Ein Abend voller Erinnerungen und bewegender Begegnungen
Lesung von Regina Konstantinidis in Jülich am 3. September 2025
Über zwanzig Menschen kamen am Mittwochabend in die KuBa Kneipe im Kulturbahnhof Jülich, um Regina Konstantinidis aus ihrem Buch „Verschickt – Verdrängt – Vergessen“ lesen zu hören.
Anschaulich und mit spürbarer innerer Beteiligung schilderte sie ihre Kindheitserfahrungen im städtischen Kinderkurheim Haus Ruhreck auf Borkum. Besonders eindrücklich berichtete sie vom Essenszwang, als sie wiederholt das Erbrochene ihrer Tischnachbarin, das auf ihren Teller gespritzt war, mitessen musste. Ebenso eindringlich war ihre Erinnerung an die Schlammkuren: Nachdem sie sich unerlaubt aus dem Kurbad entfernt hatte, wurde sie erwischt, geschlagen und so heftig misshandelt, dass sie einen „Filmriss“ erlitt. Bis heute bleibt im Verborgenen, was ihr damals in der Folge widerfuhr. Ihr letztes klares Bild: die plötzlich ganz nahe Oberfläche des Schlammbads. Geprägt haben sie nicht nur diese Einzelerinnerungen, sondern auch die ständige Angst vor dem Regime der „Tanten“ und die innere wie äußere Kälte, die sie sechs Wochen lang im Haus Ruhreck erlebte.
Motiviert durch ihre Tochter begann Regina Konstantinidis, die Erinnerungen aufzuschreiben – aus Sorge, dieses Kapitel der Familiengeschichte könnte verloren gehen. So entstand ein Buch, das heute vielen anderen Betroffenen als Stimme und Spiegel dient.
Die Reaktionen des Publikums waren intensiv: zustimmendes Nicken, leises Raunen, bewegte Blicke. Rund ein Drittel der Anwesenden hatte selbst Verschickungserfahrungen und ergriff nach der Lesung das Wort. Sie nannten eigene Orte wie Mittelberg-Oy, Schwarzwald, Bad Rothenfelde, Borkum und Norderney. Ihre Schilderungen von Gewalt durch Nonnen oder Tanten und vom Essenszwang – bis hin zum Mitessen von Erbrochenem – bestätigten Reginas Bericht.
Ein Witwer erzählte von der vergeblichen Suche seiner verstorbenen Frau nach dem Heim, in das sie verschickt worden war. Sie habe zu Lebzeiten nie mit ihm oder jemand anderem über ihre Erlebnisse sprechen können. Ein stiller, erschütternder Moment.
Besonders eindringlich wurde die Diskussion, als es um die Frage ging, warum manche Betroffene später ihre eigenen Kinder erneut in Kinderkuren schickten. Viele hatten ihr eigenes Trauma nicht aufgearbeitet und konnten die Dimension der Missstände im Kinderkurwesen damals noch nicht erkennen. So wurde deutlich, dass die Verschickungsgeschichte nicht nur Einzelne betrifft, sondern ganze Familien über Generationen hinweg prägt – und oftmals großen Schaden angerichtet hat.
Die Lesung wurde zu weit mehr als einer Buchvorstellung: Sie war ein Ort des Erinnerns, Teilens und Verstehens. Ein Abend, der zeigte, wie wichtig es ist, dass Betroffene sprechen – und dass ihnen zugehört wird.
»Verschickt – Verdrängt – Vergessen« Ein persönlicher Erfahrungsbericht des Verschickungskindes Regina Baumann
BoD – Books on Demand. Norderstedt 2021, etwa 130 Seiten. Preis: 10 Euro
ISBN: 978-3-755-70065-4
Bestellen unter: regina.konstantinidis@akv-nrw.de


