Ein Bericht von Verschickungskind Nicola Kirchner

Nun geht es zum dritten Mal nach Juist. 1975 wurde ich mit dem 6. Lebensjahr vor der Einschulung zur Erholung nach Juist für 6 Wochen verschickt. – allein im Zug, mit unendlichem Heimweh.
Nach fast 50 Jahren habe ich mein Trauma psychologisch aufgearbeitet und enorm davon profitiert.
Anders als geplant
Ab jetzt wird mein Leben ganz anders verlaufen, als ich es erwartet habe. Ich fahre mit meinen beiden Söhnen nach Juist. Ich bin so stolz und dankbar, dass sie mich begleiten!


Blick auf Juist Foto: Nicola Kirchner
Plötzliche Wende kurz vor Abreise
Kurz vor der Abreise hat mir mein Mann mitgeteilt, dass er sich bei seiner letzten Fortbildung in eine andere Frau verliebt hat und sich so schnell wie möglich trennen möchte. Nach 37 Jahren – ich bin fassungslos.
Mein Kopf ist voller Gedanken: Wie soll es weitergehen?
Bei Regen sitzen wir im Auto. Mein ältester Sohn fährt uns, und die Tränen fließen unweigerlich. Die Überfahrt nach Juist ist diesmal anders – wir fahren mit dem Schnellboot. Ich bin gespannt und nervös, wie es mir dort wird. Allmählich kommt die Sonne hervor, aber es ist sehr windig.


Haus des Schreckens
Am Hafen angekommen, sehe ich es sofort: „ Das Haus des Schreckens„. Es ist sofort sichtbar. Wieder habe ich einen Kloß im Hals, als ich es meinen beiden Jungs zeige. Mein Herz klopft, ich werde blass – und meine Jungs fühlen mit mir.
Im Hotel stellten wir nur kurz unsere Koffer ab und setzten uns in ein Café. Eine Band spielte „Dein ist mein ganzes Herz“. Ich musste weinen – mein Herz war so groß in diesem Moment.
Nach einem Strandspaziergang ging es uns viel besser. Wir haben viel geredet und verarbeitet. Im Schwimmbad haben wir uns ausgetobt und gelacht – es tat so gut!
Ausstellung im Inselmuseum
Ich bin gefangen in mir selbst. Ich bin auf Juist und gebe nicht auf. Mein Körper kämpft, und ich will frei sein. Ich funktioniere, aber ich lebe nicht. Innerlich falle ich, schweige – und ich will atmen, leben. Ich weiß nicht wie, aber meine Söhne fangen mich auf.
Spruch aus dem Hotel:
Tu das, wovor du am meisten Angst hast! Kalkuliere eine Blamage ein – so kannst du heute gewinnen.


28.06.2025
Wer Gutes erwartet und an das Gute glaubt, wird Gutes ernten!
Lebe bewusst. (Spruch des Tages aus dem Hotel)
Nach dem Frühstück sind wir mit dem Fahrrad unterwegs. Vorbei am Haus des Schreckens. Irgendwie hat es an Macht verloren. Es wirkt nicht mehr so groß und gruselig wie damals – 1975. Es hat einen neuen Anstrich bekommen, und es sind Ferienwohnungen daraus entstanden. Einige Fenster stehen offen. Die Versuchung, zu klingeln, ist groß – aber ich möchte niemanden stören.
Die Insel ist schön, und ich darf sie heute ganz anders erleben: Sonne, viel Wind, Ruhe und viele Gespräche mit meinen Söhnen – das befreit meine Seele. Wie schön – Momente des Glücks! Wie schön, dass sie mich begleiten!
Schwarz vor Augen
Jetzt geht es los: Gleich werde ich die Ausstellung im Inselmuseum Juist sehen. Eine Mitarbeiterin des Hotels meinte, es könnte sehr emotional werden.
Wie wahr – ich bin es jetzt schon. Aufgeregt und gespannt wie das kleine Kind von damals, mit Tränen in den Augen.
Mit dem Fahrrad gegen den Wind – durchgepustet und leicht erschöpft – kommen wir an. Herr Schlott vom Museum empfängt uns freundlich, und wir dürfen direkt die Ausstellung betreten. Das Inselmuseum wurde nur für uns geöffnet. Ich bin so dankbar, diesen Moment allein mit meinen Söhnen erleben zu dürfen. Ich musste mich meiner Tränen nicht schämen.
Der Atem stockte, die Gefühle überwältigten mich. Ein starker Druck auf der Brust – mir wurde schwarz vor Augen, als ich an der Waage vorbeiging und den Ausstellungsraum betrat. Meine Söhne machten sich Sorgen, sie meinten, ich wirkte, als wäre ich in einer anderen Welt.





Vertrauen wurde gebrochen
Ich erkannte mich auf jedem Plakat wieder – sah meinen Teddy, meinen kleinen Koffer. Ein beklemmendes Gefühl.
Alle Erinnerungen kamen sofort zurück: Essenszwang, Liegekur, Erbrochenes wieder essen müssen, nachts mit nackten Füßen in der Besenkammer allein – und die Angst, für immer auf dem Geisterschiff zu bleiben. All das musste ich mit gerade einmal sechs Jahren erleben. Mein Vertrauen war gebrochen.
Carl-Stegmann-Str. Nr. 3 war das Heim für Mädchen,
in der Carl-Stegmann-Str. Nr. 21 waren die Jungen untergebracht.


Auszeichnung der Stadt Münster für Demütigung von Kindern?
Schwester Tonita, die Clemensschwester, erhielt 1976 eine Auszeichnung für besonders lange Tätigkeit im Kurheim von der Stadt Münster – Wofür?
Für Demütigungen und schwarze Pädagogik? Kinderherzen wurden gebrochen.
Noch heute leiden zahlreiche Opfer unter schweren Depressionen und sind nicht mehr arbeitsfähig.
Unfassbar!
Ihnen wurde klar, warum ich so streng erzogen habe
Ein herzliches Dankeschön an Herrn Schlott, der uns das Museum aufgeschlossen hat. Ich hatte die Möglichkeit, mich lange mit ihm über das Thema auszutauschen. Meine Söhne waren ebenfalls sehr ergriffen.
Jetzt wurde ihnen klar, warum sie manchmal so streng erzogen wurden. Am Meer, mit den Füßen im Wasser, sprachen wir viel – und haben einiges aufgearbeitet. Ich habe immer noch diesen Druck auf der Brust und hoffe, ihn bis zur Abreise loszuwerden. Alles Schlimme soll hier auf Juist bleiben.


Wir sind immer füreinander da – egal, was passiert!
Ich bin so stolz auf meine Söhne! Ich wollte ihnen immer eine schönere Kindheit ermöglichen und entschied mich, immer für sie da zu sein.
Am Abreisetag schien die Sonne. Wir konnten uns noch eine Weile in den Sand legen und entspannen.
Am Anleger im Hafen blickten wir noch einmal auf das Haus des Schreckens in der Carl-Stresemann-Str. Nr. 3. Es wird für mich immer so bleiben.
Auf dem Schnellboot nahmen wir drei uns fest in den Arm und schworen uns, dass wir immer füreinander da sein werden – egal, was passiert!
Dankeschön an Detlef Lichtrauter für seinen unglaublichen Einsatz!
Das kleine Mädchen von damals.