Exklusiv für den AKV NRW beleuchtet das LVR-Archiv die archivfachliche Seite der Aufarbeitung: Was geschieht mit Akten in Behörden? Wann werden sie archiviert – und wann leider vernichtet? Und was bedeutet das für Betroffene, die heute Antworten suchen? Dieser Beitrag möchte Hintergründe liefern und gleichzeitig Mut machen, die Recherche dennoch anzugehen.
Ein Beitrag des LVR- Archivberatungs- und Fortbildungszentrums / Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR)
Um die Geschichte der Kinderverschickung aufarbeiten zu können, ist es unabdingbar, dass Archive, Betroffene und Wissenschaftler*innen gut zusammenarbeiten. Die Herangehensweisen und Erwartungen mögen sicherlich sehr verschieden sein, das Ziel, die Aufarbeitung voranzutreiben, verbindet jedoch alle gleichermaßen. Auf Seiten der Archive hat seit Beginn der Bewegung bereits ein Umdenken eingesetzt, und es wurden einige groß angelegte Projekte realisiert, Informationsmaterial auf diversen Internetseiten wie etwa der des LWL-Archivamtes bereitgestellt und gemeinsame Fachtagungen organisiert. Aus archivfachlicher Perspektive sind dies bereits große Fortschritte, doch bleiben gerade für die Betroffenen weiterhin viele Fragen offen – insbesondere was die Aufarbeitung von Einzelfällen und die Suche nach möglichen Verantwortlichen betrifft. Dies liegt vor allem daran, dass zum Teil keine Quellen (mehr) vorhanden sind. Doch woran liegt das? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst ein Blick auf den Weg der Akten von der Behörde bis zum Archiv werfen.
Von der Registratur ins Archiv: Grundsätzliches zur Aktenüberlieferung und -archivierung
In allen Behörden entstehen in der täglichen Arbeit Akten. Nehmen wir ein Beispiel: Die Mitarbeitenden einer Behörde organisieren die Busfahrt einer Kindergruppe in ein Kurerholungsheim. Dabei entstehen verschiedene Schriftstücke. Diese werden gemeinsam in einem Vorgang oder in einer Akte zusammengefasst. Wenn die Mitarbeitenden ihre Aufgaben abgeschlossen haben, schließen sie den Vorgang oder die Akte und geben die entsprechenden Unterlagen in die Registratur (Altaktenlager in der Behörde). Dort müssen die Akten für eine gesetzlich vorgeschriebene Dauer aufbewahrt werden. Die Fristen für die Aufbewahrung können sehr unterschiedlich sein. Sie sind entweder gesetzlich vorgegeben oder werden durch die Aktenordnung der Behörde bestimmt. Das meiste Schriftgut hat eine Aufbewahrungsfrist von 10 Jahren. Seltener sind Aufbewahrungsfristen von 20, 30 oder mehr Jahren. Sie gelten zum Beispiel für Adoptionsunterlagen. Diese müssen nach der Geburt des adoptierten Kindes 100 Jahre aufbewahrt werden. Für Unterlagen zur Kinderverschickung gilt dagegen in der Regel die 10-Jahres-Frist. Nach Ablauf dieser Frist muss die Behörde ihre Akten dem für sie zuständigen Archiv anbieten. Das nennt man Anbietungspflicht. Die Anbietungspflicht wird in Nordrhein-Westfalen im Archivgesetz NRW geregelt. Sie gilt jedoch nur für öffentliche (staatliche und kommunale) Archive. Ähnliche Regelungen gibt es auch für kirchliche Archive.
Private Trägereinrichtungen unterliegen allerdings keiner Pflicht zur Anbietung ihrer Unterlagen. Sie können frei darüber entscheiden, ob sie ihre Unterlagen vernichten, an ein Archiv abgeben oder ein eigenes Archiv einrichten. Viele Kindererholungs- und -kurheime waren in privater Trägerschaft und mussten die Unterlagen daher nicht anbieten. Hinzu kommt, dass für kleinere private Akteure wie private Vereine kein öffentliches Archiv zuständig ist. Sie sind auch nicht verpflichtet, ein eigenes Archiv zu unterhalten. Daher wurden ihre Unterlagen oft nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen vernichtet, sofern diese Einrichtungen nicht die Möglichkeit nutzten, ihre Unterlagen auf freiwilliger Basis Archiven Dritter anzubieten.
Damit ist ein großer Teil der Akten für die Nachwelt verloren gegangen. Dahinter ist jedoch in der Regel keine böse Absicht zu vermuten, vielmehr wurde der Informationsgehalt der Unterlagen oftmals als gering eingestuft, weil es an dem inzwischen vorhandenen Problembewusstsein fehlte.
Auch wenn die Überlieferungssituation bei privatgeführten Kindererholungs- und -kurheimen also wesentlich schlechter ist als bei öffentlichen Trägern, gab es auch für das öffentliche Archivwesen erst verhältnismäßig spät rechtlich bindende Regelungen. Das Archivgesetz NRW gibt es erst seit dem 16. Mai 1989, und auch ein übergreifendes Bundesarchivgesetz wurde erst 1988 verabschiedet. Zuvor hatten auch öffentliche Archive keine Handhabe, Akten von Behörden einzufordern, sodass viele Unterlagen vernichtet wurden, die für die Erfüllung der Aufgaben nicht mehr benötigt wurden. Auch heute ist nicht in allen Behörden bekannt, dass eine Anbietungspflicht besteht, daher kommt es leider gelegentlich noch immer vor, dass Akten ohne Beteiligung der zuständigen Archive vernichtet werden.
Übernahme der Akten ins Archiv
Erfolgt die Anbietung von Unterlagen an ein Archiv, muss dort entschieden werden, was davon als Archivgut zur dauerhaften Aufbewahrung übernommen werden soll. In der Regel werden etwa 3 bis 5 % der Unterlagen (vor allem Akten) übernommen. Im staatlichen Bereich sind teilweise noch niedrigere Quoten vorgegeben. Ziel der Überlieferungsbildung ist immer ein möglichst repräsentatives Bild der Behörde, der Kommune, des Landes usw. abzubilden. Bei der Auswahl der Unterlagen für das Archiv spielt eine wichtige Rolle, welche Unterlagen für die Forschung und die historische oder rechtliche Aufarbeitung wichtig sein könnten. Dabei besteht natürlich das Problem, dass in Zukunft wichtige Themen zum Zeitpunkt der Übernahme in das Archiv teilweise noch nicht als solche erkannt werden. Bedauerlicherweise ist dies auch im Bereich der Kindererholungsheime der Fall gewesen. Die Vorfälle in diesem Bereich und die Dramatik der Ereignisse wurden erst nachwirkend bekannt.
Einem öffentlichen Archiv werden nur die Unterlagen angeboten, die in der dazugehörigen Kommune, Behörde usw. entstanden sind. Da bei der Kinderverschickung sehr viele Akteure beteiligt waren, kann die Überlieferung auch auf viele Archive verteilt sein. Wenn zum Beispiel zwei unterschiedliche Behörden für die Organisation der Verpflegung und die Organisation der Fahrten zuständig waren, kann es sogar sein, dass sich die Unterlagen zu einem Kurheim in zwei oder mehr Archiven befinden.
Die Archive der Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) werden erste Überlegungen zur Entwicklung eines gemeinsamen Konzepts angestellt, um diese Überlieferungslücken so gut es geht zu schließen. Dies setzt aber das Interesse und die Bereitschaft der privaten Institutionen an der Archivierung dieser Unterlagen voraus. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht jedoch noch weitgehende Unklarheit darüber, ob bzw. welche Akten überhaupt noch vorhanden sind. Aktenvernichtungen aus der Vergangenheit können dadurch natürlich nicht ungeschehen gemacht werden, doch versuchen Archive und Behörden heute aufgrund der Sensibilisierung für die Schicksale der Verschickungskinder, Überlieferunglücken zu schließen.

Lohnt sich für Betroffene eine Suche?
Auf jeden Fall! Aber erwarten Sie nicht allzu viel. Einerseits wurde Vieles vernichtet. Andererseits wurde Vieles niemals schriftlich in den Akten festgehalten, sodass es die Quellen, die Sie heute suchen, möglicherweise nie gegeben hat. Im Rahmen der Verschickung in Kinderkurheime entstanden aufgrund der verhältnismäßig kurzen Aufenthaltsdauer deutlich weniger Unterlagen zu den einzelnen Kindern als in anderen Bereichen der Jugendfürsorge, wie etwa klassischen Kinderheimen. So waren die Aufenthalte in den Kinderkurheimen zum Beispiel nicht bei den zuständigen Meldeämtern anzeigepflichtig, sodass Melderegister als Quelle oftmals ausscheiden. Dennoch finden sich von Fall zu Fall immer wieder Quellen auch zu einzelnen Aufenthalten und einzelnen Kindern; es gilt also: Fragen Sie nach!
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass an der Kinderverschickung viele Akteure beteiligt waren und es deshalb zunächst schwierig ist zu entscheiden, in welchem Archiv man zuerst beginnen soll, nach Informationen zu suchen. Doch die mögliche breite Streuung von Unterlagen auf viele Archive bietet auch eine höhere Chance, fündig zu werden. So können Unterlagen bei den Jugendämtern, Krankenkassen, Versicherungen, Heimträgern oder Gesundheitsämtern entstanden und überliefert worden sein. Die Recherche sollte sich also nicht auf die zuständigen Archive beschränken. Oft lohnt es sich auch bei den ursprünglich zuständigen Behörden anzufragen, denn nicht selten liegen Unterlagen länger in Behörden als zu vermuten wäre.
Lassen Sie sich von den Hürden nicht entmutigen. Wie gehen Sie hierbei am besten vor?
Beantworten Sie sich selbst so viele W-Fragen, wie möglich und das am besten, bevor Sie eine Anfrage an eine Behörde oder ein Archiv stellen:
- Wann und wo waren Sie in einem Kurheim?
- Wissen Sie, in welchem Heim Sie untergebracht waren?
- Wo hatten Sie Ihren regulären Wohnsitz zu der Zeit?
- Sollten Ihnen diese Informationen nicht bekannt sein: Fragen Sie, wenn möglich, andere Beteiligte wie Eltern oder Geschwister. Ist möglicherweise Ihre damalige Krankenkasse noch bekannt oder die Ihrer Eltern? Erinnern Sie sich an markante Details oder Namen? Alle Informationen können hilfreich sein.
- Durchsuchen Sie das Internet nach dem Heim. Können Sie herausfinden, in welchem Landkreis es lag oder wer Träger des Heimes war? Beides sind sehr gute Ansatzpunkte. Wenden Sie sich an das entsprechende Trägerarchiv oder das Kreisarchiv. In manchen Fällen gibt es kein Kreisarchiv, dann wenden Sie sich am besten an das übergeordnete Archiv, also in den meisten Fällen das Landesarchiv des Bundeslandes, in dem das Heim lag. Wenn Sie bereits wissen, in welcher Gemeinde oder Kommune das Heim angesiedelt war, können Sie sich zudem an das entsprechende Gemeinde- oder Stadtarchiv wenden.
- Wenn Sie keine weiteren Informationen zu Ihrer Unterbringung haben, versuchen Sie so genau wie möglich herauszufinden, wo sie vermutlich untergebracht wurden (Ort) oder nennen Sie dem Archiv Ihren damaligen Hauptwohnsitz.
Viele Archive stellen bereits sogenannte Findmittel online zur Verfügung. Darin können Sie suchen, bevor Sie eine Anfrage stellen. Es sind jedoch meistens nicht alle Bestände eines Archivs online durchsuchbar. Falls Sie nicht fündig werden, sollten Sie also trotzdem Kontakt mit dem Archiv aufnehmen. In den letzten Jahren informieren zudem immer mehr Archive gezielt zu den in ihren Beständen vorkommenden Akten zum Thema Kinderverschickung.
So zum Beispiel auch in dem Portal Archive NRW. Hier finden Sie für den Raum NRW auch eine Übersicht, welche Archive es überhaupt gibt. Nutzen Sie auch die bestehenden Foren und Möglichkeiten zur Vernetzung.
Wenn Sie diese Vorarbeit geleistet haben, schicken Sie eine Anfrage an das entsprechende Archiv.
Um erfolgreich sein zu können, brauchen die Kolleg*innen so konkrete Informationen wie möglich. Machen Sie also so viele Angaben wie Sie können, mindestens aber Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum und wonach genau Sie suchen. Die Suche nach „einem Heim in NRW in den 1970er-Jahren“ ist zum Beispiel sehr viel schwieriger zu bearbeiten, als eine Suche nach „Heimaufsichtsakten über katholische Heime im Raum Köln“. Aber keine Sorge, sollten den Kolleginnen und Kollegen Informationen fehlen, werden Sie danach fragen. Haben Sie etwas Nachsicht, wenn viele Fragen gestellt werden, sich Auskünfte und Hinweise eventuell doppeln oder eine Antwort etwas länger dauert. Die Recherchen sind meist aufwendig und die Kolleg*innen wissen auch nicht, mit wem Sie vorab schon in Kontakt standen – auch diese Angaben zu vorangegangenen Recherchen können für ein Archiv hilfreich sein, um Sie nicht „im Kreis laufen zu lassen“. Schreiben Sie es im Zweifel gerne dazu. Sie erinnern sich an konkrete Namen oder Details, aber nicht an den größeren Zusammenhang? Auch diese Informationen können helfen. Archivar*innen unterliegen einer Schweigepflicht, Ihre Angaben werden also in jedem Fall vertraulich behandelt.
Scheuen Sie nicht, nach möglichen anderen Anlaufstellen zu fragen, die Kolleg*innen haben in der Regel einen besseren Überblick darüber, welche Akten wo verwahrt werden, als außenstehende Personen.
Dokumentieren Sie Ihre Recherchen gut. Je nachdem, mit wie vielen Archiven Sie schreiben, kann es schnell unübersichtlich werden. Halten Sie sich bereit, Rückfragen zu beantworten und seien Sie geduldig. In der Regel werden Sie eine Antwort vom Archiv erhalten, auch wenn dort keine Akten zu Ihrem Anliegen bewahrt werden.
Akteneinsicht und Archivnutzung: Auch das ist geregelt
Auch wenn passende Akten gefunden werden, kann es sein, dass Sie diese nur unter Auflagen oder eingeschränkt, teilweise auch gar nicht einsehen dürfen. Dies kann frustrierend sein, aber dient nicht dazu, Ihnen unnötige Steine in den Weg zu legen. Genauso wie die Archivierung von Akten gesetzlich geregelt ist, ist die Nutzung von Archivgut ebenfalls mit Auflagen versehen. Im Archivgesetz NRW sind Zugangsmöglichkeiten und Beschränkungen festgeschrieben, an welche die Archive gebunden sind. Insbesondere personenbezogenes Archivgut ist verhältnismäßig schwer zugänglich, da die hierin enthaltenen Daten besonders schützenswert sind. Hier gelten Schutzfristen von 10 Jahren nach dem Tod oder 100 Jahren nach Geburt einer Person. Ist beides nicht bekannt, so gilt eine Frist von 60 Jahren nach Entstehung der Akte. Diese Fristen können auf Antrag gegebenenfalls verkürzt werden, werden aber aufgrund des Zeitrahmens der Kinderverschickung in den meisten Fällen eine Rolle spielen. Und auch wenn das Schriftgut keinen Schutzfristen mehr unterliegt, können noch weitere, personenbezogene Auflagen eine Rolle spielen. Zum Beispiel um betroffene dritte Personen in den Akten wie andere Verschickungskinder zu schützen.
Wenn Sie für sich selbst recherchieren, kann es eventuell notwendig werden, Ihre Geburtsurkunde oder einen Ausweis vorzulegen oder, wenn Sie für andere recherchieren, eine Erlaubnis über die Einsichtnahme bei lebenden Personen oder Sterbeurkunde und einen Verwandtschaftsnachweis bei verstorbenen Personen. Abschließend gilt also: Je besser Sie vorbereitet sind, desto reibungsloser und eventuell erfolgreicher läuft die Recherche nach Akten zur Kinderverschickung und ihre spätere Nutzung ab. Dieser Leitfaden soll Ihnen den Einstieg in die Recherche erleichtern, kann aber eine persönliche Beratung nicht ersetzten. Bitten Sie gerne Ihren Archivar/ Ihre Archivarin um Unterstützung. Wir wünschen viel Erfolg bei Ihrer Recherche!

Weiterführende Informationen:
Sehr detaillierte und hilfreiche Recherchehinweise hat bereits Dr. Stefan Schröder, LWL-Archivamt für Westfalen ausformuliert.
https://archivamt.hypotheses.org/files/2022/09/VortragSchroeder_Schwierigkeiten_der_Recherche.pdf
https://archivamt.hypotheses.org/17225
Auch das Landesarchiv Baden-Württemberg stellt viele Hilfen zur Verfügung. Diese lassen sich auch auf Recherchen in anderen Bundesländern übertragen.
https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/77584/Hinweise_Heimkindheiten.pdf
https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/Recherchefuehrer_Projekt_Kinderverschickung.pdf
https://www.landesarchiv-bw.de/de/recherche/rechercheratgeber/77422
Oder nutzen Sie Möglichkeiten zur Vernetzung in NRW oder das Angebot eines Recherche-Coachings der AKV-NRW