Zurück nach Juist: Reisebericht eines ehemaligen Verschickungskinds

Im Herbst 2024 macht sich Nicola Kirchner auf den Weg zu ihrem Verschickungsort. Fast 50 Jahre lang konnte sie nicht über ihre Erlebnisse auf der Nordseeinsel Juist sprechen. Wie sie ihre Reise in die Vergangenheit erlebt hat und wie sie ihren Erinnerungen den Schrecken nehmen konnte, berichtet sie für uns hier.
Ein Reisebericht von Nicola Kirchner 

26.11.24
Heute habe ich einen Anruf vom Inselmuseum Juist bekommen. Es werden Unterlagen für eine Sonderausstellung zum Thema Kinderverschickung benötigt. Jetzt hat es mich gepackt! Ich habe das Gefühl, ich muss nach Juist! An den Ort des Schreckens, ich muss loslassen und all die Qualen und die unendlich schrecklichen Gedanken der furchtbaren Zeit verarbeiten. Die Erinnerungen kommen und gehen lassen. Ich wurde 1975 im Alter von gerade sechs Jahren, kurz vor der Einschulung, verschickt. Ich konnte noch nicht lesen und schreiben. Alleine im Zug von Münster nach Juist, ohne Freunde, mit unglaublichem Heimweh und der Sorge, nie wieder nach Hause zu kommen. 

Wie vielen anderen Verschickungskindern erging es mir damals sehr schlecht. Essenszwang, Erbrochenes wieder aufnehmen, Liegekuren, schlechte Heimluft, enge Gitterbetten, Redeverbot und eiskalte Duschen waren an der Tagesordnung. Einmal die Woche musste ich zum Arzt, mich nackt ausziehen und wiegen lassen – das war so beschämend. Direkt nach der Ankunft mit dem Zug und Schiff auf Juist mussten wir alle persönlichen Sachen, die unsere Eltern uns liebevoll eingepackt hatten, abgeben. Wir hatten nichts! Nicht einmal meinen Kuschelbären durfte ich behalten. Nachts musste ich mit nackten Füßen in einer dunklen Besenkammer stehen, weil ich angeblich versucht hatte, mit meiner Bettnachbarin zu sprechen. Es waren die schlimmsten sechs Wochen meines Lebens. So etwas darf nie wieder passieren!

Freitag, 29.11.24
Es ist soweit. Mein Mann und ich fahren nach Juist – an den Ort des Schreckens, fast 50 Jahre später.

Wie wird es mir dort gehen?
Erkenne ich etwas wieder?
Wie werde ich mit der Situation umgehen?
Was sagt das Inselmuseum?
Was ist anders als damals?

Heute bin ich erwachsen. Ich kann nein sagen. Ich kann gehen, wann immer ich möchte. Ich habe meinen Mann an meiner Seite. Ich habe große Füße und bin nicht mehr klein und hilflos! Am Samstagnachmittag werde ich alles dem Inselmuseum überlassen. Ich werde mich umsehen, Fotos und Berichte entdecken. Meine Unterlagen werde ich abgeben, über meine Erlebnisse berichten und meinen Teddy abgeben. Nach fast 50 Jahren reist er ein zweites Mal nach Juist, bleibt aber im Koffer. Das Geisterschiff vor Juist sollte mich für immer verschwinden lassen. Mein Teddy konnte mir damals keinen Trost spenden – ich hatte nur meinen Daumen, den ich lutschen konnte, begleitet von der Angst, nie wieder nach Hause zu kommen. Diese schlimme Erinnerung muss ich jetzt loslassen. 

Früh morgens um 6 Uhr geht es los – voller Erwartung und Aufregung. Mein Herz pocht. Ich bin so froh, dass mein Mann mich auf diese Reise begleitet! Wir haben bewusst einen anderen Weg gewählt: nicht mit dem Zug und dem Schiff wie damals, sondern mit dem Auto und dem Flugzeug. Alles soll anders sein als damals. Ich bin jetzt erwachsen! Am frühen Morgen am Flugplatz angekommen, ist alles ruhig und friedlich. Die Sonne geht auf, und ein leichter Nebel löst sich langsam auf. Nach einem kurzen Flug landen wir auf Juist und werden von einer Rikscha abgeholt. Es ist eiskalt, aber die Sonne scheint. Die Dünenlandschaft ist wunderschön. Wir sehen Fasane, Hasen und Rehe.

Angekommen auf Juist: Nicola Kirchner mit ihrem Mann.

Im Dorf angekommen, schießt plötzlich ein Gefühl wie ein Pfeil durch meinen Körper. Ich glaube, mein altes Kurhaus entdeckt zu haben: Ein großes weißes Haus mit einem Vorbau. Die Erinnerungen kommen näher! Ein unglaubliches Gefühl aus Unruhe, Angst und Neugier entwickelt sich. Nach einem kurzen Frühstück im Hotel muss ich los. Die Insel entdecken. Das Haus des Schreckens finden. Schon bei dem Gedanken fließen Tränen. Ich gehe die Straße hinunter, dann links zu dem Haus, das ich meinte wiederzuerkennen. Doch direkt vor mir wird klar: Das ist nicht das Haus, in dem ich sechs Wochen Qualen ertragen musste. Es liegt eine Straße weiter. 

Nicola vor dem Mädchenhaus

Eine Straße weiter, in der Carl-Stegmann-Straße Nr. 3, steht das Mädchenhaus. Nun stehe ich vor dem Haus des Schreckens. Ich erkenne meinen Schlafsaal, den Speisesaal, wo ich immer zum Kakao eine kleine braune Tablette nehmen musste, und die Besenkammer. Ich kann nicht mehr sprechen, die Tränen fließen, und es schaudert mich. Die Turnhalle wurde abgerissen, das Mädchenhaus renoviert, und Ferienwohnungen sind entstanden. Ich schaue immer wieder hoch zum Haus des Schreckens. Ich atme tief ein und aus.

 

Im Jungenhaus in der Carl-Stegmann-Str. 21 befinden sich heute Luxuswohnungen. Es ist mir so eingeprägt, weil wir Verschickungskinder dort immer entlanglaufen mussten, Hand in Hand oder am Seil, bis zum Strand. Den alten Bahnhof neben dem Haus gibt es nicht mehr.

Die Hausnr. 21 heute
Das Kinderheim der Stadt Münster (Jungenhaus)

Nach einem Strandspaziergang und viel frischer Luft geht es mir besser. Die alte Baracke am Strand, in der die Sandspielzeuge untergebracht waren, existiert nicht mehr. Nach einer kleinen Blumenkohlsuppe und einem Glas Rotwein konnte ich einiges „sacken“ lassen.

Spruch des Tages im Hotel:
„Immer die Wahrheit sagen bringt einem wahrscheinlich nicht viele Freunde, aber dafür die Richtigen!“

30.11.24
Spruch des Tages im Hotel:
„Zur größeren Klarheit über seine Gedanken gelangt man, indem man sie anderen klarzumachen versucht.“

Nach dem Frühstück geht es wieder los. Noch einmal zum Haus des Schreckens Nr. 3 und später ins Inselmuseum. Ich bin gespannt und voller Aufregung!

Ich stehe wieder wie gelähmt vor dem Haus und mache viele Fotos.

Ich habe die Besenkammer entdeckt, in der ich mit nackten Füßen im dünnen Nachthemd die halbe Nacht verbringen musste. Die Tränen kommen wieder, meine Stimme versagt.

Nach einem ca. 30-minütigen Spaziergang bei sonnigem, kaltem Wind erreichen wir endlich das Inselmuseum.

Nicolas Erinnerungsstücke, die sie dem Inselmuseum übergeben möchte.

Wir werden freundlich empfangen. Herr Schlott vertritt Hauptamtsleiterin Sabine Weers. Mit großem Interesse höre ich ihm zu, erzähle kurz meine Geschichte und zeige alle Unterlagen.

Nicola im Gespräch mit Museumsmitarbeiter Torsten Schlott

Ich übergebe den Koffer, meinen Teddy, die Unterlagen, eine Muscheldose und die Fotos. Es ist ein Akt des Loslassens.

Kurz vor unserer Reise nach Juist habe ich im alten Fotoalbum meiner Mutter Fotos entdeckt, die belegen, dass sie 1954 im Alter von 13 Jahren in das gleiche Haus verschickt worden war.

Nicolas Mutter

Es war ein Schock, als ich das Album durchstöberte. Wie konnte eine Mutter ihrem Kind dasselbe antun? Meine Eltern waren beide berufstätig, und ich wurde von meinen Großeltern großgezogen. Meine sieben Jahre ältere Schwester sagte, als ich sie mit dem Thema konfrontierte, nur: „Ach ja, du warst ja sechs Wochen zur Kur. Danach warst du ganz komisch, hast nicht mehr gesprochen und noch weniger gegessen.“ Mein Vater, heute 90 Jahre alt, sagt: „Das war damals eben so.“ Ich kam in einem schlechteren Zustand zurück, als ich hingeschickt wurde. Ich habe nur noch geschrien. Eine homöopathische Behandlung sollte mir damals geholfen haben. Nachts hatte ich Albträume – ich dachte, ich hätte Flügel und könne die Treppe hinunterfliegen.

Im Inselmuseum entdecke ich interessante Berichte und Fotos. Dann gehe ich an die frische Luft. Loslassen.

1.12.24
Spruch des Tages im Hotel:
„Ein Original ist heute, wer zuerst gestohlen hat.“

Nach dem Frühstück machen wir einen großen Strandspaziergang. Ich male das Haus des Schreckens, Nr. 3, in den Sand. Einige Muscheln sammle ich zur Erinnerung an Juist. Vor fast 50 Jahren durfte ich keine mit nach Hause nehmen – keine, um mich an die wenigen schönen Momente oder auch die schwere Zeit 1975 zu erinnern.

Ein letztes Mal gehe ich zum Haus Nr. 3. Ich halte inne, blicke auf das Gebäude und atme tief ein. Ich versuche, die unglaubliche Ohnmacht und Schwere loszulassen. Heute bin ich groß. Ich kann gehen, wann immer ich möchte. Die große Macht des Hauses Nr. 3 soll verschwinden. Es ist nicht mehr so groß und grau wie damals. Jetzt beherbergt es schöne Ferienwohnungen, und momentan ist es unbewohnt, bis die nächsten Gäste kommen.

Ich muss loslassen. Die traumatischen Erlebnisse werden immer bleiben, doch es ist so wichtig, dass wir Verschickungskinder darüber berichten!

Fast 50 Jahre lang konnte ich nicht darüber sprechen. Ich dachte, ich wäre allein mit meinen Erlebnissen, dass nur mir so etwas widerfahren wäre. Vielleicht sei ich zu sensibel. Doch dann sah ich vor zwei Jahren zufällig einen Fernsehbericht – eine Reportage über Verschickungskinder. Ich war wie versteinert. Nun habe ich meine Geschichte aufgearbeitet und mich auf den Weg gemacht, um loszulassen und zu verarbeiten.

Ich möchte allen ehemaligen Verschickungskindern, die Ähnliches erlebt haben, Mut und Kraft zusprechen. Redet darüber! Wir haben keine Schuld. Wir wurden unschuldig in diese Situation gebracht. Viele von uns sind psychisch und physisch krank nach so vielen Jahren des Schweigens. Uns wurde verboten, zu reden. So etwas darf nie wieder passieren!

Bei schönstem Wetter werden wir von einer Rikscha abgeholt. Noch einmal fahren wir durch das Dorf und schauen uns die Häuser an. Dann werden wir zum Flugplatz gebracht, wo ich noch einmal die Insel Juist von oben sehe – und das Haus des Schreckens Nr. 3 von 1975. Dieses Wochenende war für mich unglaublich emotional und erfolgreich. Ich muss jetzt loslassen.

Ein großer Dank an meinen Mann, der mich begleitet hat. Alleine hätte ich das nicht geschafft. Danke an das Inselmuseum – ohne diesen Anlass hätte ich mich wohl nie auf den Weg gemacht. Und ein besonderer Dank an Detlef Lichtrauter, der mich ermutigt hat, diesen Reisebericht zu schreiben!

Alle Fotos: Nicola Kirchner

Das Inselmuseum Juist sucht weiterhin Zeitzeug:innen zur Kinderkurgeschichte der Insel. Bitte meldet Euch unter projekt@akv-nrw.de mit dem Betreff: Juist.

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