Annette Altiok und Alexandra teilen ein Schicksal, das sie bis heute begleitet. Als Kinder wurden sie in das ehemalige Kurheim „Seehospiz“ verschickt – einen Ort, der für sie nicht Erholung, sondern Angst, Schmerz und Leid bedeutete. Jahrzehntelang wagten sie es nicht, zurückzukehren. Doch im April 2024 traten sie gemeinsam die Reise in ihre Vergangenheit an – zurück nach Norderney, zurück zu den Gebäuden, die noch immer stehen, nun als „Seeklinik“ bekannt.
Wie war es, an diesen Ort zurückzukehren? Welche Erinnerungen kamen hoch? Und was bedeutet dieser Schritt für ihre Heilung?
In diesem bewegenden Podcast erzählen Annette und Alexandra von ihrer Rückkehr an den Ort, der ihre Kindheit überschattete – und wie sie heute mit ihrer Vergangenheit leben. Hört ihre Geschichte.


Hier könnt ihr den Podcast anhören:
Kommentar & Forderung von Annette Altiok und Alexandra
Aus unserem 4-tägigen Aufenthalt auf der Ostfriesischen Insel Norderney in der Zeit vom 17.4. – 21.4.2024 mit dem Besuch unseres ehemaligen Kurheims „Seehospiz Kaiserin Friedrich“, jetzt „Seeklinik Norderney“, möchten wir noch explizit 3 Schlussfolgerungen ziehen:
Die Begegnung und quasi physische und materielle Konfrontation mit der Vergangenheit – auch wenn sie schon Jahrzehnte zurückliegt –
ist ein aufwühlender, aber auch hilfreicher Prozess, der möglichst nicht alleine, sondern in Begleitung von mindestens eine:r andere:n
Leidensgenossen:in durchlebt werden sollte.
Die Ortsbegehung des ehemaligen Kurheims, das anschließend geführte Gespräch mit einem empathischen Gegenüber (Geschäftsführer) und die Einordnung des Geschehenen mit einem anderen „Kurkind“ ist eine zwar schmerzhafte, aber auch reinigende Erfahrung gewesen, die uns die damaligen fürchterlichen Geschehnisse besser einordnen und verarbeiten lässt.
Es ist ein Wechsel der Erinnerungen von „schwarz-weiß“ auf „bunt“, der uns als Betroffene innerlich wachsen lässt.
Aus diesen 4 Tagen intensiver Auseinandersetzung mit allen Schrecken der Kinderkurzeit im Seehospiz leiten wir aber auch klar 2 Forderungen ab:
Unsere Forderungen
1. Entfernung der Büste
Zum einen muss die Büste des langjährigen medizinischen Leiters Professor Dr. Menger an exponierter Stelle im Badehaus der Insel Norderney entfernt werden!
Dieser Kinderarzt hat über Jahrzehnte (1957-1983) die ärztliche Verantwortung für kranke Kinder im Alter von anderthalb bis 12 Jahren gehabt. Aber nach unserem persönlichen Erleben und Berichten anderer Betroffener, hat er die seelische und pflegerische Versorgung der Kinder nicht ausreichend in den Blick genommen.
Das Spektrum der Verfehlungen reicht von täglichen Züchtigungen, Essenszwang, persönlichen Demütigungen, fragwürdigen, teils grausamen Kälteanwendungen zur angeblichen Abhärtung, übergriffigem Handeln gegenüber dem persönlichen Besitz der Kinder (wie z.B. Kuscheltiere der Kinder wurden konfisziert und der Inhalt der von den Eltern geschickten Postsendungen
nicht vollumfänglich oder gar nicht weitergegeben) bis hin zu dem begründeten Verdacht von verbotenen Medikamentengaben.
Diese Verfehlungen liegen entweder in der direkten medizinischen oder in der übergeordneten Verantwortung von Professor Menger als Klinikleiter.

2. Würdigung des Leids durch Gedenkstele
Zum anderen muss das Leid der Kurkinder in sämtlichen Kinderkurheimen auf Norderney (insgesamt 41!) mit einer Gedenkstele gewürdigt werden!
„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten“, sagte schon August Bebel. Er mahnte uns damit an, erlittenes Leid nicht zu vergessen, um damit begangenen Fehler nicht zu wiederholen.
Diese Stele muss an einem sichtbaren und prominenten Ort auf der Insel stehen, weil eben auch die Jahrzehnte des Kinderkurwesens zu Norderney gehören, das davon enorm wirtschaftlich profitiert hat.
Dieser Verantwortung muss Norderney sich in heutiger Zeit stellen!
Geschichte des Seehospiz
Das heutige „Seeklinik Norderney“ war ursprünglich das Seehospiz „Kaiserin Friedrich“, eine Einrichtung mit einer langen und bedeutenden Geschichte:
Gründung und Zweck
- Gründungsjahr: 1886
- Initiator: Der Mediziner Friedrich Wilhelm Beneke (1824–1882) aus Marburg, der die heilende Wirkung des Nordseeklimas für Kinder mit Skrofulose und Tuberkulose erforschte.
- Zweck: Das Seehospiz wurde als Kinderheilstätte für chronisch kranke Kinder gegründet, insbesondere zur Behandlung von Atemwegs- und Hauterkrankungen sowie Unterernährung und Tuberkulose.
Finanzierung und Bau
- Die Finanzierung erfolgte durch Spenden, eine Lotterie und einen Beitrag von Kaiser Wilhelm I., der 250.000 Mark bereitstellte.
Namensgebung
- Benannt wurde das Seehospiz nach Kaiserin Viktoria, die sich nach dem Tod ihres Mannes Kaiser Friedrich III. (1888) „Kaiserin Friedrich“ nannte. Der Name sollte ein Gedenk an ihren verstorbenen Gatten sein, der nach nur 99tägiger Regierungszeit verstorben war. Viktoria, Kaiserin Friedrich war Schirmherrin der Einrichtung.
Entwicklung und heutige Nutzung
- Ursprünglich als Kinderkrankenhaus konzipiert, entwickelte es sich über die Jahrzehnte zu einer Rehabilitationsklinik. Seit 1947 wird es vom Diakonissen-Mutterhaus „Kinderheil“ in Bad Harzburg betrieben.
- Von 1957 bis 1983 leitete Professor Dr. Menger das „Seehospiz“.
- 2014 wurde das „Seehospiz“ in „Seeklinik“ umbenannt.
- Heute ist es eine Rehabilitationsklinik für Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen. Mittlerweile werden die Kinder von den Eltern während der Kur begleitet.