Der zweite Begegnungstag der Verschickungskinder NRW: Ein starkes Zeichen
Am 28. September 2024 versammelten sich 130 ehemalige Verschickungskinder aus ganz Deutschland im westfälischen Dorsten. Das Motto des Begegnungstages: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“. Denn die Aufarbeitung der Kinderverschickungen am Runden Tisch NRW stockt. Als „Star“-Gast und neuer Botschafter mit dabei: Höhner-Gründungsmitglied Janus Fröhlich.
Von Bastian Tebarth
Bereits um 10 Uhr war der Saal des Dorstener “Treffpunkt Altstadt” rappelvoll. Die Angebote des vielfältigen Programms sind gefragt, die Resilienz- und Recherche-Workshops bis auf wenige Ausnahmen restlos ausgebucht. Eine beeindruckende Kunstausstellung und die Stadtführung mit Barbara Seppi begeistern die Community. Hier treffen sich Menschen, die zwischen 1950 und 1990 verschickt waren und bis heute mit den Folgen der Kinderkuren kämpfen.
Der Begegnungstag ist mehr als ein Event mit Angeboten: Die ehemaligen Verschickungskinder tauschen sich aus, vernetzen sich. Er ist aber vor allem auch ein Appell in die Gesellschaft hinein, denn das ist der Anspruch des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V. (AKV-NRW e.V.): Raum geben für positive Impulse und gemeinsames Erleben, Signale setzen nach außen in die Gesellschaft hinein, gehört werden.
Das gelingt mit der kraftvollen Unterstützung des langjährigen Höhner-Schlagzeugers und Botschafters Janus Fröhlich. Mit dem gemeinsam gesungenen Höhner-Klassiker „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ setzt die Community ein Zeichen für Politik und die ehemaligen Träger der Kinderverschickungen: Jetzt muss gehandelt werden! Die Kinderverschickung gehört wissenschaftlich aufgearbeitet und die Betroffenen brauchen langfristig unterstützende Angebote.
Um der Zukunft willen: Der Vergangenheit zuhören und keine Ruhe geben
Detlef Lichtrauter, erster Vorsitzender des Vereins AKV-NRW e.V., eröffnet den Tag mit einer Dankesrede. Nicht ohne Grund: Die vielfältigen Angebote des Begegnungstages zeigen, was möglich ist, wenn Menschen sich zusammen tun und ein Ziel verfolgen. Unter den Adressaten seines Dankes ist auch das Land NRW, das (nur) noch bis Anfang 2026 mit Fördermitteln die Aufarbeitung unterstützt. Und danach? „Die unabhängige wissenschaftliche Forschung und psychosoziale Unterstützung müssen ausgebaut und langfristig finanziell gesichert werden“, sagt Detlef Lichtrauter in Richtung Runder Tisch NRW. Er spricht aus, was die Community in Dorsten noch vielfach an diesem Tag thematisieren und in Richtung Politik und Sozialverbände adressieren wird: Lasst uns nicht wieder allein!
Mit einem Zitat von Erich Kästner beendet Detlef seine Rede: „Die Vergangenheit muss reden und wir müssen zuhören. Vorher werden wir und sie keine Ruhe finden“.
Und er fügt hinzu: „Und vorher werden wir Verschickungskinder keine Ruhe geben!“
Aufarbeitung ist ein Brauchtum, das gepflegt werden muss
Bürgermeister Tobias Stockhoff zeigt sich in seiner Begrüßungsrede empathisch an der Seite der Betroffenen: Auch wenn er selbst (Jahrgang 1981) nicht verschickt gewesen sei, wisse er, was traumatische Erlebnisse in der Kindheit für Folgen für den Lebenslauf haben könnten. Stockhoff berichtet von Betroffenen, mit denen er als Bürgermeister ins Gespräch gekommen ist: Alle hätten von negativen Erfahrungen berichtet. Er fordert, die Gesellschaft muß aus den Erlebnissen der Verschickungskinder Lehren ziehen und betont: Nur durch erfolgreiche Aufarbeitung könnten wirkungsvolle Maßnahmen gegen Missbrauch und Missstände im Fürsorgesektor entwickelt werden.
Bürgermeister Stockhoff würde sich freuen, den AKV-NRW e.V. auch im nächsten Jahr, dann zum 3. Mal, wieder in Dorsten begrüßen zu können: „In Westfalen ist das zweite Mal Tradition, beim dritten Mal spricht man von Brauchtum“.
Arbeit am Runden Tisch stockt, Finanzierung unklar
Joachim Desens berichtet in Dorsten vom Runden Tisch Kinderverschickung. Er vertritt dort mit Detlef Lichtrauter seit Start im Frühjahr 2023 die Interessen der nordrhein-westfälischen Verschickungskinder gegenüber der Politik und den ehemaligen Trägern. Es geht um die Betroffenen, die zwischen 1950 und 1990 von oder nach NRW verschickt waren. Die Arbeit am Runden Tisch kommt nur schleppend voran, sagt der Jurist Desens. Er habe die Verantwortlichen daran erinnert, dass die mangelnde Kontrolle seitens des Staates und der Träger die Kinderkurheime zu „rechtsfreien Räume“ gemacht hätten. Aber bislang fehlen die Voraussetzungen und Schritte, um diese Missstände aufzuklären. In der vierten von sechs angesetzten Sitzungen sei immer noch nicht darüber gesprochen worden, wie die wissenschaftliche Aufarbeitung und die psychosoziale Unterstützung der Betroffenen in Zukunft finanziert werden soll.
Im April 2026 läuft die Förderung des Bürgerforschungsprojektes CSP-KV-NRW aus, mit dessen Hilfe der Verein AKV-NRW e.V. bisher Betroffenen ein vielfältiges und stark nachgefragtes Support-System anbieten kann. Diese Hilfe steht mittelfristig vor dem Aus, wenn nicht jetzt endlich gehandelt wird. Die Botschaft von Joachim und Detlef an den Runden Tisch ist klar: Die Betroffenen dürfen nicht wieder allein gelassen werden!
Kölner Urgestein neuer Botschafter
Dass die Aufarbeitung der Kinderverschickungen energisch vorangetrieben werden muss, war auch die Botschaft von Janus Fröhlich. Das Kölner Urgestein und Gründungsmitglied der Kultband Höhner ist für sein gesellschaftliches Engagement bekannt – ab sofort ist Janus Fröhlich neuer Botschafter der Verschickungskinder in NRW.
Mit ergreifenden sehr persönlichen Worten berührte Janus Fröhlich die Verschickungs-Community in Dorsten. Den Tränen nahe zeigte er sich tief betroffen vom Schicksal der Verschickungskinder. „Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen und habe bei meiner Enkelin am Bett gesessen. Da wurde mir noch mal mehr klar: Was den Verschickungskindern angetan wurde, darf sich nicht wiederholen.“
Gemeinsam mit den Teilnehmer:innen und mit musikalischer Unterstützung von Detlef setzte Janus Fröhlich ein kraftvolles Zeichen. Mit dem Höhner-Klassiker „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, sendete Fröhlich eine eindeutige Nachricht an das Land NRW und die Träger. Deren Versprechen, die Geschichte der Kinderkuren umfassend aufzuarbeiten und die Geschädigten tatkräftig zu unterstützen, müsse eingelöst werden. Die Aufarbeitung darf nicht ins Stocken geraten, und die Betroffenen dürfen nicht erneut allein gelassen werden.
Die Uhr tickt
Während die Täter bereits größtenteils verstorben sind, entstammen die meisten der Betroffenen von Kinderverschickung der sogenannten Babyboomer-Generation, also der Generation der zwischen 1950 und 1970 Geborenen. Viele von ihnen wünschen sich eine fortdauernde Unterstützung, um mit den Folgen der Kinderverschickungen besser zurechtzukommen. Sie fordern eine umfassende Aufarbeitung – auch und gerade mit Blick in die Zukunft. Denn nur wer sich der Fehler der Vergangenheit bewusst ist, weiß worauf er in der Zukunft achten muss, damit Kindern nie wieder so etwas angetan wird. Nun sind die Träger gefragt. Der Staat, die Wohlfahrtsverbände und Kirchen, die Ärztekammern und Versicherungsträger, auch die Privatwirtschaft – alle profitierten auf die ein oder andere Weise vom Kinderkurwesen. Deshalb stehen sie heute in der Verantwortung und müssen handeln: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Gestärkt in den Alltag: Impressionen vom Programm des 2. Begegnungstages
Die Begegnungstag bot auch wieder ein breites Angebot an Workshops. Alle Fotos von Michael Millgramm und Michaela Stricker.
Stress abbauen und entspannen. Das versprach und hielt der Tanz-Workshop mit Tobias Schneider.
Wie Betroffene ihre Vergangenheit erforschen können, zeigte Historikerin Carmen Behrendt in „Meine Geschichte recherchieren“. Der Zuspruch war gigantisch, die zweistündigen Workshops doppelt ausgebucht. Es gab jede Menge praktische Tipps: Wie bereite ich mich auf einen Archivbesuch vor? Wie dokumentiere und präsentiere ich die Recherchenergebnisse?
Wie kann ich belastendes Gedankenkreisen unterbrechen? Im Workshop „Raus aus der Grübelfalle“ zeigte CSP-Projektkoordinatorin Maria Dickmeis Atem und Bewegungsübungen, die negative Gedankenmuster unterbrechen können.
An der Kistentrommel ausprobieren, konnten sich die Teilnehmer:innen des „Cajón-Crashkurs“. Detlef Lichtrauter, ehemaliger Musikschullehrer, zeigte seinen „Hochbegabten“, wie er sie nach dem Kurs liebevoll nannte, die Vielfalt und Einfachheit des Instruments. Zum Abschluss des Begegnungstages präsentierten die Teilnehmer:innen ihr Talent auf der großen Bühne.
„Finde deine Stimme!“ Mit diesem Slogan lud Sängerin Inge Lüttkenhorst ein, die Kraft der eigenen Stimme und den Spaß am Singen zu entdecken. Mit Körper-, Atemübungen, mehrstimmigem Gesang und Leidenschaft, begeisterte Inge Ihre Teilnehmer:innen.
Im Workshop „Lesung mit Schreibimpuls“ las Gudrun Güth, Autorin und selbst Verschickungskind, aus ihrem neuen Roman „Irrlichter“.
Mit anschließenden Schreibübungen motivierte sie die Teilnehmenden, auch ihre eigenen Erlebnisse literarisch aufzuarbeiten.
„Kochen – Entspannen – Genießen“. Wie das geht, zeigte Dietmar Schmitz. Der leidenschaftliche Hobbykoch rührte und knetete mit den Teilnehmer:innen Kuchen und leckere Brötchen für die Community, die so verführerisch dufteten, dass die vollen Bleche leer waren, bevor sie den Veranstaltungssaal erreicht hatten. Ein kulinarisches Highlight!
„Bis hierhin und nicht weiter“. Wie man gesunde Grenzen zieht und sich vor Überforderung schützt, konnten die Teilnehmer:innen kreativ mit der Berliner Gestalt-Trainerin und Zen-Meditationslehrerin Birgit Schönberger ausprobieren.
Am Nachmittag ging es bei Birgit mit Achtsamkeitsübungen und Inseln der Selbstfürsorge im Alltag um „Entspannt im Hier und Jetzt“. Ein kraftvolles Doppelangebot!
Joachim Desens hatte eingeladen zum „Persönlichen Kennenlernen für alle Aprather“. So konnten sich endlich einige der ehemaligen Verschickungskinder der Kinderheilanstalt Aprath persönlich kennenlernen und intensiv austauschen.
Berührende Kinderportraits prägten den Veranstaltungssaal in Dorsten. Die Kunstausstellung von Heidi Zimmer war ein Highlight. Ihre Bilder zeigten die Verletzlichkeit und Stärke von Kindern. In den Kindergesichtern spiegelten sich Trauer und Wut, aber auch eine große Würde und die Kraft, sich zur Wehr zu setzen. Heidis begleitenden Worte und Texte in Dorsten berührten tief.
Neben Workshops und Kunst gab es auch die Möglichkeit zu Einzelgesprächen mit therapeutisch ausgebildeten ehemaligen Betroffenen. Die Resonanz war groß. Viele nahmen das Angebot an, um über ihre Erlebnisse zu sprechen, manche taten das zum ersten Mal.
Barbara Seppi ermöglichte mit einer Stadtführung tiefe und besondere Einblicke in die bewegte Geschichte der Stadt Dorsten. Sie begeisterte die Teilnehmenden mit ihrer lebendigen Erzählung und ihren vielen Geschichten.
Impressionen vom Begegnungstag 2024
Einträge aus dem Gästebuch 2024
“Es war die beste Tagesveranstaltung, die ich je erlebt habe.”
“Ich komme bestimmt nächstes Jahr wieder und gehe ganz erfüllt nach Hause.’”
“Lieber Detlef ich danke dir und deinem Team nochmal ganz herzlich für die liebevolle und vielseitige Gestaltung des heutigen Tages. Es war zu spüren mit wieviel Liebe und den vielseitigen Möglichkeiten ihr den Tag geplant und durchgeführt habt.”
“Der Tag hat mir viel Freude gebracht.”
“Mein 1. Mal heute in Dorsten. Bin überwältigt von allem… Die Workshops, das schöne Ambiente, die Freundlichkeit – einfach alles.”
“Der Zusammenhalt und der Team-Gedanke sind überall zu spüren.”
“Es war ein toller Begegnungstag gewesen!!”
“Ich bin noch ganz im Gedankengewebe über den wunderbaren gestrigen Tag mit Gleichgesinnten. Du und alle anderen Mitwirkenden haben einen sehr schönen liebevollen Tag für uns kreiert. Danke dafür….Auf jeden Fall wird das Erlebte noch eine Zeit nachwirken und ich freue mich schon auf die nächste Gelegenheit bei einem Treffen dabei zu sein.”
“Ich freue mich schon sehr auf den 3. Begegnungstag 2025 und sage von ganzem Herzen Danke.”
“Nochmals herzlichen Dank für diesen wunderschönen Tag gestern in Dorsten . An alle die diesen tollen Tag gestaltet haben und ihn wieder unvergesslich gemacht haben.
Danke danke danke.”
“Die vielen ehrenamtlichen Helfer und Organisatoren und auch Sponsoren haben den heutigen Tag zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht.”
“Der Auftritt von Janus Fröhlich war der Hammer!”
“Wir können noch viel erreichen.”
“Hoffe sehr, das alles so weitergeht”