von André Theuerzeit
Dieser Erfahrungsbericht kostet mich Überwindung und Kraft. Ich kann es mir auch nicht genau erklären warum. Es ist emotional anstrengend und mit vielen negativen Erlebnissen verbunden. Es gab einen Arzt während meiner dreimonatigen Verschickung, dessen Name in sehr guter in Erinnerung ist, sowohl mir als auch meinem Vater. Mein Vater hat in ihn damals große Hoffnung gesetzt, dass er mich heilen könnte. Ich habe ihn damals als sehr ruhigen, sachlichen Arzt wahrgenommen. Ich hatte den Namen des Arztes nicht mehr ganz richtig in Erinnerung, aber mein Vater wusste ihn noch wie aus der Pistole geschossen. So war es auch kein Problem, ihn im Internet zu finden. Am Abend vor dem Gespräch bin ich sehr früh ins Bett gegangen. Ich bin grundsätzlich kein sonderlich in sich ruhender Mensch, aber es fühlte sich alles viel ruhiger an als sonst. Ich bin trotzdem um drei Uhr nachts aufgewacht und konnte nicht mehr schlafen.
Verschickt in die Lungenheilanstalt Aprath – drei Monate ohne Eltern
Von September bis November 1984 war ich in der Lungenheilanstalt Aprath bei Wuppertal, da ich unter einer geschlossenen Lungentuberkulose (TBC) litt, die nicht ansteckend war. In den 80iger Jahren war die Hoch-Zeit von Tuberkulose eigentlich schon vorbei, da es bereits Impfungen gab. Ich bin in die Klinik eingeliefert worden, obwohl das nicht zwingend erforderlich gewesen wäre. Man hätte mich auch medikamentös zu Hause über mehrere Wochen und Monate behandeln können. Dann hätte ich keinen Sport machen, nicht toben und auch nicht in die Schule gehen dürfen. Meiner Mutter war das aus der heutigen Perspektive mutmaßlich zu aufwendig. Soweit ich mich erinnere, war ihr subjektives Narrativ, dass sie die oben genannten Maßnahmen mit einem so lebhaften Kind nicht sicherstellen könne. So haben meine Eltern entschieden, dass ich die damals noch unbestimmte Zeit zwischen drei und sechs Monaten in die Lungenheilanstalt eingeliefert wurde. Darüber hinaus gab es einen familiären Hintergrund. Meinem Opa wurde nach dem Krieg aufgrund einer Tuberkulose ein Lungenflügel entfernt. Daher erstarrte das Gesicht meiner Mutter bei meiner TBC-Diagnose des Kinderarztes. Ich habe große Sorge und Angst bei ihr wahrgenommen, die sich unmittelbar auf mich übertragen hat. In den 50iger, 60iger Jahren hätte ich mit so einer Diagnose auf jeden Fall in die Klinik gemusst, aber in den 80iger Jahren war es mit einer geschlossenen TBC nicht mehr zwingend notwendig, in eine Klinik zu gehen. Es war also keine 100 Prozent-Entscheidung. Je mehr ich mich mit dem Thema retrospektiv beschäftige, desto mehr steigt ein Mischung aus Unverständnis und Bitterkeit in mir auf. Im Nachhinein würde ich sagen, es fühlt sich für mich an wie abgeschoben worden zu sein. Im Hinblick auf das Bindungsgefühl zu meinen Eltern hat es sicherlich nicht geholfen. Vor allem mütterlicherseits bin so aufgewachsen, dass es kein Jammern gab. Da muss man durch, man muss stark sein. Daher war es am Tag der Einlieferung für mich keine Option, meine Eltern anzubetteln, mich wieder mit nach Hause zu nehmen.
Ein sehr dunkler Tag
Gebürtig komme ich aus Mönchengladbach. Mit dem Auto war es eine Stunde Fahrt nach Aprath. Aber bei der Ankunft kamen gleich mehrere Sachen zusammen, die den Tag für mich sehr dunkel haben werden lassen. Als 8jähriges Kind fühlte ich mich meiner Familie entrissen und abgeschoben. Ich kann mich noch gut erinnern, dass sich die Kombination aus dem Zeitraum von drei bis sechs Monaten, ganz ohne Eltern wie ein schwarzes Loch angefühlt hat – ein gefühlt endloser Zeitraum. Selbst in den 80iger Jahren gab nur eine Besuchszeit von 90 Minuten zwei Mal in der Woche. Das war doch keine Zeit, auf die man sich freuen konnte. Kaum sind die Eltern da und dann sind sie auch schon wieder weg. Aprath war kein Ort, wie man sich heute eine Kita vorstellt. Dort herrschte von der ersten Sekunde an eine autoritäre Atmosphäre, alles andere als nett. Und das bei angsterfüllten Kindern. Hinzu kam, dass ich zunächst in ein normales Krankenzimmer kommen sollte, dass mir eine Privatsphäre, also ein Rückzugsort ermöglicht hätte. Dort wurde ich am gleichen Tag noch einmal herausgeholt und zu den kleinen Kindern in einen großen Schlafsaal gesteckt mit Scheiben rundherum. Die ganze Zeit musste ich in einem Glaskasten schlafen. Als ich mich im letzten Jahr zum ersten Mal mit Betroffenen ausgetauscht habe, die 20-30 Jahre vor mir in der Klinik waren, hat mich am meisten geschockt, dass der Umgang mit drei bis 16jährigen Kindern noch genauso oder in leicht abgeschwächter Form gehandhabt wurde und dass sich seit den 50iger, 60iger Jahren so wenig getan hat.
Im Kontext der jeweiligen Zeit und den Normen in unserer Gesellschaft, gerade auch was den Umgang mit Kindern betrifft, waren die Vorgänge in den 80er Jahren womöglich noch weiter entfernt von eben diesen. Aus heutiger Sicht, herrschte dort auch über 40 Jahre nach der NS-Zeit noch die Idee der schwarzen Pädagogik, die in dieser Zeit systematisch genutzt wurde, um den „neuen Menschen“ zu Formen. Vermutlich ohne die genauen Hintergründe zu kennen, aber immer noch in dem Glauben, dass das die adäquaten Erziehungsmethoden für Kinder seien.
Tagesablauf
Jeder Tag war ähnlich und strikt durchgeplant. Nur dienstags und donnerstags, glaube ich, waren die Besuchstage. Ich hatte das Glück, dass ich ein Schulkind war. Nach dem Frühstück bis zur Mittagszeit hatten wir Unterricht. Es gab ein Unterrichtsgebäude auf dem Gelände und einen klassenübergreifenden Unterricht, da von jeder Altersklasse nur ein, zwei Kinder da waren. Das war der schönste Zeitraum des Tages, weil wir endlich mal rauskamen. Eine Fluchtmöglichkeit, auch wenn der Weg zur Schule nur 100 Meter war. Da hatte ich die Möglichkeit, auch mal einen kleinen Umweg zu nehmen und eine gewisse Freiheit und ein bisschen Freiraum zu spüren. Der Vormittag war also das Highlight. Dann gab es Mittagessen. Ich musste oft stundenlang dort sitzen, bis ich alles aufgegessen habe. Ich nehme an, dass das grundsätzlich so knallhart durchgezogen wurde. Ich kann mich nur an das eine Mal bei mir erinnern. Nachmittags gab es Liegekuren. Nach dem Mittagessen mussten wir auf einer Holzpritsche in einem angebundenen Schlafsack, die Hände konnten nicht herausgenommen werden, 60 bis 90 Minuten lang, eine sogenannte Liegekur machen. Dabei mussten wir mucksmäuschen still sein. 20 Kinder zwischen 3 und 16 Jahren, die anderthalb Stunden den Mund halten sollten, das ging nur mit einem autoritären Regime. Um 18 Uhr gab es Abendessen, danach gab es nur noch einen kleineren Kreis von Schwestern bis die Nachtschwester kam.
Meine Art der Rebellion, die mir bis heute ein schlechtes Gewissen macht.
Ich habe mir in Aprath einen Verbündeten gesucht und ihn angestiftet, bei Streichen mitzumachen. Das war wohl meine Art als Kind, diesem übermächtigen, autoritären System Widerstand zu leisten. Da bot sich die Nachtschwester an, denn es gab nur eine Nachtschwester für die ganze Kurklinik. Kinder zwischen drei und 16 Jahren waren nachts sich selbst überlassen. Mein Freund und ich haben versucht, die Nachtschwester auf Trab zu halten. Es gab eine große schwere Holztüre, die nachts offenstand. Wir haben immer den Keil aus der Türe gezogen und dann ist sie mit einem lauten Knall ins Schloss gefallen. Die sehr füllige Nachtschwester musste dann immer kommen, die Tür wieder aufmachen und hat dann kontrolliert, wer noch nicht schläft in unserem Glaskastenzimmer. Mein Freund und ich haben uns immer ganz clever angestellt und uns schlafend gestellt. Die andere Art, die Nachtschwester auf Trab zu halten, war, dass wir andere Kinder im Schlaf geschlagen haben. Durch diese Aktion haben wir die Kleinen zum Weinen gebracht. Die Nachtschwester musste kommen und sie beruhigen. Diese Taten haben der Schwester sicherlich keinen ruhigen Job ermöglicht.
Das war die Rebellion, die ich mir ausgesucht hatte. Offen aufbegehren konnte man damals nicht. Ich finde es gerade in der heutigen Zeit einen wichtigen Aspekt, dass solche Gewalt-Systeme wiederum Gewalt produzieren. Auch wenn ich sage, ich habe mir als gerade mal 8jähriges Kind ein Ventil gesucht und ich war ein Opfer des Systems, fühle ich mich trotzdem emotional sehr schlecht dabei, wenn ich daran denke, was ich dort als 8jähriger anderen Kindern angetan habe. Ich habe bis heute ein schlechtes Gewissen. Dass so ein System und solche Menschen so etwas Schlechtes in mir als Kind hervorgeholt haben, das macht mich bis heute auch sehr wütend. Aus heutiger Sicht, mit 48 Jahren, passt es aber auch zu meiner Biografie. Unfreiwillig und subjektiv unnötig in ein System gepresst zu werden und dann auch noch in so ein autoritäres, das geht mit mir nicht ohne Widerstand. Vermutlich war es aber gleichzeitig ein Hilferuf nach dem Motto „holt mich hier raus“. Heute erfüllt es mich auch etwas mit Stolz, dass ich als Kind den Mut hatte, in einem solchen System zu rebellieren. Es war meine Art des Hilferufs und ein Ventil, um auf mich aufmerksam zu machen: „Das, was hier passiert, ist in keinster Weise akzeptabel für mich und für alle anderen auch nicht.“ Ohne erwischt worden zu sein, wurden meine Eltern in die Klinik zitiert zu einem Gespräch über diese Vorfälle. Für mich war das ein eindrücklicher Termin. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Aussage: „Wir haben ihn zwar nicht erwischt, aber ihm trauen wir diesen Schabernack am ehesten zu. Wenn das nicht aufhört, dann muss er leider die Klinik verlassen.“ Das wäre für mich eigentlich die Gelegenheit gewesen, aber ich wollte meine Eltern nicht bloßstellen. Aus dem Krankenhaus rauszufliegen wegen schlechten Benehmens, wäre für mich eine Schande gewesen.
Horror-Erfahrung
Eine Horror-Erfahrung war die Magensaftuntersuchung. Ohne Sedierung wurde mir einen Schlauch durch die Nase oder den Rachen zum Magen eingeführt – ganz ohne Eltern. In der heutigen Zeit ist man als Eltern immer dabei, um sein Kind zu trösten, wenn es eine Spritze bekommt. Etwas zu schlucken oder mich zu verschlucken, ist für mich bis heute eine Horror-Vorstellung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei mir in den 80iger Jahren noch Medikamente getestet wurden, so wie bei vielen anderen Kindern in den Jahrzehnten davor. Ich bin dort geheilt worden, habe aber auch stark zugenommen.
Kinder zu Strip Poker gezwungen
Ein anderes Erlebnis, dass ich im Nachhinein als noch schlimmer erachte und was ich mir selbst über Jahre kleingeredet habe, ist das Spiel Strip Poker, dass einige Schwestern mit uns nach dem Abendessen gespielt haben. Der Strip Poker fand statt, nachdem nicht mehr alle Schwestern da waren und bevor die Nachtschwester kam. Erst Experten haben mir klargemacht, dass das eine Form von sexualisierter Gewalt war. Es war ein gravierender Verstoß in einem theoretisch geschützten Raum, der eine Kinderkurklinik eigentlich sein sollte. Wir waren mehrere Kinder in dem Alter zwischen 3 und 13 Jahren und mussten uns nach einem verlorenen Spiel nach und nach bis auf die Unterhose ausziehen. Die Schwestern haben selbst mit Karten gespielt, ausziehen mussten nur wir Kinder uns, soweit ich mich erinnere.
Wiedersehen mit Kinderkur-Arzt nach 40 Jahren
Obwohl 40 Jahre dazwischen lagen, hat sich mein damals behandelnder Arzt gut gehalten. Er muss irgendetwas um die 70 Jahre sein. Als ich sein Foto sah, wusste ich sofort, dass er das ist. Er war damals noch ein sehr junger Arzt, es war seine erste Arztstation. Ich habe ihn im Verhältnis zur ganzen Klinik als eher positiv wahrgenommen. Ich wollte ihn auch schon selbst anschreiben, bin aber dann auf den Verein gestoßen. Dann haben Bastian Tebarth vom Projektbüro und ich entschieden, dass es besser ist, wenn das Projektbüro den Termin koordiniert. Der Arzt hat einem Treffen zugestimmt, da er sehr christlich motiviert sei und daher zur Aufarbeitung beitragen wolle. Das Treffen fand in einem Café auf neutralem Boden statt. Es war beruflich ein sehr stressiger Tag, ich bin morgens um 7 Uhr schon mit Zug nach Köln gefahren. Die Fahrt war entspannter als an einem normalen Arbeitstag, wenn ich mich zu einem Termin nach Köln aufmache. Das hat mich überrascht, aber es liegt wahrscheinlich daran, dass ich das Gespräch unbedingt sachlich angehen wollte. Ich hatte keine Wut auf den Arzt, denn er war für mich kein direkter Schuldiger. Auf der anderen Seite war er für mich aber schon Teil des Systems. Er hat zunächst fünf bis zehn Minuten über den Chefarzt Professor Simon referiert. Das fand ich sehr irritierend, weil ich Professor Simon als Hauptverantwortlichen dafür sah, wie in Aprath mit Kindern umgegangen wurde. Es scheint bei Ärzten so zu sein, dass keine Krähe der anderen ein Auge aushackt. Das hat mich total getriggert. Ich bin doch nicht in das Gespräch gegangen, um zu erfahren, was Professor Simon für ein guter Arzt und Klinikleiter war.
Verteidigungsrede für den ehemaligen Chef
Zu Beginn bestand das Treffen nicht aus einem Gespräch. Ich empfand es nicht als wirkliche Kommunikation, denn er hatte sich vorher Sachen zu Recht gelegt. Es kam bei mir an, wie eine Verteidigungsrede für den ehemaligen Chef. Bastian Tebarth hat dann irgendwann das Gespräch unterbrochen und darauf hingewiesen, dass es bei dem Gespräch um meine Erfahrungen in der Klinik geht. Aber wir sind immer wieder abgeschweift. Dabei hätte uns eigentlich interessiert, ob er noch Kontakt zu anderen Oberschwestern hat. Wenn überhaupt, hat er mir nur sehr durch die Blume vermittelt, dass an meinen Erfahrungen etwas dran sein könnte. Er hat mir noch eine eigene Geschichte erzählt. Keine Ahnung, ob das geplant war oder ob er versucht hat, mir damit eine Brücke zu bauen und mir damit das Gefühl geben wollte, dass er meine Erzählungen für wahr hält… Auf jeden Fall hat er mir erzählt, dass er als Kind mal in einem ganz normalen Krankenhaus war und das hat ihn anscheinend so traumatisiert, dass er sich noch nach Jahren von seiner Mutter losgerissen hat, wenn er Nonnen gesehen hat. Dabei wäre er fast mal von einem Auto überfahren worden. Ich habe das als ehrliche Erzählung wahrgenommen. Zumindest hat er mir zugestanden, dass ein Aufenthalt in der Klinik mit dieser Atmosphäre traumatisch gewesen sein muss. Diesen Teil des Gesprächs habe ich als positiv wahrgenommen. Trotzdem beschäftigt mich bis heute, wie emotional ehrlich er es gemeint hat. Zu den Liegekuren hat er gesagt, dass das klinikgängige Praxis war, genauso wie die Magensaftentnahme, auch bis in die 80iger Jahre hinein. Bei dem Strip-Poker-Thema hat auch er große Augen gemacht. Ich hatte an das Gespräch keine großen Erwartungen und bin auch nicht mit der Traumvorstellung hereingegangen, dass so jemand sagt: Oh Gott, das war wirklich alles schlimm. Hätte ich das damals gewusst, hätte ich einschreiten und die ganze Klinik auf den Kopf stellen müssen. Der Arzt erschien mir nicht nervös. Dass er sich überhaupt mit uns getroffen hat, habe ich als positiv für mich gewertet. Meine Hoffnung war noch, dass ich durch ihn an eine Krankenschwester, die wir „Tante“ nennen mussten, kommen würde, um mich auszutauschen. Er sagte aber, die Schwestern seien von einer externen Firma gekommen, mit der er nichts zu tun gehabt hätte. Wie kann man auf die Idee kommen, bis in die 80iger Jahre hinein mit Kindern nach dem Vorbild der schwarzen Pädagogik umzugehen?
Kann Gespräch trotzdem empfehlen
Kinder verpacken erst mal das Erlebte und stecken es weg, wie bei so vielen Verschickungskindern und plötzlich und unerwartet, kommt das Trauma wieder hoch. Ich befürchtete keine Retraumatisierung, sondern sehe das Positive an dem Gespräch. Im schlechtesten Fall ist das Ergebnis für mich ein innerliches Nullergebnis. Ich kann so ein Gespräch empfehlen, es bleibt meines Erachtens aber eine individuelle Entscheidung. Sollte die Gefahr einer Retraumatisierung bestehen, kann ich das natürlich nicht uneingeschränkt empfehlen. Wichtig finde ich, in so ein Gespräch nicht mit einer ultimativen Erwartung hereinzugehen. Sonst kommt man mit dem realistischen Ergebnis nachher nicht klar. Ich würde so ein Gespräch immer wieder führen.