Längst überfällig, endlich da: Runder Tisch tritt im NRW-Landtag zu erster Sitzung zusammen

Jahrelang dachten viele, die traumatische Erfahrung während ihrer Verschickungszeit als Kind sei ein Einzelschicksal gewesen. Doch es waren Viele, die Grausames in den Verschickungsheimen erleben mussten. In Nordrhein-Westfalen hat sich diese große Anzahl Betroffener zusammengetan und den Verein „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V.“ gegründet. In NRW hatten die ehemaligen Verschickungskinder das große Glück, auf sehr viel Verständnis in der Politik zu stoßen. Seit dem 21. März 2023 gibt es in NRW daher eine offizielle politische Aufarbeitung des Themas. Betroffene sowie Vertreterinnen und Vertreter der damaligen Akteure trafen sich auf Initiative des  Landtages  zum ersten Mal an einem Runden Tisch.

Obwohl der nordrheinwestfälische Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Karl-Josef Laumann, einen randvollen Terminkalender hatte, ließ er es sich nicht nehmen, an der Eröffnungsveranstaltung vor dem Runden Tisch, teilzunehmen. Er nahm sich intensiv Zeit für die Betroffenen und zeigte großes Mitgefühl.

Die Landesregierung hält Wort gegenüber allen, die als Kinder oder Jugendliche während eines Kinderkuraufenthalts teils schlimme Verletzungen und Traumata erlitten haben. Sie müssen oftmals bis heute mit den Nachwirkungen umgehen. Es ist höchste Zeit, dieses Leid wahrzunehmen, sowie die Ursachen und die Umstände, unter denen es zugefügt wurde, systematisch und umfassend zu erforschen und aufzuarbeiten.

Karl-Josef Laumann, NRW-Minister MAGS (li),
Detlef Lichtrauter, 1. Vorsitzender AKV-NRW (re)
Foto M. Millgramm

Neben vielen Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Gesellschaft waren auch viele ehemalige Verschickungskinder und Betroffene zur Eröffnung gekommen.

Begleitet wurde die Konstituierung des Runden Tisches von der Kunstausstellung „Kindeswund“ der Hamburger Künstlerin Heike Fischer-Nagel. Die aus NRW stammende Künstlerin ist selbst Betroffene und war als 4jährige nach Rheinland-Pfalz verschickt. Bevor es in den Sitzungssaal an den Runden Tisch ging, führte Heike Fischer-Nagel die 22 Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Ausstellung. Bilder der Künstlerin befinden sich auch an anderen Stellen auf der Website des Vereins AKV-NRW e.V. Auch die Fotos der Bilder und Kunstwerke unten in der Bildergalerie sind Kunstwerke von Fischer-Nagel, entstanden bei der Ausstellungseröffnung im NRW-Landtag am 21.03.2023. 

Ehemalige Verschickungskinder mit E. Auchter-Mainz und den beiden NRW-Landtagsabgeordneten Dr. D. Maelzer (SPD) und C. Quik (CDU) / Foto: B. Tebarth
Blick in die Ausstellung von Heike Fischer-Nagel im Foyer des Landtags NRW. / Foto M. Millgramm

Die Kunstwerke sind eine sehr beeindruckende und eindringliche Einführung in das Thema.

Elisabeth Auchter-Mainz / Foto M. Millgramm

Im Anschluss ging es für die Akteure der Kinderverschickung in den Sitzungssaal mit Blick auf den Rhein. Für die Moderation konnte Minister Karl-Josef Laumann die ehemalige Opferschutzbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Elisabeth Auchter-Mainz, gewinnen.

Minister Karl-Josef Laumann hatte Institutionen und Träger zum Runden Tisch eingeladen, die mit der Kinderverschickung im Zusammenhang standen: die Landschaftsverbände für Westfalen-Lippe und für das Rheinland, die kommunalen Spitzenverbände, die evangelische und die katholische Kirche, Sozial- und Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, die Ärztekammer, Krankenkassen, die Deutsche Rentenversicherung, das NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS), das NRW-Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration (MKJFGFI), das NRW-Landesarchiv, sowie die beiden gewählten Vertreter des Vereins „Aufarbeitungen Kinderverschickungen NRW e.V.“, Detlef Lichtrauter und Joachim Desens.

Nach der ersten Gesprächsrunde waren sich die Vertreter:innen aller Organisationen einig: Das damals Geschehene muss umfassend aufgearbeitet werden. Damit diese Aufarbeitung möglich ist, dürfen alle Beteiligten keine relevanten Akten mehr vernichten.

Das Schlimmste, was jetzt passieren könnte, wäre, dass nach Beginn des offiziellen Aufarbeitungsprozesses, der durch den Runden Tisch nun endlich beginnt, noch Akten vernichtet werden. Das müssen Sie unbedingt verhindern.

Elisabeth Auchter-Mainz / Foto M. Millgramm

Alle am Runden Tisch Sitzenden haben Auchter-Mainz zugesichert, dass sie diese Forderung in ihrer jeweiligen Einrichtung durchsetzen wollen. Dies hatte der Verein AKV-NRW und das angegliederte Citizen-Science-Projekt schon seit über einem halben Jahr eingefordert.

Die ehemalige Generalstaatsanwältin bestimmte zwei Arbeitsgruppen, die noch vor den Sommerferien konkrete Schritte entwickeln sollen. Die beiden Vereins-Vertreter Detlef Lichtrauter und Joachim Desens werden bei allen Gruppentreffen dabei sein. Die nächste große Sitzung soll wieder im September 2023 stattfinden. 

Deutlich wurde bei der ersten Sitzung auch: Einige der Träger-Organisationen haben bereits innerbetrieblich Nachforschungen angestellt, allerdings ist dabei kein neuer Erkenntnisgewinn herausgekommen.

Aus dieser Aussage ergeben sich sehr klare Forderungen der Betroffenen an den Runden Tisch:

Eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung, die die Träger finanzieren müssen, ist zwingend erforderlich.

Detlef Lichtrauter / Foto M. Millgramm

Im Kinderkurwesen hat sowohl die staatliche als auch die zivilgesellschaftliche Kontrolle über vier Jahrzehnte nahezu komplett versagt. Wer trug damals die Verantwortung? Und wer übernimmt diese heute?

Joachim Desens / Foto M. Millgramm

Viele Betroffene leiden noch heute unter den Folgen, die zum Teil jahrzehntelang ignoriert wurden. Deshalb muss der Runde Tisch auch über geeignete Therapieangebote sprechen. Vorher wird es keine Versöhnung mit uns geben.

Detlef Lichtrauter / Foto M. Millgramm

Das gesellschaftliche Interesse für das Thema ist jedenfalls geweckt. Vor Ort konnten es die Beteiligten an der Menge der anwesenden Reporter und Kamerateams ablesen. Und die Allgemeinheit konnte das Thema in Filmberichten bei „RTL West“ und in der „Aktuellen Stunde“, im Radioprogramm von „WDR 5“ und in diversen Zeitungs- und Online-Berichten nachvollziehen. Im renommierten „ZEIT ONLINE“ gab der Runde Tisch an diesem Tag sogar das Thema mit den meisten Artikelaufrufen her. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Runden Tisch kann dies zeigen, dass die Kinderverschickung auch mehr als 30 Jahre nach ihrem Ende noch immer Relevanz und Brisanz besitzt.  

Detlef Lichtrauter im Interview mit der Aktuellen Stunde des WDR Fernsehens.
Foto M. Millgramm
Wichtige politische Fürsprecher für die Aufarbeitung sind Dr. Dennis Maelzer von der SPD und Charlotte Quik von der CDU. Für Maelzer war der Tag „ein Meilenstein.“ / Foto M. Millgramm

In Nordrhein-Westfalen ist ein wichtiger Schritt getan: Hoffnung auf eine umfassende Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch an Kindern während der Verschickungskuren und damit verbunden: die Anerkennung des erlittenen Leids. Jetzt kommt es darauf an, wie es weiter gehen wird.

Detlef Lichtrauter, Maria Dickmeis, Regina Konstantinidis vom Verein "Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V."
Foto M. Millgramm

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