Suche
Suche

26757 Borkum, 1955

Von Gott und der Welt verlassen

Von: M.N.

Name des Trägers: Stadt Essen
Verschickungsort: Borkum, Haus Ruhreck
Zeitpunkt der Verschickung: Juni 1955
Dauer der Verschickung: 6 Wochen

„Kuraufenthalt im Haus Ruhreck auf Borkum in 1955“ Ich war damals 8 Jahre alt, als ich nach Borkum verschickt wurde. Die Eltern waren überzeugt, das Richtige zu tun, da ich ein – typisch für das Ruhrgebiet – gesundheitlich etwas angeschlagenes, schmächtiges Kind war und ein Familienurlaub an der See oder in den Bergen für meine Eltern nicht zu leisten war. Was erwartete mich im Haus Ruhreck? Ich erinnere mich an 6 Wochen Mittagsschlaf – ohne nur einmal mittags eingeschlafen zu sein – , ich erinnere mich an schmucklose Schlafsäle mit Metallbetten, an das allmorgendliche Bettenbauen, wo ich immer vorgeführt wurde von unserer „Tante“, wie die betreuende Person zu nennen war. Die in einem Bezug eingelegten Decken waren bei mir immer verrutscht und ich schaffte es nicht, sie wieder richtig nach oben zu ziehen. So fing der Tag für mich (ich hatte das Gefühl, nur für mich) immer schon mit Schelte und Vorwürfen an, sehr zum Gaudi der anderen Kinder. Der Gerechtigkeit halber: es gab ein oder zweimal eine andere Betreuungsperson, die mich in Schutz nahm. Ich erinnere mich an kurze, zeitlich genau reglementierte Spaziergänge trotz herrlichen Wetters, ich erinnere mich nicht an freies Spielen und Toben im Freien. Unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist mir vor allem das Essen, die Mahlzeiten. Es gab häufig Milchsuppen, an sich nicht zu kritisieren. Aber wir wurden zum Essen gezwungen. Wie sie es schafften, einen solchen Druck aufzubauen, dass man es nicht wagte, den Nachschlag zu verweigern, weiß ich heute nicht mehr (denn, geschlagen wurden wir nicht). Die Folge war, dass ich, je länger der Heimaufenthalt voranschritt, mehrmals über den Tisch erbrochen habe. Man wurde dann an den Katzentisch gesetzt, für alle gut sichtbar. Beim wiederholten Mal wurde ich isoliert, d.h. In eine Kammer mit Pritsche gebracht und für den Rest des Tages eingesperrt. Die anderen Kinder meiner Gruppe machten an dem Tag den lange angekündigten Ausflug zum „Muschelstrand“, um für zu Hause Muscheln zu suchen. Ich dagegen blickte durch das vergitterte Fenster sehnsüchtig nach draußen und fühlte mich von Gott und der Welt verlassen. (Die Muscheln fand ich dann am Abreisetag in meinen Sachen. Freuen konnte ich mich darüber nicht). Einmal wöchentlich wurden wir gewogen, und mir war schnell klar, dass man nur dann wohlwollend betrachtet wurde, wenn man zugenommen hatte. Leider nahm ich – nach anfänglicher Gewichtszunahme – in den folgenden Wochen alles wieder ab. Ich war also kein Erfolg für das Heim, das wusste ich im Innern schon, und irgendwie ließ man es mich spüren. Postkarten durfte ich als eine der wenigen oder als einzige aus der Gruppe selber schreiben – ab es waren Karten, auf die man ein Gruß schrieb, sonst nichts. Die Adressen wurden von den. „Tanten“ geschrieben und somit war auch die Kontrolle gegeben. Aber ich hätte sowieso nicht die unangenehmen Dinge geschrieben… Schon als Kind empfand ich das Betreuungspersonal im besten Falle als gleichgültig, manchmal sogar feindselig. Heute würde man sagen, völlig empathielos, ohne jegliches Bemühen, sich in die Kinder einzufühlen. Man wurde halt beaufsichtigt… Gefördert wurde überhaupt nicht, es wurde einzig darauf geachtet, dass gegessen, geschlafen, an Gewicht zugelegt wurde. Schade, denn die Nordseeinsel war schon ein besonderes Erlebnis für uns Stadtkinder. Leider fand ich in den ganzen 6 Wochen keine Freundin – die anderen Kinder schienen mit der Situation besser klargekommen zu sein – aber das weiß ich natürlich nicht genau. Das Heimweh war immer abends besonders schlimm, aber das wäre wahrscheinlich auch in besseren Heimen vorhanden gewesen… vielleicht weniger schlimm… Zum Abschluss muss ich sagen, dass ich, wieder zu Hause, alles mit den Eltern besprechen konnte. Ich war nicht wirklich traumatisiert, allerdings hatte ich mir damals schon mit 8 Jahren geschworen, dass ich meine eigenen Kinder niemals in ein Kinderheim zur Kur schicken

Anonymisierungs-ID: afz

Newsletter-Anmeldung

SPENDEN

Vielen Dank, dass Sie sich für eine Spende interessieren:

AKV NRW e.V.

IBAN DE98 3206 1384 1513 1600 00

Für eine Spendenquittung bitte eine E-Mail an:
Detlef.Lichtrauter@akv-nrw.de