Im Kontext der Biographie Werner Catels steht diese Entwicklung hingegen in einer langen Kontinuitätslinie, die sich bis in die 1920er Jahre zurückverfolgen lässt.«
Das Vater-Sohn-Gespann Georg und Kurt Simon, das die Kinderheilstätte Aprath fast 80 Jahre lang leitete, war politisch unauffälliger als der T4-Arzt Catel. Der Senior arbeitete aber zeitweise eng mit NS-Ärzten zusammen; vom Junior, der ab 1953 bis 1988 Klinikleiter war, wissen wir zumindest, dass er große Stücke auf Franz Josef Strauß hielt (der war nach eigenem Bekunden bekanntlich auch ein „Deutsch-Nationaler“).
Zitat
Prof. Dr. Heiner Fangerau/Dr. Silke Fehlemann/Dr. Sylvia Wagner:
»Insgesamt ist auffällig, in welchem Umfang an der Kinderheilstätte Aprath Arzneimittel verschiedenster Art getestet wurden und die Berichte der Zeitzeug:innen weisen darauf hin, dass die Testungen mit einer nachlässigen Behandlung von Patiententeilhabe und einer lieblosen zum Teil übergriffigen und gewalttätigen Versorgung der Kinder bei ihrem monatelangen Aufenthalt in Aprath verbunden waren. Diese Begleitfaktoren lassen die TBC-Arzneimittelentwicklung in dieser Form mit Blick auf das Wohl der Kinder und ihrer Würde als äußerst fragwürdig erscheinen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass viele Kinder einfach nicht wussten, was mit ihnen geschah und dass sie bis heute unter nachhaltigen Folgen ihres Aufenthaltes in Aprath leiden.«
Die Wissenschaft, die diese Ärzte und Pharmakologen betrieben, war oft ethisch entgrenzt. Sie rechtfertigten ihre Forschungen mit dem Verweis auf das „höhere Ziel“ der Allgemeinheit dienenden Forschung. Im Hintergrund spielte ihr eigenes Profitstreben und das ihrer Arbeitgeber eine weitaus größere Rolle.
Netzwerke, wie das von Domagk oder von Grünenthal-Chef-Pharmakologe Heinrich Mückter, der eine ganze Reihe von Nazi-Medizinern im Stolberger Unternehmen um sich scharte, gilt es zu untersuchen.
Zitat
des Berliner Medizinhistorikers Prof. Dr. Christoph Kopke:
»Die Ballung von ehemaligen Nazis bei Grünenthal scheint mir wirklich auffällig. Vielleicht hat das Unternehmen damals bewusst auf dieses Netzwerk von Medizinern zurückgegriffen.«
In der Regie dieser Männer wurden mutmaßlich dutzende ethisch und rechtlich fragwürdige Arzneimittelprüfungen an Kindern durchgeführt – mithilfe von Ärzten, die sie aus der NS-Zeit kannten, bzw. von denen sie wussten, dass sie ähnliche Vorstellungen von ethischen Standards haben wie sie selbst.
Diese und andere Beispiele zeigen, dass viele Karrieren von Pharmakologen und Ärzten aber auch von Gesundheitspolitikern nach 1950 in der NS-Zeit wurzeln.
Zitat
der Kölner Historikerin Prof. Dr. Ulrike Lindner:
»Die meisten Karrieren der bundesdeutschen Gesundheitspolitiker sind im wesentlichen durch Kontinuität während der Jahre des Nationalsozialismus gekennzeichnet.«
Träger der Heilstätte Mammolshöhe war der Landeswohlfahrtsverband Hessen, bei der Heilstätte Aprath, die u.a. von der Bayer AG (bzw seinem Vorgänger Elberfelder Farbenfabriken) gestiftet worden war, gehörten zu den Trägern neben Unternehmen die Kommunen und Städte der Umgebung und die Landesdirektion NRWs.
Diese Netzwerke von Akteuren mit ihren sich überschneidenden Interessen und ihren geteilten Weltanschauungen müssen untersucht werden.
Zitat
Dr. Sylvia Wagner:
»Auch bei der Prüfung von Arzneimitteln in Kinderheilstätten konnten die Institutionen profitieren, sicherlich auch die pharmazeutischen Unternehmen und, im Gegensatz zu den Heimkindern, auch die Betroffenen. Dieser mögliche Nutzen für die Betroffenen ist jedoch nicht unbedingt einer höheren Wertschätzung des Verschickungskindes als individueller Person geschuldet, wie man aus den eingegangenen unkalkulierbaren Risiken, den eingetretenen Schäden und Todesfällen in dieser Gruppe ablesen kann, sondern kann auch nur als ein positiver „Zusatzeffekt“ für die tatsächlich erkrankten Verschickungskinder in den Heilstätten interpretiert werden.«
Auswirkungen und Verantwortung
Der Schaden, den diese Ärzte und ihre Helfer angerichtet haben, zeigt sich bereits heute im Gesundheitssystem. Er wird in den nächsten Jahren sogar noch sichtbarer werden, wenn die größte Gruppe der in den 1950ern und 1960ern geborenen Verschickungskinder ins Rentenalter kommt. Die Geschichte der Kinderverschickungen ist auch vor diesem Hintergrund eine Geschichte des Versagens. Die Idee einer vorbeugenden Fürsorgemaßnahme wurde in der Praxis über Jahrzehnte ad absurdum geführt, und viele Betroffene kämpfen ein Leben lang mit den Folgen ihrer Verschickung.
Forderungen und Fragen der Betroffenen
Frühere Kurkinder, die mutmaßlich an Medikamentenversuchen teilnehmen mussten, stellen heute Fragen und warten auf wissenschaftlich fundierte Antworten:
- Waren Kinderheilstätten vor allem Forschungslabore der Pharmaindustrie?
- Was wussten Land und Kommunen davon, die teilweise zu den Trägern der Einrichtungen gehörten?
- Wie gehen die Nachfolge-Organisationen heute mit ihrer Verantwortung um?
Die vom Land NRW in Auftrag gegebene Studie zum Medikamentenmissbrauch ist ein Schritt in die richtige Richtung. Sie wird aber nicht ausreichen. Die Menschen, die als Kinder in den entsprechenden Einrichtungen waren, möchten wissen, ob ihre Erkrankungen mit Medikamententests zusammenhängen. Es muss die Wahrscheinlichkeit von unerwünschten Spätfolgen der Testungen untersucht werden.
Schlusswort
Was sich in der Aufarbeitung der Kinderverschickungen abzeichnet, ist nach Einschätzung des emeritierten Professors für Sozialpädagogik an der der Technischen Universität Chemnitz, Dr. Nando Belardi, das »größte Organisations- und Institutionsversagen der Nachkriegsgeschichte«.
Sowohl öffentliche wie private Kontrollmechanismen haben vielfach versagt. Das bis heute aktuelle Thema der Unterfinanzierung und Profitorientierung von Gesundheitseinrichtungen hat ebenfalls zum Entstehen eines die Menschenwürde unzähliger Kinder verletzenden Systems beigetragen.
Die Komplexität des Kinderverschickungssystems erfordert eine Erforschung durch ein transdisziplinäres Team mit folgendem Ziel: Ein Forschungsvorhaben, das dem Verflechtungs-Charakter der Kinderverschickungspraxis Rechnung trägt und eine Synthese aus geschichts- und politikwissenschaftlichen, soziologischen und psychologischen Ansätzen anstrebt.
Und neben einer wissenschaftlichen Aufarbeitung sind angemessene Unterstützungssysteme aus Betroffenensicht dringend erforderlich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Benutzte Literatur
Wilfried Rudloff, Eindämmung und Persistenz. Gewalt in der westdeutschen Heimerziehung und familiäre Gewalt gegen Kinder, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 15 (2018), H. 2, Druck-Ausgabe S. 250-276. Online-Ausgabe: URL: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2018/5590
Anne H. Crumbach, »Arzneimittel aus der Waschküche?«. Arzneimittelnebenwirkungen, ärztlicher Autoritätsverlust und die Suche nach neuen Diskussionsmöglichkeiten in den 1950er und 1960er Jahren, in: Thomas Großbölting / Niklas Lenhard-Schramm (Hrsg.), Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittel-Skandals, Göttingen, 2017, S. 104f.
Volker Roelcke, zitiert in: Ursula Storost, Psychiatrie im Nationalsozialismus. Ein Thema des Jahreskongresses der DGPPN, der deutschen Gesellschaft für Psychiatrie ist die Psychiatrie im Nationalsozialismus. Es ist das erste Mal, in der Geschichte der Fachgesellschaft, dass es dazu eine offizielle Gedenkveranstaltung geben wird, Deutschlandfunk, 25.11.2010, URL: https://www.deutschlandfunk.de/psychiatrie-im-nationalsozialismus-100.html (Stand: 01.07.2024).
Thomas Beddies, zitiert in: Harald Wiederschein: In grausame NS-Verbrechen verwickelt: Diese Ärzte machten später dennoch Karriere, Focus, 08.01.2021, URL: https://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/nationalsozialismus/befoerdert-ausgezeichnet-geehrt-wie-in-ns-verbrechen-verstrickte-aerzte-nach-dem-krieg-karriere-machten_id_10873655.html (Stand: 01.07.2024).
Detlev Stummeyer, Gerhard Domagk im „Dritten Reich“. Bayers Nobelpreisträger, Stichwort Bayer (SWB) 02/2017, S. 25, URL: https://www.cbgnetwork.org/wp-content/uploads/swb/SWB-2017-02.pdf https://www.cbgnetwork.org/nobelpreistraeger-bayers-nobelpreistraeger/ (Stand: 01.07.2024). S. auch: Detlev Stummeyer, Domagk 1937-1951. Im Schatten des Nationalsozialismus, Berlin / Heidelberg, 2020.
Hans Walter Schmuhl/ Karsten Wilke, Die Landeskinderheilstätte Mammolshöhe und ihr Direktor Werner Catel. Sanatorium, Klinik, Forschungsstätte – Kontinuitäten und Zäsuren, 1927–1954. Kurze Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, Pressemitteilung des Landeswohlfahrtsverbands Hessen, URL: https://www.lwv-hessen.de/fileadmin/user_upload/daten/Dokumente/News_Aktuelles/Pressemitteilungen/Schmuhl_Wilke_Mammolshoehe_Zusammenfassung.pdf (Stand: 01.07.2024).
Heiner Fangerau / Silke Fehlemann / Sylvia Wagner, Medikamentenerprobungen in der Kinder-Lungenheilstätte Wülfrath-Aprath, vorläufiger Bericht, 23.02.2024, S. 5.
Christoph Kopke, zitiert in: Hayke Lanwert, Wie Nazi-Ärzte bei der Contergan-Firma Grünenthal aufstiegen, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 13.03.2012, URL: https://www.waz.de/region/rhein-und-ruhr/article6453121/wie-nazi-aerzte-bei-der-contergan-firma-gruenenthal-aufstiegen.html (Stand: 01.07.2024).
Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München 2004, S. 46.
Sylvia Wagner / Burkhard Wiebel, „Verschickungskinder“ – Einsatz sedierender Arzneimittel und Arzneimittelprüfungen. Ein Forschungsansatz, in: Sozial.Geschichte Online 28 (2020), S. 11–42.